„Die Linke wurde über den Tisch gezogen“

Vor 50 Jahren stand die AHV vor einer Schick­sals­frage: staat­liche Volks­pen­sion oder Drei-Säulen-System? Im Inter­view erklärt der Histo­riker Martin Leng­wiler, warum SP und Gewerk­schaften einen Kompro­miss mit den Bürger­li­chen eingingen. 
Ein Pin der Partei der Arbeit (PdA) für die Initiative für eine Volkspension, 1. Mai 1972. (Foto: Schweizerisches Sozialarchiv / F 5156-Ob-010)

Das Lamm: Martin Leng­wiler, diesen Sonntag stimmt die Schweizer Stimm­be­völ­ke­rung wieder einmal über eine AHV-Reform ab. Sie haben zur Entste­hung des Drei-Säulen-Modells, wie wir es heute kennen, geforscht. Dabei spielt die AHV-Abstim­mung vor genau 50 Jahren eine zentrale Rolle.

Martin Leng­wiler: Genau, 1972 hat die Schweiz die System­frage gestellt und sich für das heutige Drei-Säulen-Modell entschieden. Das war die Weichen­stel­lung in Rich­tung Alters­vor­sorge, wie wir sie heute kennen.

Foto: zVg.

Dr. Martin Leng­wiler ist Professor für Neuere Allge­meine Geschichte an der Univer­sität Basel. Sein Forschungs­schwer­punkt liegt unter anderem auf der Geschichte des Schweizer Sozialstaats. 

Machen wir zuerst einen Schritt zurück: Wie war die Alters­vor­sorge vor 1972 organisiert?

Das AHV-Gesetz trat 1948 nach eine soge­nannten Jahr­hun­dert­ab­stim­mung im Jahr zuvor in Kraft. Bei einer Stimm­be­tei­li­gung von 80 Prozent stimmten 80 Prozent mit Ja. Am Tag der Abstim­mung herrschte Euphorie im ganzen Land, tags darauf folgte aber bereits die grosse Ernüch­te­rung. Die AHV konnte keine existenz­si­chernden Renten auszahlen, vor allem für jene Jahr­gänge, die 1948 bereits im Pensi­ons­alter standen. 

In den 1950er- und 1960er-Jahren folgten deswegen all paar Jahre erfolg­reiche AHV-Reformen – ein Reform­zy­klus, den man sich heute kaum noch vorstellen kann. Dabei ging es immer darum, näher an existenz­si­chernde AHV-Renten zu kommen.

Aber die Geschichte der AHV kann man nicht verstehen ohne die Geschichte der Pensi­ons­kassen. Diese brei­teten sich seit dem Ersten Welt­krieg aus. Sie wurden vor allem von Arbeitgeber*innen als Privat­ver­si­che­rungen begründet und zusammen mit Arbeitnehmer*innenvertretungen verwaltet.

Über die Hälfte der Arbeiter*innen war aber 1970 nicht in einer Pensi­ons­kasse versichert.

Ja, die Kassen waren auch über­haupt nicht nieder­schwellig orga­ni­siert. Zum Beispiel durften die Arbeitgeber*innen oft das ange­sparte Kapital behalten, wenn die Arbeiter*innen den Job wech­selten. Die Pensi­ons­kassen waren so auch ein Zücker­chen, mit dem die Arbeitgeber*innen die Arbeiter*innen an sich binden konnten. 

Dabei waren die Renten­lei­stungen, die die Pensi­ons­kassen auszahlten, sehr unter­schied­lich: Beamt*innen hatten bereits damals sehr gute Pensi­ons­kassen und erhielten höhere Renten als aus der AHV. In der Indu­strie hingegen kam es auf die Branche an, wie hoch die Pensi­ons­kas­sen­lei­stungen ausfielen.

Es gab aber auch Auflagen. Wenn eine Pensi­ons­kasse staat­lich subven­tio­niert oder unter­stützt wurde, mussten diese Kassen pari­tä­tisch orga­ni­siert sein. Das bedeutet, dass die Gewerk­schaften und Arbeitgeber*innen die Pensi­ons­kassen gemeinsam verwal­teten. Und das sollte sich 1972 als poli­tisch entschei­dend erweisen.

Okay, Zwischen­bi­lanz: Vor 1972 gab es eine AHV, die keine existenz­si­chernde Renten auszahlen konnte, und frei­wil­lige Pensi­ons­kassen, die viele Arbeiter*innen ausschloss und sehr unter­schied­liche Renten auszahlten. Wie kam es also zur Abstim­mung von 1972?

Mit den verschie­denen Reformen in den 1950er und 1960er Reformen erreichte die AHV Ende 1960er-Jahre das existenz­si­chernde Niveau. Gleich­zeitig begann die Linke, über die Landes­grenzen hinaus­zu­schauen und reali­sierte, dass Deutsch­land oder Frank­reich das Wirt­schafts­wachstum der Nach­kriegs­jahre dafür verwendet hatten, ihre staat­liche Alters­vor­sorge nicht nur zur Siche­rung der Existenz im Alter auszu­bauen, sondern auch zur Fort­set­zung der gewohnten Lebens­füh­rung. Das entspricht etwa 60 Prozent des Lohns vor der Pension. 

Um das für die Schweiz zu errei­chen, lancierte sowohl die Sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Partei als auch die kommu­ni­sti­sche Partei der Arbeit (PdA) Ende der 1960er-Jahre fast zeit­gleich je eine Volks­in­itia­tive, die die AHV ausbauen wollte.

Wie unter­schieden sich die Initiativen?

Für beide Parteien war klar, dass sie in ihre Initia­tive auch die vielen betrieb­li­chen Pensi­ons­kassen einbe­ziehen mussten. Die PdA wollte sie verstaat­li­chen und die AHV so stark ausbauen, dass sie allein minde­stens 60 Prozent des Lohns vor der Pension abdecken würde. Es wäre faktisch das Ende der betrieb­li­chen Pensi­ons­kassen gewesen. 

Die SP-Initia­tive wollte zwar auch die AHV ausbauen und das 60-Prozent-Ziel errei­chen, aller­dings unter Einbezug der Pensi­ons­kassen, ohne deren Existenz in Frage zu stellen. Das hat viel mit den Gewerk­schaften zu tun: Deren Vertreter*innen hätten mit einer Verstaat­li­chung der Pensi­ons­kassen ihre Posten verloren und hatten somit kein Inter­esse, die AHV auf Kosten der Pensi­ons­kassen zu stärken. Aber über die Initia­tive der SP wurde gar nie abge­stimmt, weil sich die Sozialdemokrat*innen in der Natio­nal­rats­de­batte auf einen Kompro­miss mit den Bürger­li­chen einliessen.

Wie kam es dazu?

Die Bürger­li­chen hatten die berech­tigte Sorge, dass die SP-Initia­tive bei einer Abstim­mung gegen die PdA-Initia­tive ange­nommen würde. Deshalb einigten sie sich mit der SP auf einen Gegen­vor­schlag zur PdA-Initia­tive. Dieser umfasste das heutige Drei-Säulen-Modell. Im Gegenzug zog die SP ihre Initia­tive zurück. 

Es war ein klas­si­scher Kompro­miss: Die Bürger­li­chen schluckten das Obli­ga­to­rium in der zweiten Säule – Pensi­ons­kas­sen­bei­träge sind seither für Arbeit­neh­mende und ‑gebende obli­ga­to­risch – und das 60-Prozent-Ziel in der Verfas­sung. Die SP nahm dafür in Kauf, dass der Ausbau der Alters­vor­sorge in Zukunft eher in der zweiten Säule als in der AHV statt­finden würde.

Der Gegen­vor­schlag wirkte, die PdA-Initia­tive wurde hoch­kant abge­lehnt. Aus heutiger Sicht eine verpasste Chance der Linken, die nun um jedes Lohn­pro­zent in der AHV kämpfen muss.

Das kann man natür­lich so sehen, wobei eine Verstaat­li­chung der Pensi­ons­kassen für die Linken ein Kraftakt gewesen wäre und eigene Probleme mit sich gebracht hätte. 

Aber der viel grös­sere Skandal ist, was in der Folge zwischen 1972 und 1984 passiert ist. Denn: Das 60-Prozent-Ziel, also die Fort­set­zung der gewohnten Lebens­füh­rung, für das die SP ihre Initia­tive zurück­ge­zogen hat, wurde nie umge­setzt. Es steht zwar heute noch in der Bundes­ver­fas­sung, wurde aber 1984 faktisch gekippt.

Was ist 1984 passiert?

Kurz nach der Abstim­mung über die PdA-Initia­tive endet die Phase der Hoch­kon­junktur der Nach­kriegs­jahre. Es folgen zwei Rezes­sionen in den 1970er-Jahren. Als es dann darum ging, den Gegen­vor­schlag von 1972 in ein Gesetz umzu­for­mu­lieren, kippten die Bürger­li­chen das 60-Prozent-Ziel aus dem Gesetz. Es steht zwar bis heute in der Verfas­sung, dass die AHV und die Pensi­ons­kassen die Fort­set­zung der „gewohnten Lebens­hal­tung“ garan­tieren sollen, aber im Gesetz über die beruf­liche Vorsorge (BVG-Gesetz) ist davon nichts mehr zu finden. 

Dafür hat man mit einem zu hohen Eintritts­lohn dafür gesorgt, dass ein grosser Teil der Bevöl­ke­rung, der wenig verdient oder Teil­zeit arbei­tete – also vor allem Frauen –, nicht in der Pensi­ons­kasse versi­chert wurde. Alle die Löcher, die wir heute noch immer stopfen, hat man 1984 in Kauf genommen, weil man das 60-Prozent-Ziel gekippt hat.

Heute sagen viele Versicherungsexpert*innen: Die Linke wurde 1972 über den Tisch gezogen. Die AHV und die Pensi­ons­kassen errei­chen heute in vielen Fällen noch nicht das Renten­ni­veau, das 1972 verspro­chen wurde.

War die Geschlech­ter­frage 1972 und 1984 bereits ein Thema?

Nein, kaum. In den Reformen der 1950er- und 1960er-Jahre konnte man die Situa­tion der Frauen verbes­sern, etwa mit der Senkung des Renten­al­ters 1957. Die Idee dahinter war damals weniger patri­ar­chal als dass das heute darge­stellt wird. Man wusste, dass die Witwen­renten kata­stro­phal und die Renten auf kleine Einkommen, die meistens von Frauen erzielt wurden, zu tief waren. Deswegen kam man den Frauen mit einer Senkung des Frau­en­ren­ten­al­ters entgegen. 

1972 war die Geschlech­ter­frage kein Thema. Bei der Ausar­bei­tung des BVG-Gesetzes 1984 wusste man zwar, dass mit dem hohen Eintritts­lohn viele Frauen nicht versi­chert würden, aber das war auch dann kein grosses poli­ti­sches Thema. Und dies, obwohl der Gleich­stel­lungs­ar­tikel bereits seit 1981 in Kraft war.

Heute, 50 Jahre nach der Weichen­stel­lung, stimmen wir über eine weitere AHV-Reform ab. Die Linken kriti­sieren die Renten­lücke für Frauen in der zweiten Säule, die Befürworter*innen argu­men­tieren für eine Tren­nung der ersten und zweiten Säule. Ist eine solche Tren­nung über­haupt sinn­voll, wenn man sich die Geschichte anschaut?

Wenn man ehrlich ist, muss man die beiden Säulen gemeinsam behan­deln. Die drei Säulen stehen ja auch für ein gemein­sames Haus, die Alters­vor­sorge. Und das Drei-Säulen-Modell hat auch seine Vorteile: Die AHV hat zwar ein demo­gra­phi­sches Problem, aber keines mit Anlagen am Kapi­tal­markt. Die zweite Säule hingegen hat ein Anlage‑, aber kein Demo­gra­phie­pro­blem. Mit Blick auf die inter­na­tio­nale Ebene kann durchaus sagen, dass dieser Mix von Risiken gar nicht so abwegig ist. 

Poli­tisch aber ist die Verknüp­fung der beiden Säulen toxisch, auch wenn sie tech­nisch und inhalt­lich gesehen sinn­voll ist. Die Alters­vor­sorge in der Schweiz hat heute ein Komple­xi­täts­pro­blem, weil man sich 1972 für den kompli­zier­teren Weg des Drei-Säulen-Modells entschieden hat, anstatt auf ein Versi­che­rungs­sy­stem zu setzen. 

Jetzt hat man zwei Säulen, mit denen man nicht zufrieden ist und die refor­miert werden müssen. Das führt bei jeder Reform zu einer Verviel­fa­chung der Nein-Stimmen. Das macht es poli­tisch nicht einfach.


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