Argen­ti­nien: Auf dem Bau gegen das Patri­ar­chat und sexua­li­sierte Gewalt

Aus Pati­en­tinnen werden Genos­sinnen. Eine Geschichte darüber, wie in Argen­ti­nien Frauen, die Opfer sexua­li­sierter Gewalt wurden, sich selbst orga­ni­sieren und gleich­zeitig eine Revo­lu­tion in der männer­do­mi­nierten Baubranche beginnen. 
"Wir sind eine Gemeinschaft". Flavia Pedraza bei der Arbeit. (Foto: Manuel Fraga de Olivera)

Es ist kalt und nass. Der Beton­mi­scher dreht vor sich hin und quietscht hin und wieder. Sechs Frauen gehen hin und her, mischen Zement, spach­teln und tragen kilo­schwere Beton­säcke. Hier in Gowland, ein Dorf unweit der Klein­stadt Mercedes, knapp 90 Kilo­meter von Buenos Aires entfernt, entsteht das Haus einer von sexua­li­sierter Gewalt betrof­fenen Frau.

Alle Bauer­ar­bei­te­rinnen hier wurden Opfer sexua­li­siert Gewalt. Verwandte oder Fremde auf der Strasse haben sie verge­wal­tigt, sexuell ausge­beutet oder miss­braucht. Zusammen haben die Frauen eine Bauge­nos­sen­schaft gegründet, um für die Basis ihres Lebens zu sorgen: gemein­same Fürsorge, Arbeit und ein Dach über dem Kopf.

In Argen­ti­nien wird alle 29 Stunden eine Frau ermordet. Die Zahlen der Fälle häus­li­cher Gewalt gegen Frauen sind seit Beginn der Pandemie in die Höhe geschnellt. Die staat­liche Notruf­stelle regi­striert Rekord­zahlen bei Anrufen zu häus­li­cher Gewalt. Gleich­zeitig sinkt die Zahl effek­tiver Anzeigen. Laut der Zeitung El Auditor liegt dies an der fehlenden Beglei­tung der betrof­fenen Frauen: Die Pandemie hat die Opfer den Gewalt­tä­tern ausge­lie­fert, da der Lock­down die Frauen über mehrere Monate daran hinderte, Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Noch zu Beginn der Pandemie, im Juni 2020, stellt die argen­ti­ni­sche Mini­sterin für Frauen und Gender­di­ver­sität, Eli Gómez Alcorta, den neuen Plan gegen sexua­li­sierte Gewalt vor. Sie sieht einen enormen Nach­hol­be­darf und würdigt die Rolle der Basis­or­ga­ni­sa­tionen. Die Regie­rung wolle, so die Wort­wahl, die Anstren­gungen sozialer Orga­ni­sa­tionen im Kampf gegen sexua­li­sierte Gewalt stärken. 

Dank dieser Basis­or­ga­ni­sa­tionen finden Frauen wie Flavia Pedraza zurück ins soziale Leben. Sie glaubte lange Zeit selbst an ihrer Situa­tion schuld zu sein. Bis heute wagt sie es nicht, ihren Peiniger anzu­zeigen. Trotzdem hat das Projekt ihr Selbst­be­wusst­sein und die Perspek­tive auf ein selbst­be­stimmtes Leben gegeben. Eine Revo­lu­tion für sie und für den männer­do­mi­nierten Sektor der Baustelle. 

Angst, auf die Strasse zu gehen

Zwischen dem Schau­feln und Steine schleppen setzt sich Flavia Pedraza für einen Moment auf einen einfa­chen Stuhl. Die Mitt­vier­zi­gerin hat vier Kinder, ist allein­er­zie­hend und ein Grün­dungs­mit­glied der Bautruppe. Sie beginnt zu erzählen: “Das hier ist mehr als nur eine Arbeit, wir sind eine Gemein­schaft, eine zweite Familie. Wenn es mir schlecht geht, ist immer jemand da, mit der ich spre­chen kann”. 

Pedraza wird Opfer von sexua­li­sierter Gewalt, mitten bei der Arbeit, wird sie von einem Mann, der im glei­chen Dorf wohnt wie sie, über­fallen. Sie betont, wie Freun­dinnen sie später in ein Frau­en­haus begleiten, und sie hier erste Hilfe und Betreuung bekommt. Das Haus liegt in der etwa zehn Kilo­meter entfernten Klein­stadt Mercedes. Ein Zug fährt mehr­mals am Tag zwischen beiden Orten hin und her. 

Pedraza beginnt einen lang­wie­rigen Prozess der Aufar­bei­tung. “Solche Vorfälle kann man nicht vergessen, es sind Wunden, die für immer offen bleiben”, meint sie. Man könne höch­stens lernen, mit ihnen zu leben. Am Anfang fällt es ihr schwer, auf die Strasse zu gehen. Im Dorf trifft sie mehr­mals jenen Mann auf der Strasse an, der ihr damals das Schreck­liche angetan hat. 

Zu allem Unglück kommt die Pandemie. Der Lock­down macht die Reise nach Mercedes unmög­lich. Der Besuch beim benach­barten Frau­en­haus bleibt aus. Wie vielen anderen Frauen nehmen die Mass­nahmen zur Eingren­zung der Verbrei­tung des Coro­na­virus Pedraza den Raum, in dem sie sich austau­schen kann.

Flavia Pedraza: „Alle über­nehmen hier die glei­chen Arbeiten.“ Im Bild Micaela Acosta (links) und Soledad Coronel (rechts) am Beton mischen. (Foto: Facundo Manuel Fraga de Olivera)

Lösung von unten

Pedraza sucht nach Lösungs­wegen. Ihr wird empfohlen, sich im lokalen Gesund­heits­zen­trum bei der Sozi­al­ar­bei­terin Tatiana Zunina zu melden. Gleich­zeitig beginnt sie bei der Basis­or­ga­ni­sa­tion Movi­mi­ento de Traba­ja­dores Excluidos (MTE) in einer Suppen­küche zu kochen. Es geht um Hilfe für die Ärmsten während der Pandemie. Beide Orte sollen sich schon bald verbinden. 

Im Gesund­heits­zen­trum bekommt Pedraza einen Thera­pie­platz, zudem wird sie für einfache Arbeiten im Zentrum ange­stellt, als Teil staat­li­cher Lösungs­an­sätze für Opfer sexua­li­sierter Gewalt. Heute meint Pedraza, dank der Therapie mit “Tati”, wie Pedraza Zuninas Vornamen in herz­li­cher Weise kürzt, sei ihr bewusst geworden, dass viele frühere Probleme nicht bei ihr lagen, sondern bei den Gewalt­tä­tern. “Es liegt nicht an der Klei­dung oder ob du jemanden bei einer Arbeit hilfst und mit ihm noch einen Mate trinkst”, sagt sie. All dies sei keine Einla­dung für unge­fragte Berührungen. 

Durch die Therapie sei sie selbst­si­cherer und selb­stän­diger geworden.

Gleich­zeitig trifft sie sich mit anderen Frauen. Gemeinsam spre­chen sie über ihre Erfah­rungen und die Schwie­rig­keit, ein selb­stän­diges Leben aufzu­bauen. Viele Frauen haben keine abge­schlos­sene Schul­bil­dung, es fehlt an Arbeit und einem anstän­digem Dach über dem Kopf. Eine, Romina, steht kurz vor der Räumung – sie kann ihre Miete nicht mehr bezahlen. 

Da Romina aber ein Stück Land besitzt, kommen die Frauen auf eine Idee. Wüssten Sie ein Haus zu bauen, könnten sie gemeinsam der Genossin ein neues Dach über dem Kopf geben. So hätten sie einen Beruf und könnten zudem gemeinsam anderen Menschen helfen. Sie fragen Genoss:innen aus der MTE an und bekommen die Zusage, dass ihnen beim Häuserbau geholfen wird. 

Micaela Acosta, eine Genossin von Flavia Pedraza, am spach­teln. Die Frauen sind eine Gemein­schaft, die sich gegen­seitig unter­stützt. (Foto: Facundo Manuel Fraga de Olivera)

Staat­liche Programme – Ausfüh­rung von unten

Möglich macht das eine argen­ti­ni­sche Eigen­heit: Die Verbin­dung zwischen Basis­or­ga­ni­sa­tionen und staat­li­chen Sozi­al­pro­grammen. Im Gegen­satz zu anderen Ländern baut der argen­ti­ni­sche Staat auf soziale Orga­ni­sa­tionen auf und über­gibt ihnen zum Teil wich­tige Aufgaben. Eine der wich­tig­sten Orga­ni­sa­tionen ist die Landes­weit vertre­tene Bewe­gung der ausge­schlos­senen Arbeiter:innen, kurz MTE. 

Die MTE ist eine Bewe­gung, die zur Zeit der grossen Krise in Argen­ti­nien aus dem Jahr 2001 entstanden ist. Der Name ist das Programm. Gebeu­telt von der Wirt­schafts­krise und dem Umsturz der neoli­be­ralen Regie­rung begann ein Anwalt zusammen mit Altpapiersammler:innen ein genos­sen­schaft­li­ches Projekt zu organisieren.

Die Recycler:innen sind Personen aus der Unter­schicht, die aufgrund ihrer Nähe zum Müll ein sehr schlechtes gesell­schaft­li­ches Ansehen haben. Dank der Genos­sen­schaft begannen sie sich zuerst in Buenos Aires und später in ganz Argen­ti­nien gemein­schaft­lich zu orga­ni­sieren und bauten Recy­cling­höfe auf. Heute funk­tio­niert ein Gross­teil der öffent­li­chen und privaten Wieder­ver­wer­tung durch die Arbeiter:innen der MTE.

Unter der links­re­for­mi­sti­schen Regie­rung von Nestór Kirchner bauten sie ihren Tätig­keits­be­reich aus. Dabei half ein staat­li­ches Programm zur Arbeits­be­schaf­fung: Menschen mit Problemen sich im Arbeits­markt zu inte­grieren erhalten einen staat­li­chen Grund­lohn und müssen dafür öffent­liche Aufgaben wie Stras­sen­rei­ni­gung oder ‑bau erle­digen. Zusätz­lich haben sie aber die Möglich­keit, andere Arbeiten durch­zu­führen und ihren Lohn so aufzu­bes­sern. Dabei koope­riert der Staat mit Basis­or­ga­ni­sa­tionen und über­lässt ihnen die konkrete Ausge­stal­tung der Arbeiten.

Flavia Pedraza: „Hier sind wir alle gleich­be­rech­tigt.“ Im Bild Mayra Centeno (links) und Marina Ponce (rechts) bei der Arbeit. (Foto: Facundo Manuel Fraga de Olivera)

“Aus Pati­en­tinnen werden Genossinnen”

Die Frauen, anfangs zu neunt, kommen in das staat­liche Programm “Poten­cial Trabajo”, der ihnen einen Grund­lohn zusi­chert. Am Haus von Romina lernen sie das Maure­rin­nen­hand­werk. Pedraza erzählt, dass es zu Beginn schwierig war, mit den Männern zu kommu­ni­zieren: “Sie sagten ‘du mach das’, es war ein stän­diges Anraunzen und Befehlen”.

Mit der Zeit lernen die Männer, wie man den Frauen das Hand­werk beibringt. “Wir hatten gemein­same Sitzungen in denen wir unsere Probleme anspra­chen”, erin­nert sich Pedraza. Melissa Melgar, eine Koor­di­na­torin vom MTE, ergänzt gegen­über das Lamm: “Wir mussten den Männern nach und nach klar­ma­chen, dass sie sich langsam zurück­ziehen sollten.”

Nach ein paar Monaten entsteht die erste Baugruppe aus Frauen, danach kommt die zweite und vor ein paar Wochen die dritte – dieses Mal aber eine gemischte. Der Wille, gemeinsam arbeiten zu können, drückt sich darin aus. 

Für Pedraza ist die Arbeit ein Segen. Sie traut sich wieder auf die Strasse zu gehen und baut heute selbst­ständig Fussgänger:innenwege. “Ich hätte mir nicht vorstellen können, jemals solche Arbeiten durch­zu­führen”, meint sie glück­lich. Ihren Kindern ist sie zu einem Vorbild geworden, sie sind stolz auf ihre Mutter. Pedraza meint, die Wert­schät­zung gehe weiter. Ihr Cousin, eben­falls ein Maurer, wollte sie schon enga­gieren, um einzelne Arbeiten gemeinsam auszuführen. 

Diese Erfah­rung wird von Zunina, der Sozi­al­ar­bei­terin, gegen­über das Lamm bestä­tigt. Bei der Frage, ob der Werde­gang der Frauen so geplant war, lacht sie. Sie hätte sich selbst vor zwei Jahren nicht vorstellen können, dass aus den Frauen ein Kollektiv aus Bauar­bei­te­rinnen werden würde. Sie sagt: «Ich glaube, ein wich­tiger Punkt ist, dass wir die Frauen in ihren Entschei­dungen und Über­le­gungen unter­stützt haben.» Es war die Idee der Frauen, gemeinsam ein Haus zu bauen und später daraus eine Arbeit zu machen. Zunina ist glück­lich über das Erreichte: «Aus Pati­en­tinnen wurden Genossinnen».

Pedrazas Stimme beginnt zu stocken und ihr kommen die Tränen, als sie versucht, den Werde­gang seit dem Einstieg in das Programm gegen häus­liche Gewalt zusammen zu fassen. Sie habe Zunina und dem MTE viel zu verdanken. Heute arbeiten sie gemeinsam und sie fühlt sich von ihren Arbeitskolleg:innen respek­tiert. «Hier auf der Baustelle sind wir voll­kommen gleich­wertig», meint Pedraza.

Doch der Schmerz bleibt, ihren Peiniger hat sie bis heute nicht ange­zeigt. Er habe Kinder und eine Ehefrau und sie wolle nicht, dass es diesen aufgrund einer Anzeige schlechter ginge. „Ich glaube an Gott“, meint sie zum Schluss und hofft, dass er ihren Peiniger irgend­wann strafen wird.


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