Am 14. September 1872 reiste eine Gruppe Revolutionär*innen von Zürich nach La Chaux-de-Fonds. Unter ihnen sieben russische Studentinnen: Warwara Iwanowna Alexandrowa, Sophia Illarionowna Bardina, Katioussa Hardina, Olga Ljubatowitsch, Adelaida Nikolajewna Lukanina, Maroussia Pototskaja und Warwara Iwanowna Wachowskaja. In ihrer Begleitung befand sich kein Geringerer als der damals 58-jährige aus Russland stammende Revolutionär Michail Bakunin.
Am Folgetag setzte die Gruppe ihre Reise ins jurassische Saint-Imier fort, wo am 15. und 16. September 1872 – also vor genau 150 Jahren – ein geschichtsträchtiges Treffen stattfinden sollte: Der Kongress von Saint-Imier, der als Geburtsstunde des modernen Anarchismus gilt. Während es Bakunin in alle Geschichtsbücher geschafft hat, gingen die sieben russischen Studentinnen – genauso wie viele andere – weitgehend vergessen.
Trotz ihrer emanzipatorischen Grundausrichtung ist die anarchistische Geschichtsschreibung bis heute allzu sehr eine der grossen Männer und ihrer Konflikte. Ein Blick in die Archive aber zeigt: Hinter dogmatischen Erzählungen, die unreflektiert versuchen, die Geschichte in ein ideologisches Gehäuse einzuengen, verstecken sich viele Personen, die ihre eigene politische Linie vertraten und deren Ansichten neue Erkenntnisse über den politischen Flügelkampf jener Jahre geben.
Ein Stück Globalgeschichte im Schweizer Jura
Etwa 200 Menschen aus der Schweiz, Italien, Frankreich, Spanien, Russland und England versammelten sich an jenen Septembertagen in Saint-Imier – unter ihnen 15 Delegierte aus unterschiedlichen Arbeiter*innengruppen. Als sie das Treffen nach zwei Diskussionstagen mit dem Ruf „Es lebe die soziale Revolution“ beendeten, schrieben sie ein Stück Globalgeschichte. Zumindest rückblickend lässt sich das sagen.
Denn die Delegierten hatten sich auf eine Art Gründungsmanifest des Anarchismus geeinigt, wie aus der Abschlussresolution des Kongresses hervorgeht: Dem Proletariat darf keine einheitliche politische Linie aufgezwungen werden; Autonomie und Selbstbestimmung sind bedingungslos zu akzeptieren; die Revolution muss das Werk der Arbeitenden selbst sein, weshalb kein Herrscher, keine Partei und keine Regierung in ihrem Namen handeln darf. Es war eine Kampfansage an die herrschenden Klassen, aber auch an den autoritären Teil der Arbeiter*innenbewegung.
Die in Saint-Imier gefassten Beschlüsse wurden übersetzt und transnational verbreitet. Zudem konnten die Aktivist*innen dank neu geknüpften Bekanntschaften ein internationales Netzwerk der Kommunikation und gegenseitigen Hilfe aufbauen. Bis heute beziehen sich Anarchist*innen auf dieses Treffen, um ihrem Handeln und Denken Sinn zu geben. Und zu Recht halten Aktivist*innen und Historiker*innen die Erinnerung an dieses historische Ereignis wach. Es fragt sich aber, wie wir die Geschichte dieses Kongresses erzählen.
Bakunin versus Marx
Die her(r )kömmliche Geschichtsschreibung erzählt von der 1864 in London gegründeten Internationalen Arbeiterassoziation – bekannt als Erste Internationale – und den zunehmenden Spannungen zwischen dem im Londoner Exil lebenden Karl Marx und dem vor allem aus der Schweiz agierenden Michail Bakunin.
In diesem Konflikt ging es letztendlich darum, was die Internationale überhaupt sein sollte. Als Mitglied des Generalrats, der geschäftsführenden Instanz der Ersten Internationalen, wollte Marx aus der Organisation eine Art Partei mit einer zentralen Leitung machen. Seiner Vision nach mussten die Arbeitenden die Staatsmacht ergreifen, um die Welt zu verändern.
Bakunin hingegen kritisierte diese Strategie, die aus seiner Sicht neue Hierarchien schuf. Die „Zerstörung jeder politischen Macht“, also auch der Staatsmacht. Bakunin sah in der Internationalen einen föderalistischen Zusammenschluss von Gruppen, die sich vor allem gewerkschaftlich engagierten.
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Als Bakunin die Macht des Generalrats unter Marxens Kontrolle zunehmend kritisierte, rief Letztgenannter kurzerhand zu einem Kongress im niederländischen Den Haag auf. Ein Kongress, an dem Bakunin aufgrund von Reisebeschränkungen nicht teilnehmen konnte. So wurden Bakunin und seine Anhänger*innen aus der Internationalen ausgeschlossen.
Die mit diesem Beschluss Unzufriedenen riefen daraufhin die Zusammenkunft in Saint-Imier ein. Sektionen der Internationalen aus unterschiedlichen Ländern erklärten die in Den Haag gefällten Beschlüsse als nichtig und kritisierten den Autoritarismus des Generalrats.
Die Erste Internationale war von nun an gespalten. Und so war der Anarchismus geboren. Je nach politischer Überzeugung kann man mit dem einen oder anderen sympathisieren. Die Struktur der Geschichte bleibt aber eine ähnliche: eine Geschichte von zwei wortgewandten, schreibenden Männern.
Jenseits dogmatischer Geschichtsschreibung
In dieser Erzählung geht unter, dass nach Saint-Imier die Positionen noch nicht definitiv bezogen waren. Der allzu klar wirkende Graben war noch nicht für alle unüberwindbar. Denn in den kommenden Jahren versuchten verschiedene Aktivist*innen, die politischen Differenzen zwischen Marx und Bakunin zu überbrücken.
Zu ihnen gehörte ein belgischer Arzt namens César De Paepe. In verschiedenen theoretischen Interventionen über die Rolle des Staates in einer zukünftigen Gesellschaft vermittelte er zwischen den Positionen von Marx und Bakunin. Die Spaltung der Internationalen war also weder definitiv noch feinsäuberlich. Wer die politischen Positionen auf jene von Marx und Bakunin reduziert, vertritt ein dogmatisches Geschichtsbild.
Komplizierter ist die Geschichte auch deshalb, weil die in Saint-Imier Anwesenden gar nicht von Anarchismus sprachen, sondern Begriffe wie „Kommunalismus“, „Sozialismus“ oder „Kollektivismus“ benutzten. Erst einige Jahre später setzte sich „Anarchismus“ als Selbstbezeichnung durch.
Aber auch nicht bei allen. Der in Saint-Imier anwesende französische Lehrer und Revolutionär Gustave Lefrançais etwa blieb skeptisch gegenüber dem Anarchismus-Begriff. Er befürchtete, die Arbeitenden könnten davon abgeschreckt werden, weil Anarchismus für ihn zu sehr nach Individualismus klang.
Doch viel wichtiger als die Begriffsfrage ist: Die politischen Resolutionen von Saint-Imier wurden nicht nur in den hohen Lüften der Theorie entwickelt, sondern ebenso auf dem harten Boden der alltäglichen politischen Praxis.
Jenseits hochtrabender Theorien
Die Erste Internationale war ein beispielloses Gebilde. Denn zum ersten Mal verbündeten sich unterschiedliche Arbeiter*innenorganisationen zu einem transnationalen Netzwerk und versprachen sich solidarische Unterstützung. Für die meisten ihrer Mitglieder sollte die Erste Internationale in erster Linie konkrete Solidarität jenseits regionaler oder nationaler Grenzen ermöglichen: Zum Beispiel streikende Genoss*innen finanziell unterstützen. Oder verhindern, dass englische Arbeitgeber*innen belgische Streikbrecher*innen einstellen konnten.
Aber wie soll man kommunizieren? Wer muss Mitgliederbeiträge bezahlen – und wie viel? Wer verwaltet dieses Geld? Wie soll es überwiesen werden? Wie kann man sich der Vertrauenswürdigkeit der Geldkurier*innen vergewissern? Wie soll mit der Hierarchie zwischen den finanzstarken englischen Massengewerkschaften und den kleinen Gewerkschaften des westlichen Kontinentaleuropas umgegangen werden?
Der französische Historiker Nicolas Delalande hat in seinem Buch La Lutte et l’Entraide. L’âge des solidarités ouvrières (frei übersetzt: „Kampf und gegenseitige Hilfe. Das Zeitalter der Arbeitersolidarität“) gezeigt, dass es vor allem solche Fragen waren, welche die einfachen Mitglieder der Internationale umtrieben. Der Konflikt zwischen marxschem Zentralismus und lokaler Autonomie entsprang also weniger aus abstrakten Wertehaltungen als aus den konkreten politischen Bedürfnissen und Interessen der Aktivist*innen.
So war auch die alles entscheidende Staatsfrage keine rein philosophische. Es ging darum, wie man sich im spezifischen Kontext der damaligen Zeit konkret organisieren sollte, welches Ausmass an Institutionalisierung notwendig war – und wann zu viel Bürokratie schädlich wurde. Alles Fragen, die sich noch heute stellen.
Es wäre also falsch, in den Beschlüssen von Saint-Imier allgemeingültige Prinzipien zu sehen. Die Aktivist*innen einigten sich in Saint-Imier auf keine zeitlose Ideologie. In der Folge wurden die Grundsätze immer wieder neu interpretiert, aus ihnen wurden unterschiedliche politische Strategien abgeleitet. Genauso gilt es heute, die anarchistischen Prinzipien an neue Begebenheiten anzupassen.
Nur ein Beispiel: In den vergangenen 150 Jahren haben sich die westeuropäischen Staaten weitgehend verändert. Ihre bürokratischen und repressiven Organe wie Regierung, Armee und Polizei wurden mit sozialstaatlichen Institutionen ergänzt: öffentliche Schulen, Krankenhäuser oder Sozialwerke. Das macht die klassische anarchistische Staatskritik nicht unbedingt hinfällig, zwingt aber zumindest zu theoretischen und praktischen Aktualisierungen.
Die Unsichtbar-Gemachten
Aber kehren wir zu den russischen Studentinnen zurück, die mit Bakunin an den Kongress gereist sind. Sie studierten in der Schweiz, weil sie dort, anders als im russischen Zarenreich, an den Universitäten zugelassen wurden.
Mehr wissen wir nicht über sie. Wir können aber davon ausgehen, dass sie wie viele russische Studierende in der sogenannten «Russischen Kolonie» an der Zürcher Oberstrasse lebten. Und sich wie andere dort lebende Studentinnen in Lesegruppen mit dem Weltgeschehen und revolutionären Theorien auseinandersetzten.
Dabei ergriffen sie als Frauen in der Öffentlichkeit das Wort, trotz immer wiederkehrender Kritik von Professoren, Studenten und aus Zeitungen. Sie experimentierten mit freieren Geschlechterbeziehungen. Einige trennten sich von ihren Ehemännern und lebten in freien Liebesbeziehungen, wie es die Historikerin Faith Hillis in ihrem 2021 erschienenen Buch Utopia‘s Discontents schön beschreibt. Auch diese private Seite der Anarchismusgeschichte ist relevant. Denn politische Haltungen und Umgangsformen bildeten sich auch in alltäglichen Situationen heraus. Politik wurde nicht nur an den öffentlichkeitswirksamen Kongressen gemacht, wo Männer das Sagen hatten.
Trotzdem kommen Frauen in den historischen Abhandlungen über die frühe Geschichte des Anarchismus und den Kongress von Saint-Imier bestenfalls in Nebenbemerkungen vor. Das ist umso bedauerlicher, als gewisse Frauen am Kongress von Saint-Imier zwar fehlten, aber trotzdem entscheidend zur Entstehung anarchistischer Positionen beitrugen.
Eine von ihnen war die französische Sozialistin und Feministin André Léo. Nach ihrer Beteiligung am Aufstand der Pariser Kommune im Frühjahr 1871 flüchtete sie – wie viele andere ihrer Genoss*innen – in die Schweiz. Von dort aus kritisierte sie den Autoritarismus des Generalrats und trat für eine eigenständige Form des Sozialismus ein.
Für Bakunin war sie allzu sanftmütig. 1869 warnte er seine Genossen in einem Zeitungsartikel davor, sich von ihrem „Elan des Herzens“ fortreissen zu lassen. Er reduzierte damit ihre politischen Haltungen auf unvernünftige Gefühlsduselei. Mit seinem maskulinistischen Verständnis von Politik tat sich Bakunin lange Zeit schwer, André Léo als ebenbürtige Genossin anzuerkennen.
André Léo gehörte zu jenen Frauen in der Ersten Internationalen, die weder Marxistinnen noch Anarchistinnen waren, wie es die Politikwissenschaftlerin Antje Schrupp formuliert. Frauen, die den offenen oder unterschwelligen Sexismus ihrer Genossen herausforderten und sich eigene Standpunkte erstritten.
Wir alle haben uns einmal verändert
So schrieb Léo bereits 1869 in einer westschweizerischen Arbeiter*innenzeitung gegen Dogmatismus an:
„Wir glauben an die Gleichheit. Seien wir konform mit unserem Glauben, indem wir die Würde anderer wie unsere eigene anerkennen, und erheben wir nicht ohne Beweise Verdacht gegen die Loyalität derer, die sich von uns unterscheiden. Wenn man die Ungerechtigkeit aller aufgezwungenen Dogmen versteht, die Insuffizienz aller unveränderbaren Systeme, den unaufhörlichen Fortschritt des Denkens, muss man zugeben, dass dieser oder jener ehrlicherweise und aus guten Gründen einen anderen Standpunkt haben kann als wir. […] Wir selbst haben uns einmal verändert.“
Léo forderte ihre Lesenden auf, trotz Unterschieden gemeinsam zu handeln. Sie schrieb ein Plädoyer für eine undogmatische Politik, indem sie daran erinnerte, dass die Geschichte unabgeschlossen ist, dass wir uns alle verändern können.
Auch wie wir Geschichte schreiben, hat sich innerhalb der letzten Jahrzehnten stark verändert. Dementsprechend müssen wir die Geschichte des Kongresses von Saint-Imier und des Anarchismus insgesamt von unten und von den Rändern erzählen – und von jenen Erfahrungen und Ideen lernen, die nicht in vorgefertigte Raster passen. Denn das letzte Wort wurde noch nicht gesprochen. Auch in Saint-Imier nicht.
Milo Probst ist Assistent für Neue Geschichte an der Universität Basel und schreibt seine Dissertation zum Thema Ökologie und libertäre Arbeiter*innenbewegung Ende des 19. Jahrhunderts.
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