Ab wann sind ungenaue Erinnerungen Lügen?
Mein jüngster Sohn ist noch ein Kleinkind, als ich ihn im Herbst 2018 mit der Hand in der Waschpulverpackung erwische. Aus seinem kleinen Mund quillt das weisse Pulver. Ich nehme ihn auf den Arm und google: „Mein Kleinkind hat gerade Waschpulver gegessen – was soll ich tun?“ Dann rufe ich bei der Gift-Hotline an und wir gehen in die nächste Notaufnahme.
Ich informiere die Krankenhausangestellten, dass ich unsicher bin, wie viel Waschpulver mein Kind geschluckt hat. Und wann genau habe ich ihn eigentlich entdeckt? Immerhin kann ich den Angestellten sagen, welche Marke es war: Weißer Riese. Das Arztpersonal gibt meinem Sohn eine Spritze.
Das Ganze ist nun lange her, und wenn ich schon damals nicht alle Details parat hatte, bin ich mir heute erst recht unsicher. War es wirklich Herbst oder doch eher Spätsommer? Habe ich die Gift-Hotline oder vielleicht einfach 112 angerufen? Ich weiss nicht mal mehr, ob am anderen Ende der Leitung eine Frau oder ein Mann war. Und war es vielleicht doch Waschmittel von Ariel? Ich weiss es einfach nicht mehr.
Das menschliche Gedächtnis und die lügenden Huren
Aber weshalb sind manche Details nach so langer Zeit ein bisschen verschwommen? Liegt es daran, dass ich – wie es Amber Heard bis heute vorgeworfen wird – eine lügende Hure bin? Oder ist das möglicherweise einfach die Art, wie das menschliche Gehirn funktioniert?
Im Frühjahr 2022 kam es zu einem sechswöchigen Prozess zwischen den beiden Hollywood Schauspieler*innen und Ex-Eheleuten Amber Heard und Johnny Depp. Beide warfen sich unter anderem sexualisierte Gewalt vor.
Der Prozess ging auf eine Klage von Depp aus dem März 2019 gegen seine Ex-Ehefrau zurück. Grund dafür war ein Gastbeitrag von Heard in der Washington Post, den sie 2018 veröffentlicht hatte. Darin behauptete sie, Opfer von häuslicher Gewalt gewesen zu sein. Ihr Ex-Mann wurde in dem Beitrag nicht namentlich erwähnt.
Laut Depp habe der Artikel dennoch seine Karriere ruiniert, seinen Ruf geschädigt und ihn dadurch viel Geld gekostet. Der Schauspieler verlangte wegen Verleumdung rund 50 Millionen Dollar Schadenersatz.
Heard wiederum sah durch Depps Anschuldigungen ihre Reputation beschädigt und reichte Gegenklage unter anderem wegen Verleumdung gegen ihren Ex-Mann ein. Darin forderte sie rund 100 Millionen Dollar Schadenersatz.
Beide Klagen wurden vor dem Geschworenengericht in Fairfax im amerikanischen Gliedstaat Virginia ab dem 12. April 2022 verhandelt.
Zum Schluss des Prozesses stellte sich die Jury mehrheitlich auf die Seite von Johnny Depp, der so den Prozess gewann. Wegen Verleumdung musste Amber Heard ihrem Ex-Mann nun über zehn Millionen Dollar Schadenersatz zahlen, entschied das Gericht. Depp wiederum schuldete seiner Ex-Frau nach Entscheidung der Jury zwei Millionen Dollar.
Der Prozess wurde während der ganzen Wochen bis ins kleinste Detail von den Medien live mitverfolgt. Er gilt in seiner Dimension als einmalig für seine Zeit.
Manche Details bleiben, manche schwimmen weg. So funktioniert das Gedächtnis. Gerade wenn ein Erlebnis traurig, beängstigend oder gar traumatisierend war: Das Gehirn vergisst, um uns zu beschützen.
Mit Lügen hat das aber nichts zu tun.
„Die hat doch einfach gelogen!“, sagte meine langjährige Freundin Katja mit sicherer Stimme, als wir vor einem Jahr über den hochaktuellen Fall Amber Heard und Johnny Depp sprachen. Katja und ich lernten uns bei der Geburt unserer Kinder kennen. Wir sind feministische, sozialistische Spielplatzfreundinnen. Ich mag sie sehr. Ich würde sogar behaupten, dass diese Aussage von ihr das Erste aus ihrem Mund war, das ich für wirklich dumm und falsch hielt.
„Die hat immer wieder gelogen. Sie log und log und log. Die ganze Zeit hat sie nur gelogen!“, sprudelte es weiter aus Katja heraus. „Sie hat echten Opfern von häuslicher und sexualisierter Gewalt mit ihren Lügen so sehr geschadet. Es ist grauenvoll, was sie den echten Opfern damit angetan hat.“
„Worüber hat sie denn gelogen?“, fragte ich und versuchte, ruhig zu bleiben. Am liebsten hätte ich gekotzt. Dieses Bedürfnis überkommt mich immer wieder, seit der Schauspieler John Christopher Depp seine Ex-Frau Amber Heard gezwungen hat, eine live Zeugenaussage über ihre Vergewaltigung und sexuelle Nötigung durch ihn selbst vor Kameras abzulegen.
„Alles, was aus ihrem Mund kam, war eine glatte Lüge!“, wiederholte meine Freundin.
Der Fall Johnny Depp und Amber Heard
Um den Fall von Heard und Depp verstehen zu können, müssen wir in die Vergangenheit blicken.
Im Jahr 2009, als Amber Heard erst 22 Jahre alt war, lernte sie den Schauspieler John Christopher Depp kennen, der von der ganzen Welt nur „Johnny Depp“ genannt wird, als wäre er ein Kleinkind oder einer unserer Freunde. Sie lernten sich am Set des Films „The Rum Diary“ kennen. Als einer der Produzenten des Films war er genau genommen ihr Chef. Und dreiundzwanzig Jahre älter als sie.
Zwei, drei Jahre später fingen die beiden an, sich zu daten. Noch mal drei Jahre später heirateten sie. Doch ihre Beziehung war offensichtlich sehr toxisch und von Gewalt und Dramen geprägt – und hielt nicht lange. Ein gutes Jahr später, am 23. Mai 2016, reichte Heard die Scheidung ein.
Vier Tage später erwirkte sie eine einstweilige Verfügung, weil Depp sie körperlich misshandelt habe.
Jacinta Nandi ist die selbst ernannte schlechteste Hausfrau der Welt, Expatsplainerin/Berlin-Expertin und Deutschlands berühmteste Amber-Heard-Verteidigerin. Sie will, dass alle Frauen in Deutschland, der Schweiz, Österreich und der Welt ihre nutzlosen Männer verlassen. Wie man das macht, beschreibt sie in ihrem neusten Buch „50 Ways to leave your Ehemann“, dem Nachfolgewerk von „Die schlechteste Hausfrau der Welt: Ein Erfahrungsbericht und Manifest“. Beide erschienen als Flugschrift im Verlag Nautilus. Jacinta Nandi sagt ausserdem: Boycott Lidl – und jetzt leider auch Vodafone!
Trotzdem liess sich Heard auf die Vereinbarung ein, dass beide Seiten nicht schlecht über einander sprechen sollten. Depp brach diese Vereinbarung jedoch im Oktober 2018, indem er in einem sehr verbitterten und wütenden Interview seine Verachtung gegenüber Amber Heard offen zum Ausdruck brachte.
Eine sehr interessante Aussage Depps daraus lautet: „Warum hat diese Person [Amber Heard] nicht mit der Polizei gesprochen? […] Ich meine, sie hat mit der Polizei gesprochen, aber die Polizei hat nichts gesehen. […] Ich weiss nicht, ob es am nächsten Tag oder ein paar Tage später war, aber dann war da ein blauer Fleck. Da war ein roter Fleck und dann war da ein brauner Bluterguss.“
Depp unterstellt seiner Ex-Frau in diesem Interview, seine Übergriffe an ihr erfunden zu haben. Wie der Journalist, der das Interview verfasst hat, daraufhin treffend schrieb: „Die Behauptung, dass eine Frau, ein Mann oder irgendjemand eine so schwerwiegende Anschuldigung erfunden haben könnte, ist eine äusserst gefährliche und schädliche Sache.“
Der Zorn unserer Kultur
Im Dezember 2018, Monate nachdem Depp die Vereinbarung gebrochen hatte, seine Ex-Frau nicht zu verunglimpfen, veröffentlichte Amber Heard einen Meinungsartikel in der Washington Post. Sie erwähnte weder John Depp namentlich noch bezeichnete sie sich in dem besagten Artikel als Opfer sexualisierter Gewalt.
John Depp verklagte daraufhin seine Ex-Frau wegen Verleumdung. Im Juni 2022 gaben die Geschworenen in Fairfax, Virginia, Depp Recht und befanden drei Sätze des Meinungsartikels von Heard als diffamierend. Diese Sätze seien unwahr und ausserdem in böswilliger Absicht geschrieben worden.
Nach einem sechswöchigen Prozess verurteilte das Gericht in Virginia Heard zur Zahlung von 10 Millionen Dollar Schadensersatz.
Aber für welche drei Sätze wurde Amber Heard eigentlich belangt?
„Ich habe mich gegen sexuelle Gewalt ausgesprochen – und den Zorn unserer Kultur auf mich gezogen. Das muss sich ändern.“
Das war die Schlagzeile, die Heard nicht einmal selbst verfasst hatte.
Wie kann Heard für einen Satz haftbar gemacht werden, den sie nicht selbst geschrieben hat? Die Geschworenen in Fairfax argumentierten wie folgt: Da Heard diesen Artikel später getweeted hatte, habe sie sich die Worte aus der Überschrift zueigen gemacht und sei für die Aussage verantwortlich.
Der zweite Satz, für den Heard verurteilt wurde, lautete wie folgt:
„Dann wurde ich vor zwei Jahren zu einer öffentlichen Figur, die für häusliche Gewalt steht, und ich bekam die ganze Wucht des Zorns unserer Kultur auf Frauen zu spüren, die ihre Meinung sagen.“
Diese Aussage ist absolut vernünftig, völlig fair und sollte eigentlich für jeden, der Missbrauch für ein Problem in unserer Gesellschaft hält, völlig unproblematisch sein. Er ist auch objektiv wahr, was zu diesem Zeitpunkt öffentlich bekannt war.
Das einzig merkwürdige an diesem Satz ist vielleicht, dass Amber Heard, obwohl sie schon damals eine überzeugte Feministin war, total unterschätzt hat, wie stark der Zorn unserer Kultur wirklich sein kann.
Und der dritte Satz erwies sich ironischerweise durch die Entscheidung der Jury als wahrer denn je:
„Ich hatte die seltene Gelegenheit, in Echtzeit mitzuerleben, wie Institutionen Männer schützen, die des Missbrauchs beschuldigt werden.“
Na ja, jetzt ist diese Gelegenheit nicht mehr so selten, liebe Amber. Wir haben bei dem monströsen Gerichtsprozess alle zugeguckt und sahen ganz genau, wie staatliche Institutionen einen Mann schützen, der des Missbrauchs beschuldigt wird. Und das Gericht in Virginia hat uns gezeigt, dass sich manche Institutionen dabei so richtig ins Zeug legen.
Was auf diesen Meinungsartikel folgte, der Depp mit keinem Wort persönlich erwähnte, glich einem Albtraum. Am Prozesstag ging Amber Heard durch das Gerichtsgebäude, vorbei an Demonstrant*innen, die sie anschrien und als Lügnerin und Hure beleidigten. Sie verdiene das alles, und solle getötet und lebendig verbrannt werden.
Dann betrat Amber Heard einen Gerichtssaal, in dem die Richterin es ihrem Ex-Mann erlaubte, sich lachend und scherzend durch den Prozess zu bewegen. Heard musste ihren Prozess an einem Ort führen, an dem die Gerichtsstenografin offen zugab, total in Depp verknallt zu sein. Sie musste zuhören, als Depps Anwalt ihr vorwarf, über die Vergewaltigung zu lügen, weil sie danach keine Fotos von ihrer blutenden Vagina gemacht habe.
Amber Heard hat sich gegen sexualisierte Gewalt ausgesprochen – und den Zorn unserer Kultur auf sich gezogen. Das ist, wie jede Internetrecherche zeigen wird, objektiv wahr.
Seit sie die Scheidung eingereicht und eine einstweilige Verfügung erwirkt hat, ist das Internet voll mit Hasskommentaren von Depp-Fans (und, das muss man leider sagen, der Öffentlichkeit im Allgemeinen), die Heard vorwerfen, eine Lügnerin, eine Hure – ja, eine verlogene Hure – zu sein.
Dabei könnten die drei Sätze von Heard nicht wahrer sein. Trotzdem wurde sie dafür verurteilt – oder vielleicht genau deswegen.
Worüber könnte sie sonst noch lügen?
„Sie hat gelogen und gelogen und gelogen und gelogen!“, sagt meine Freundin Katja. „Sie hat über alles gelogen. Sogar über Dinge, von denen man denkt, dass sie nicht so wichtig sind. Sie behauptete, sie hätte eine Make-up-Palette von Milani benutzt, die noch gar nicht auf dem Markt war. Sie sagte, sie hätte Geld für wohltätige Zwecke gespendet, dabei hatte sie gar nichts gespendet! Sie sagte sogar, sie könne nicht Gitarre spielen – und was taucht auf? Ein Video, auf dem sie Gitarre spielt!“
Sie hat gelogen und gelogen und gelogen und gelogen. Die Vorstellung, dass Heard über alles gelogen hat, ist unfassbar tief in der Heard-Depp-Geschichte verwurzelt.
Selbst wenn Heard sich beim Namen der Make-up-Palette geirrt hätte, wäre es keine Lüge gewesen. Aber das hat sie nicht mal. Tatsächlich waren ihre genauen Worte vor Gericht im Kreuzverhör: „Das ist es, wovon ich spreche, ein Farbkorrekturset. Das ist natürlich nicht genau das, das ich immer dabei hatte. Aber ich hatte immer eines bei mir.“
Das Gericht und die breite Öffentlichkeit entschieden sich also weiterhin dagegen, Heard zu glauben. Währenddessen bemühte sich Milani darum, von der frauenfeindlichen Hasskampagne gegen Heard auch noch zu profitieren. Die Kosmetikfirma veröffentlichte ein süsses, lustiges TikTok-Video, in dem Amber Heard als doppelzüngige Lügnerin dargestellt wird.
Die restlichen Vorwürfe gegen Heard übertreffen die Sache mit Milani sogar noch. So wurde Heard vorgeworfen, kein Geld an wohltätige Zwecke gespendet zu haben, obwohl sie das versprochen habe. Tatsächlich versprach Heard, 7 Millionen Dollar zu spenden, aber verpflichtete sich dabei, den Betrag in Raten zu zahlen. Das ist ein gängiger Vorgang, wenn man grosse Summen für gute Zwecke spendet.
Und was ist mit der Gitarre? Als Beweis dafür, dass Heard eine abscheuliche Lügnerin, eine verlogene Hure und eine rundum unehrliche Person sei, wird oft angeführt, sie habe gelogen, als sie vor Gericht behauptete, nicht Gitarre spielen zu können.
Die Beweise für diese Anschuldigung? Ein Clip, in dem die junge Schauspielerin in einem Film so tut, als würde sie Gitarre spielen. In einem der vielen, vielen klickstarken Youtube-Videos, in denen Amber als Lügnerin „entlarvt“ wurde, stand als erster Kommentar zu dem Video folgender Satz: „Wow, wenn sie darüber lügen kann, worüber könnte sie sonst noch lügen?“
Verstümmelungsfantasien als lustiger Spruch
Heards Worten und Aussagen wird sofort misstraut. Winzige Ungereimtheiten werden als absichtliche Lügen deklariert, und diese vermeintlichen Lügen werden als „Beweis“ dafür herbeigezogen, dass sie ihren Ex-Mann Johnny Depp fälschlicherweise als Gewalttäter bezichtigt und ihn gar selbst missbraucht habe.
Wenn man Depp so beurteilen würde, wie man Heard beurteilt, müsste man seine gesamte Verteidigung als glatte Lüge bezeichnen. Ein Beispiel: In Textnachrichten an eine Freundin fantasierte er davon, Heard zu ertränken, zu verbrennen und dann ihre verbrannte Leiche zu vergewaltigen, um zu prüfen, ob sie tot sei. Seine Rechtfertigung vor Gericht war: Er habe da nur einen Monty-Python-Sketch zitiert, in dem eine ähnliche Szene vorkomme.
Nur: Es gibt in dem erwähnten Sketch keine Vergewaltigungswitze. Es gibt auch keine Witze über Nekrophilie bei Monty Python.
Auch Depp hat also viele Ungereimtheiten in seinen Aussagen. Doch da ist noch mehr: Er wurde vor Gericht sogar direkt beim Lügen erwischt. Im britischen Prozess bestritt er, seiner Ex-Frau jemals einen Kopfstoss verpasst zu haben. Als man ihm die Tonaufnahme vorspielte, in der er zugibt, Heard gegen die „verdammte Stirn“ gestossen zu haben, änderte er schnell seine Meinung. Er habe ihr doch einen Kopfstoss gegeben – aber es sei ein Unfall gewesen.
Und das ist nur eins von vielen weiteren Beispielen, bei denen Misstrauen gegenüber dem weltweit berühmten Schauspieler angebracht wäre. Doch Depps Worte, seine paranoiden Fantasien, seine bitteren, rachsüchtigen, frauenfeindlichen Wahnvorstellungen werden in der Öffentlichkeit sofort zur allein gültigen Wahrheit deklariert. Heards Wahrheit – selbst wenn sie durch Beweise und Wahrscheinlichkeiten gestützt ist – wird als Lüge abgestempelt.
Möglichen Tätern gebührt Misstrauen
Und dann gibt es da noch die Geschichte der ehemaligen Assistentin von Amber Heard, die ebenfalls wie viele Frauen auf der ganzen Welt Opfer einer Vergewaltigung geworden ist. Die fanatischen Fans von Depp und die fanatischen Misstrauer Heards erzählen sich in diesem Zusammenhang die Geschichte, Heard hätte sich des Erlebnisses ihrer Assistentin bedient, um sich ihre Gewalterfahrung anzueignen.
„Sie hat über die Vergewaltigung gelogen; sie hat die Geschichte über den sexuellen Übergriff ihrer Assistentin gestohlen!“, sagt meine Freundin Katja bösartig.
Amber Heards Ex-Assistentin Katie James war von einem Fremden mit Messer bedroht und vergewaltigt worden. Heard dagegen wurde von ihrem eigenen Partner mit einer Flasche in ihrem eigenen Haus vergewaltigt. Aber wieso sollte Katie James der Meinung sein, Heard hätte sich von ihrer Geschichte inspirieren lassen, obwohl diese ganz anders klingt?
Die Antwort ist simpel: James hat das nie behauptet. Sie hat lediglich gesagt, dass Amber Heard ihre „Konversation“ geklaut habe, indem sie sich selbst als „Überlebende“ statt als „Opfer” sexualisierter Gewalt bezeichnet.
Diese Verdrehung der Tatsachen, dieses ständige Misstrauen gegenüber Heard sagen etwas darüber aus, wie sehr wir Frauen hassen und Opfer sexualisierter Gewalt verachten.
Selbst ziemlich intelligenten Menschen wie meiner guten Freundin Katja fällt es leichter zu glauben, dass eine Frau Details über eine Vergewaltigung von einer Ex-Mitarbeiterin stiehlt, als zuzugeben, dass Vergewaltigungen und sexuelle Übergriffe alltägliche Torturen sind, von denen viele Frauen auf der ganzen Welt betroffen sind.
Der Frau zu glauben, bedeutet nicht – wie zu Unrecht oft behauptet – den beschuldigten Männern einen fairen Prozess zu verweigern. Was es bedeutet, ist, dass wir Frauen glauben sollten – so wie wir es bei Männern tun. Wir sollten zuhören, was sie sagen. Wir sollten ihren Worten Gewicht geben, ihre Version der Ereignisse gelten lassen. Wir sollten aufhören, sie zu hassen – und aufhören, uns einzubilden, sie seien Lügnerinnen und Huren.
Nur schon die statistisch belegte Häufigkeit, mit der Frauen sexualisierte Gewalt erfahren, zeigt, wie fehlplatziert generelles Misstrauen gegenüber möglichen Opfern ist. Wir sollten uns also mindestens so sehr über die Möglichkeit empören, dass eine Frau Gewalt erfahren hat, wie über diejenige, dass ein Mann falsch beschuldigt werden könnte. Denn Letzteres geschieht – im Gegensatz zu Ersterem – sehr selten.
Inzwischen glauben die Leute, dass alles, was Depp sagt, wahr ist. Wenn Depp spricht, werden seine Worte zu einer Art göttlichen Wahrheit. Amber Heard hingegen hat sich der böswilligen Verleumdung schuldig gemacht, weil sie drei objektiv wahre Sätze gesagt hat, von denen sie einen nicht einmal selbst geschrieben hat.
Misogyner Hass und Konterrevolution
Der Hass, den die Gesellschaft für Heard empfindet, ist uralt und gleichzeitig hoch aktuell. Es ist derselbe Hass, den sie für Eva empfand, als sie Adam dazu brachte, den Apfel zu essen, der gleiche Hass, mit dem Hexen verbrannt wurden. Das Misstrauen Heard gegenüber ist ein Misstrauen gegen allen Frauen – gegenüber allen Huren, allen lügenden Huren.
Und dieses Misstrauen ist mittlerweile sogar zu einer Art konterrevolutionären Bewegung geworden. Unter dem #NeverFearTruth sammeln sich Incels, liberale Feministinnen, Johnny Depp, Kevin Federline und Co., um Frauen zu zerreissen und alle Frauen und Opfer als Lügnerinnen darzustellen. Es ist eine frauenfeindliche Gegenreaktion auf #metoo, Amber Heard und alle Überlebende sexualisierter Gewalt – ob männlich oder weiblich. Es ist eine böse und verlogene Reaktion, die die Tatsachen umzudrehen versucht.
Es ist zynisch, dass die Welt Frauen als Lügnerinnen bezeichnet, damit sie dafür bestraft werden, die Wahrheit gesagt zu haben.
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