Schweiz, wie hast du’s mit der AHV? Kaum eine andere Frage beschäftigt die Politik hierzulande öfter und intensiver. Seit ihrer Einführung 1948 hat die AHV zwölf Revisionen und Teilrevisionen durchlaufen. Die letzte 2022, als insbesondere der männliche Teil der Stimmbevölkerung für eine Rentenaltererhöhung der Frauen stimmte. Dazu kommen Dutzende an der Urne verworfene Revisionen und Initiativen.
Am 3. März folgen zwei weitere Versuche, das Sozialwerk für die Zukunft zu rüsten. Da wäre zum einen die Initiative für eine 13. AHV-Rente der Gewerkschaften. Der Name ist Programm. Die Initiative will eine zusätzliche Monatsrente für alle: monatlich 1’225 bis 2’450 Franken für Einzelpersonen, bis zu 3’675 Franken für Ehepaare. Die Initiative der Jungfreisinnigen verlangt hingegen eine schrittweise Erhöhung des Rentenalters auf 66, dann soll es an die Lebenserwartung gekoppelt werden.
Zwei Zukunftsvisionen für das wichtigste Sozialwerk der Schweiz, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Doch was steckt dahinter?
Die Finanzierung der AHV basiert auf dem sogenannten Umlageverfahren: Heute einbezahlte Lohnbeiträge von Arbeitnehmer*innen und ‑geber*innen finanzieren dabei direkt Renten. Diese Beiträge machen fast 3⁄4 der AHV-Einnahmen aus, der Rest wird über Bundessteuern, die Mehrwertsteuer und Spielbankenabgaben bezahlt.
Während die an Lohnentwicklung und Teuerung angepassten Renten aus der AHV in den vergangenen zwanzig Jahren gestiegen sind, sinken die Renten aus der beruflichen Vorsorge (2. Säule), weil diese nicht direkt an Rentner*innen ausbezahlt, sondern auf dem Kapital- und Immobilienmarkt angelegt werden. Jede*r spart dabei für sich und Versicherungen verdienen an der Verwaltung des Geldes.
Zinsveränderungen am Markt und die steigende Lebenserwartung wirken sich direkt auf die Rentenhöhen aus der 2. Säule aus, weshalb die Pensionskassenrenten in den vergangenen zwanzig Jahren stark gesunken sind. Und: Wer ein Leben lang gering verdienend war, hat gar keine Rente aus der 2. Säule. Diese ist zwar für Arbeitgebende obligatorisch, aber erst ab einem Eintrittslohn von 22’050 Franken im Jahr. Wer wenig verdient oder Teilzeit arbeitet – mehrheitlich Frauen –, ist nicht versichert.
Weil die AHV-Renten gedeckelt sind, zahlen die meisten Versicherten weniger in die AHV ein, als ihnen im Rentenalter ausbezahlt wird. Ausserdem wird unbezahlte Familienarbeit in Teilen als sogenannte Betreuungsgutschriften in die Berechnung der Rente angerechnet. Gemäss Bundesverfassung müssten Renten aus der 1. und 2. Säule zusammen die gewohnte Lebensführung aller nach der Pension gewährleisten. Dieses Versprechen wurde aber nie eingelöst (das Lamm berichtete).
Künstlicher Generationenkampf
Beginnen wir bei der Initiative für eine 13. AHV-Rente. Die Diskussion zur AHV war in den vergangenen Jahren geprägt von der Finanzierungsfrage: Die AHV, so die immerwährende Krisenerzählung, stehe kurz vor dem finanziellen Abgrund. Deswegen müssten wir länger arbeiten, mehr einzahlen, genügsam sein und weniger vom Staat verlangen. Dass sich die Prognosen, auf die sich diese Erzählung stützen, in auffallender Häufigkeit als falsch erweisen, registriert kaum jemand in der politischen und medialen Diskussion.
Die neuste Initiative der Gewerkschaften legt ihren Fokus nun aber nicht auf die Einnahme‑, sondern auf die Ausgabenseite: Mit der 13. AHV-Rente sollen Kaufkraftverlust gelindert und Altersarmut verhindert werden.
Ein Anliegen, das gemäss Umfragen eine grosse Beliebtheit innerhalb der Bevölkerung geniesst – trotz vermeintlicher finanzieller Schieflage der AHV. Und weil das Argument der schiefen AHV-Finanzen langsam an Glanz verliert, gesellen sich gerade neue Töne zum Grundrauschen der Krisenerzählung dazu. Von SVP-Mäzen Christoph Blocher bis zum ehemaligen Zürcher Stadtpräsidenten Elmar Ledergerber (SP) sind sie sich einig: Unsere Alten haben längst genug!
Bei der NZZ schrieb ein besonders eifriger Journalist allein seit Anfang Jahr bereits mehr als zehn Texte zum Übel der von den Gewerkschaften lancierten Initiative für eine 13. AHV-Rente. Der Tenor: Pensionierte brauchen keine höheren Renten, ihre Generation ist vermögender als andere. Passend dazu fläzten auf der Titelseite der NZZ am Sonntag unlängst gut betuchte Senior*innen auf einer Jacht.
Unbestritten ist: Es gibt in der Schweiz viele Rentner*innen, die keine finanziellen Sorgen plagen. Sie konnten während ihres Erwerbslebens ein Vermögen ansparen, sich ein Haus kaufen, dessen Wert laufend steigt oder sie haben vor der Pensionierung geerbt. Doch erstens gilt im Alter das gleiche wie im Arbeitsleben: Vermögen sind sehr ungleich verteilt. Und zweitens: Warum soll das Vermögen, das bei der 1. bis 12. AHV-Rente keine Rolle spielt, bei der 13. zur zentralen Variable werden?
Für die, die eine gut gefüllte Pensionskasse, Immobilien und Jachten besitzen, spielt die Rente aus der AHV heute schon keine Rolle. Trotzdem erhalten sie diese vollumfänglich. Die einzig relevante Frage ist also, ob eine Rentenerhöhung jenen hilft, die primär von der ersten Säule abhängig sind.
Schaut man hier genau hin, sieht es deutlich weniger rosig aus: Gemäss Erhebungen des Bundesamts für Statistik lag die Armutsquote 2021 bei allen Personen über 65 bei 15.4 Prozent. Besonders akzentuiert ist das Problem bei Personen mit einem obligatorischen Schulabschluss (23.8 Prozent) und bei Ausländer*innen (26.4 Prozent). Rund jede zehnte Person im Rentenalter hat nicht genügend Geld, um eine unvorhergesehene Ausgabe zu stemmen.
Doch diese paar verdrückten Altersarmen, ruft es von der Jacht herunter, bräuchten keine 13. AHV-Rente – man kann ja Ergänzungsleistungen (EL) beantragen. Das ist unter anderem die Meinung von FDP-Nationalrat Andri Silberschmid. Ergänzungsleistungen beantragen sei auch gar nicht so schlimm, schrieb er auf X: „Sie können jederzeit in die SVA Zürich ohne Anmeldung erscheinen und es wird einem geholfen.“
Heuchlerische Argumente
Tatsächlich sind die EL ein wichtiger Pfeiler der sozialen Absicherung im Alter. Sie greifen dann, wenn AHV- und Pensionskassen-Rente zusammen nicht zum Leben reichen. Besonders bedeutend ist das für Frauen, die aufgrund Lohnungleichheit und ungleich verteilter Betreuungsarbeit vor allem in der zweiten Säule – der Pensionskasse – schlechter gestellt sind. Etwa eine von sieben Rentnerinnen bezieht EL. Zum Vergleich: Bei pensionierten Männern ist es etwa einer von zehn. Und: Bei den geschiedenen oder getrennten Frauen liegt die EL-Quote bei fast einem Drittel.
Aber: Die EL als Alternative zur 13. AHV-Rente zu verkaufen, ist heuchlerisch. Nicht zuletzt weil diese auf Anfang 2024 gekürzt wurden – mit gütiger Unterstützung linker Enthaltungen. Vor allem zwei Punkte sind zu beachten.
Einerseits führen Stigmatisierung, Armenfeindlichkeit und ein Mangel an Niederschwelligkeit dazu, dass viele Personen mit Anspruch auf EL diese nicht beziehen. Wie eine Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) aus dem Jahr 2023 zeigt, bezogen rund 16 Prozent der Personen, die Anspruch auf EL hätten, diese nicht. Dazu kommt, dass der EL-Bezug für Menschen mit Migrationshintergrund ausländerrechtliche Konsequenzen haben kann, zum Beispiel beim Familiennachzug.
Andererseits rütteln die EL ironischerweise an zwei Grundpfeilern bürgerlicher Freiheiten. In gewissen Kantonen, etwa im Kanton Thurgau, willigt man bei einem EL-Bezug ein, dass die Sozialbehörden unangemeldet Hausbesuche durchführen dürfen. Und: Wer Ergänzungsleistungen beziehen will und ein kleines Vermögen hat, muss dieses zuerst fast aufbrauchen – aus dem an Nachkommen vererbten Rest müssen EL-Leistungen zurückgezahlt werden.
Man lernt: Eigentums- und Freiheitsrechte sind nur ab einer gewissen Schwelle heilig. Schnüffelstaat? Schon ok, wenn er bei Armen schnüffelt. Verhinderung generationenübergreifender Vermögensweitergabe? Kein Problem, solange die Grossvermögen generationenübergreifend gesichert sind. Ganz offensichtlich sind ideologische Verbrämung und die Angst vor einer stärkeren AHV auf der bürgerlichen Seite so gross, dass man lieber Altersarmut wegschreibt, als etwas dagegen zu tun.
Arbeiten bis zum Umfallen
Die bürgerliche Seite sieht das Problem der Altersvorsorge ohnehin nicht auf der Aufgabe‑, sondern auf der Einnahmeseite. Und hier kommen wir auf die Renten-Initiative der Jungfreisinnigen zu sprechen.
Für Befürworter*innen ist klar: Die Lebenserwartung steigt und das Rentenalter soll es ihr gleichtun. Ihr Hauptargument für eine sukzessive Rentenaltererhöhung: Die Tatsache, dass die geburtenstarke Generation „Babyboom“ in den kommenden Jahren in Rente geht, führe zu einem Ungleichgewicht im Umlageverfahren, weil immer weniger arbeitende immer mehr pensionierte Personen finanzieren müssen.
Über die ungleiche Verteilung der Lebenserwartung über verschiedene Branchen und Einkommensschichten verlieren sie kein Wort. Auch nicht darüber, dass für ein würdevolles Altwerden nicht nur die Lebenserwartung, sondern auch die vom Gesundheitszustand abhängige Lebensqualität entscheidend ist.
Dafür wollen sie das Rentenalter von der Politik entkoppeln. Auch wenn die Arbeitsproduktivität – die Arbeit, die in einer gewissen Zeit geleistet wird – stetig steigt, sollen die Menschen immer länger arbeiten. Dabei ist die Verkürzung der Arbeitszeit, neben einer Erhöhung des Lohns, einer der Wege, wie Arbeiter*innen von dieser Produktivitätssteigerung profitieren können. Soll es aber nach den Jungfreisinnigen gehen, sollen die Früchte der Produktivitätssteigerung künftig noch ungehinderter in die Taschen der Besitzenden fliessen.
Die Devise lautet also: Wir sollen arbeiten bis zum Umfallen. Und genau hier lässt sich illustrieren, dass es sich beim beschworenen Kampf zwischen Jung und Alt um eine Nebelpetarde handelt.
Das echte Problem der AHV
Die Diskussion darüber, ob auch Millionär*innen eine 13. AHV-Rente brauchen, ist müssig. Die Giesskanne ist das Wesen der AHV: Alle zahlen ein, alle bekommen eine Rente. Dass sie auch eine gut geölte Umverteilungsmaschine ist – 92 Prozent beziehen mehr aus der AHV, als sie einzahlen – ist der wahre Dorn im Auge der Gegner*innen. Wenn sie sich an reichen Rentner*innen stören würden, würden sie sich für strukturelle Massnahmen wie Vermögens- und Erbschaftssteuern einsetzen.
Denn egal, wie man es dreht und wendet: Hinter jeder AHV-Gretchenfrage geht es im Kern nicht um einen Generationen‑, sondern einen Klassenkonflikt. Die Renteninitiative will eine Zukunft, in der jene, die auf jeden Franken der AHV-Rente angewiesen sind, solange arbeiten, bis auch ihr letztes Fünkchen Arbeitskraft verwertet wurde. Dass wer es sich leisten kann gut und gerne früher in Pension geht, wird wohl wissend in Kauf genommen.
Demgegenüber ist die Initiative für eine 13. AHV-Rente fast heilbringend. Ihr Ziel: Die AHV der in der Verfassung festgeschriebenen Vision einer ausgleichenden und sozialen Institution näherbringen.
Dass die Initiative keine fix fertigen Finanzierungslösungen vorsieht, kann dabei durchaus als Chance verstanden werden und hat wohl damit zu tun, dass solche bereits bei der Abstimmung über die Initiative „Millionenerbschaften besteuern für die AHV“ 2015 von Volk und Ständen abgelehnt wurde. Aktuell bringen die Initiant*innen als Option die Erhöhung der Lohnprozente ins Spiel – je 0.4 zusätzlich für Arbeitnehmende und Arbeitgebende. Nur: Damit würde wiederum die Kaufkraft jener gesenkt, die sowieso schon mit steigenden Miet- und Gesundheitskosten und der Teuerung zu kämpfen haben.
Eine Mehrwertsteuererhöhung wäre noch unsozialer: Wer wenig verdient, gibt mehr für den Konsum aus, der durch die Mehrwertsteuer verteuert wird. Vielmehr sollte man, gescheiterter Revisionsversuche zum Trotz, grössere Würfe wagen. Sozialer, weil umverteilender, wäre eine von SP-Nationalrätin Jacqueline Badran geforderte Verschiebung von Lohnprozenten von der zweiten in die erste Säule.
Längerfristig müssen wir uns ohnehin mit einem anderen (echten) Problem der AHV auseinandersetzen: nämlich, wie wir das Sozialwerk von der Produktivität entkoppeln. Bisher hat sich die Linke darauf verlassen, dass das Wirtschaftswachstum die demografischen Verschiebungen ausgleicht. Weil das aber aus ökologischer und sozialer Sicht keine nachhaltige Lösung ist, muss sich die Linke fragen, wie sie sich längerfristig von Lohnprozenten als primäre Finanzierungsquelle lösen kann – ohne dabei die Umverteilungsmaschine AHV zu stoppen.
Eine wilde Idee: Bundesgelder für Arme statt die Armee. Warum? Ganz einfach: Pensionierte können weder ihr bescheidenes Eigenheim noch einen Kampfjet statt eines ordentlichen Mittagessens verspeisen. Aber auch die altenfeindlichen Schmährufe zum Abstimmungskampf regen die Fantasie an: Generationenübergreifende Grossvermögen könnten höher besteuert werden – ein Vorschlag hierzu macht die Initiative für eine Zukunft der Juso.
Was ungeachtet der leidigen Finanzierungsfrage feststeht: Nehmen die Stimmberechtigten am 3. März die Initiative für eine 13. AHV-Rente trotz millionenschwerem Budget der Gegenkampagne an, würde das Sozialwerk eine der grössten Erweiterungen seit seiner Einführung 1948 erleben.
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