Lockdowns, Quarantäne, geschlossene Läden, gesperrte Fussgänger:innenzonen und sogar Ausgangsverbote: Noch nie in der jüngeren Vergangenheit war der öffentliche Raum so lange versperrt wie im letzten Jahr. Nicht nur in der Schweiz kündigt sich da allmählich eine Lockerung an. Die Aussichten stehen gut, dass uns der öffentliche Raum bald wieder offen zur Verfügung steht. Da stellt sich natürlich die Frage: Was anfangen mit all dem Raum, an den wir vielleicht gar nicht mehr gewöhnt sind? Johannes von Dies Irae schlägt vor, es mal mit Adbusting zu versuchen, und erklärt im Interview mit das Lamm, was es dafür braucht.
Johannes, du bist aktiver Adbuster bei Dies Irae. Wie geht ihr vor, wenn ihr eine Aktion starten wollt?
Dies Irae heisst „Tage des Zorns“. Unser Motto lautet: Adbusting muss wehtun. Und darum fragen wir am Anfang jeder Aktion: Was macht uns gerade so richtig wütend? Erst wenn wir das gefunden haben, können wir aktiv werden.
Und was macht dich heute so richtig wütend?
Das ist einfach. Mich macht gerade wütend, dass die NSU-Akten in Hessen nicht freigegeben werden. In Hessen wurden Datenabfragen von Polizist:innen auf Polizeicomputern gemacht. Abgefragt wurden persönliche Daten zu Wohnort und Familie von Menschen, die sich gegen Rechtsextremismus einsetzen. Diese Daten wurden dann offenbar an Rechtsextreme weitergeben, die daraufhin die Menschen mit anonymen Briefen bedroht und eingeschüchtert haben. Die Täter:innen nennen sich NSU 2.0. Die Polizei behauptet bis heute, sie wisse nicht, wie die Daten von ihren Computern weitergegeben werden konnten.
Wie geht ihr von Dies Irae damit um?
Wir sind eine Adbusting-Gruppe, das heisst, unser Medium ist das Werbeplakat im öffentlichen Raum. Wir recherchieren zu Fällen, die uns interessieren, und versuchen dann, bekannte Werbung so zu verändern, dass sie unsere Kritik transportiert. Im Fall der Datenweitergabe bei der Polizei ist uns ein schönes Motiv mit Helene Fischer gelungen. Eine Parship-Persiflage mit einem Plakat, auf dem Helene Fischer abgebildet ist. Dazu steht: „Polizeiship – Alle siebzehn Minuten ruft ein Polizist Daten von Helene Fischer ab.“
Was hat Helene Fischer mit dem NSU 2.0 zu tun?
Erstmal gar nichts, aber es gibt eine interessante Parallele: In der Nacht, in der Helene Fischer in Frankfurt ein Konzert spielte, wurden ihre persönlichen Daten 83-mal von der Polizei auf Polizeicomputern abgerufen. Einfach weil den Cops langweilig war. Solche Datenabfragen macht man eigentlich nur, wenn man gegen eine Person ermittelt oder sie kontrolliert – was bei Helene Fischer garantiert nicht der Fall war. Daran wird deutlich, wie unverantwortlich mit Polizeidaten umgegangen wird. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Daten im Fall des NSU 2.0 direkt von Polizist:innen weitergegeben wurden, ist also hoch. Darauf wollten wir aufmerksam machen.
Vor ein paar Tagen wurde als Verantwortlicher für die Drohbriefe ein älterer Rechtsextremist aus Berlin festgenommen, der behauptet, keine Verbindungen zur Polizei zu haben. Ein sogenannter Einzeltäter. Ist der Fall damit nicht erledigt?
Are you kidding? Es bleibt die Frage offen, wie der Tatverdächtige an Daten aus Polizeicomputern in Frankfurt am Main kommen konnte. Eins dürfte wohl klar sein: Ohne das Zutun der Ordnungshüter:innen hätte es die Drohschreiben des NSU 2.0 wohl nicht gegeben. Entweder die Daten wurden nach den PC-Abfragen einfach fröhlich weitergereicht oder die Polizei geht extrem leichtfertig mit Daten um und gibt sie einfach raus, weil sich der mutmassliche Täter als Kollege ausgab.
Ihr befasst euch in eurer künstlerischen Arbeit mit politischen Themen und versucht, in Debatten einzugreifen, um auf Missstände aufmerksam zu machen. Neben den Themen ist aber auch euer Medium selbst ein Politikum. Jede Aktion protestiert gleichzeitig gegen Werbung im öffentlichen Raum. Warum macht ihr das?
Die Idee der Rückaneignung ist uns megawichtig. Auf der einen Seite geht es natürlich um die Inhalte – wir haben Bock, das, was uns nervt, zu verarbeiten und auf Papier zu bringen. Aber auf der anderen Seite ist es auch ein Metaprotest: Jedes Plakat, das nicht für den Burger oder den Bikini wirbt, sondern eine weitergehende Botschaft transportiert, bedeutet eine kleine Rückaneignung des öffentlichen Raums durch Menschen, denen dieser Raum eigentlich gehört.
Gab es für dich ein Initialerlebnis, das dich auf den Gedanken gebracht hat: Ich muss mich mit Werbung auseinandersetzen?
Der Gedanke ist bei mir eher allmählich gewachsen. Irgendwann hab ich mir die Frage gestellt: Ist es eigentlich okay, dass ich die ganze Zeit diese Plakate sehen muss, dass ich mich in einer Art Kampfarena der Konzerne befinde, die sich mit ihrer Werbung gegenseitig überbieten oder sich richtiggehend batteln: C&A gegen H&M, BMW gegen VW, alle sind besser, alle sind toller. Und alle haben fette Budgets, um uns noch mehr Werbung vor die Fresse zu knallen. Und wir Menschen werden zu passiven Zuschauer:innen degradiert, die zugucken, aber nicht intervenieren dürfen. Dafür ist unser öffentlicher Raum einfach nicht da.
Eine Rückaneignung in der Kampfarena der Konzerne: Das klingt martialisch. Ist euer Vorgehen ein Akt politischer Gewalt?
Auf keinen Fall, es ist eher eine Art Selbstverteidigung. Es hat mich ja auch niemand gefragt, ob ich diese Kackplakate sehen will. Darum finde ich es legitim, selbstermächtigt einzugreifen. Der deutsche Verfassungsschutz hat aber durchaus schon versucht, das Adbusting in die Ecke „politische Gewalttat“ zu stellen. Damals wurde in Berlin mit Plakaten auf den strukturellen Rassismus bei der Polizei aufmerksam gemacht. Das fanden die vom Verfassungsschutz offenbar so schlimm, dass sie gesagt haben: Adbusting ist ein Aktionsmittel der, wie sie es nennen, extremistischen Linken. Das haben sie dann unter die Überschrift „Gewaltorientierter Linksextremismus“ gefasst und verfolgt.
Was ist passiert?
Die Fraktion der Linkspartei im Bundestag hat eine Kleine Anfrage gestellt: Was soll das bitte mit Gewalt zu tun haben? Darauf musste der Verfassungsschutz zurückrudern, weil er auch nicht erklären konnte, was am Adbusting gewaltsam ist. Sie haben sich natürlich zum Gespött gemacht.
Welche Wirkung strebt ihr mit eurer Kunst an?
Das Beste ist, wenn die Leute irritiert vor einem Plakat stehen bleiben und sich denken: „Hä? Verstehe ich nicht. Wer plakatiert denn so was? Und warum eigentlich?“ Dann sieht man in den Gesichtern der Menschen, dass da was passiert. Das ist ein sehr schönes Gefühl und es ist besser als alle Likes auf Social Media. Das ist echt. Da war eine Person für einen kleinen Moment wirklich irritiert. Und dann kann man vielleicht davon ausgehen, dass die politische Botschaft angekommen ist.
Und trotzdem bleibt ihr auf die Werbung anderer angewiesen, um eure Botschaft verbreiten zu können. Seid ihr also heimliche Verbündete der Werbeindustrie?
Unser Traum ist ein öffentlicher Raum ohne Werbung. Damit würden wir zwar unsere Spielwiese verlieren – all die Plakatflächen, die wir kapern können –, aber das hiesse einfach nur: Ziel erreicht, und wir könnten uns endlich auf andere Art engagieren.
In der Aufmerksamkeitsökonomie der Werbung ist die Provokation ein wichtiges Mittel. Je krasser der Spruch, desto mehr Leute gucken hin. Ist das in eurer Kunst genauso?
Wir nutzen häufiger das Mittel Humor als die offensive Provokation. Aber es geht natürlich schon auch zur Sache. Ich bring mal ein Beispiel aus dem Bereich Ausbeutung in der Textilindustrie: Wir hatten eine Auseinandersetzung mit H&M wegen übler Nachrede und Verleumdung. Und da haben wir einfach nur gesagt: Ach super, jetzt seid ihr sogar so blöd und interessiert euch für unsere Plakate, also ärgern wir euch noch ein bisschen mehr. Wir haben dann ein Plakat gemacht, auf dem stand: „Ja ja ja jetzt wird wieder in die Hände gespuckt, wir steigern das Bruttosozialprodukt“, gesungen von einem syrischen Flüchtlingskind, das bei H&M in der Türkei schuftet. Mit dieser Kampagne bewegen wir uns natürlich an der Grenze zwischen Humor und der schmerzhaften Provokation.
Wurdet ihr auch schon mal verurteilt?
Es gab Verfahren, aber die wurden alle eingestellt, weil wir schon sehr darauf achten, dass wir nichts kaputtmachen. Wir nehmen ja keine Brechstange und wir zocken auch keine Plakate, klauen nichts. Deswegen gehts vor Gericht dann meistens um die Inhalte: Fühlt Björn Höcke sich beleidigt, wenn wir ihn als Rattenfänger von Hameln darstellen? Ja, tut er. Und darum macht er eine Anzeige. Aber bei so was kommt in der Regel die Staatsanwaltschaft und sagt: Sorry, Meinungsfreiheit.
Es gibt diesen Spruch aus der Werbebranche: Auch negative Werbung ist Werbung. Womit gemeint ist, dass auch ein Skandal helfen kann, die Marke, das Produkt, die Politiker:in bekannter zu machen. Lauft ihr also nicht Gefahr, doch wieder für das zu werben, was ihr persifliert?
Ich glaube, die Lösung dafür ist recht einfach: Du darfst nicht nur so eine Haha-Lustig-Kritik anbringen. Deine Kritik muss vernichtend sein. Dieses Prinzip „Scheissegal wie, Hauptsache wir bringen uns ins Gespräch“ funktioniert nämlich nicht, wenn die Kritik wirklich schmerzhaft ist. Darum lautet unser Motto: Adbusting muss wehtun!
Nach einem Jahr, in dem der öffentliche Raum quasi nicht existiert hat, nach Quarantäne und Lockdown, wird jetzt europaweit allmählich wieder geöffnet. Das heisst: Ihr kriegt eure Spielwiese zurück. Habt ihr euch schon über neue Themen Gedanken gemacht?
Ein wichtiges Thema für die kommenden Aktionen wird sicher die Klimapolitik sein, und noch ein bisschen spezieller: die Wachstumsfrage. Die Grenzen des Wachstums. Leider ist gerade Wachstum ein Thema, das wir noch nie so richtig cool auf ein Plakat bekommen haben. Wir haben einfach noch keinen Weg gefunden, damit plakativ und kreativ umzugehen. Aber wir sind dran.
Falls unsere Leser:innen jetzt auf den Geschmack gekommen sind: Kannst du eine Kurzanleitung „Adbusting leicht gemacht“ geben?
Klar. Bei uns läuft das so: Es fängt meistens damit an, dass wir die Zeitung aufschlagen oder Twitter lesen und uns eine Meldung rausgreifen. Dann wird das diskutiert, man wird zuerst gemeinsam zornig, dann aktiv – und dann beginnt der Kreativprozess. Dafür schauen wir als Nächstes: Gibt es eine bestehende Plakatkampagne, die wir nutzen können? Wenn nicht, entwerfen wir eigene Plakate. Zu den Plakaten suchen wir dann den richtigen Ort. Beim NSU zum Beispiel ist das sicherlich das Innenministerium oder die Polizeiwache in Frankfurt, auf der die Datenabfragen gemacht wurden. Fehlt zum richtigen Ort noch der richtige Zeitpunkt. Manchmal bieten sich gewisse Jahrestage an. Zum Beispiel das Fabrikunglück von Rana Plaza. Und dann gehts los mit dem, was eigentlich am meisten Spass macht: Plakate aufhängen, losziehen und es endlich rausbringen. Endlich das Ergebnis im öffentlichen Raum sehen.
Kann ich als angehende Adbuster:in bei Dies Irae auch direkt in die Lehre gehen?
Das ist durchaus möglich. Wir teilen unser Wissen sehr gerne. Am liebsten natürlich in Präsenzworkshops, das macht einfach mehr Spass als online. Auch weil man dann direkt am Medium Plakat arbeiten kann. Wer Interesse hat, kann uns über unsere Social Media Kanäle anschreiben:
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