Es ist kalt und nass. Der Betonmischer dreht vor sich hin und quietscht hin und wieder. Sechs Frauen gehen hin und her, mischen Zement, spachteln und tragen kiloschwere Betonsäcke. Hier in Gowland, ein Dorf unweit der Kleinstadt Mercedes, knapp 90 Kilometer von Buenos Aires entfernt, entsteht das Haus einer von sexualisierter Gewalt betroffenen Frau.
Alle Bauerarbeiterinnen hier wurden Opfer sexualisiert Gewalt. Verwandte oder Fremde auf der Strasse haben sie vergewaltigt, sexuell ausgebeutet oder missbraucht. Zusammen haben die Frauen eine Baugenossenschaft gegründet, um für die Basis ihres Lebens zu sorgen: gemeinsame Fürsorge, Arbeit und ein Dach über dem Kopf.
In Argentinien wird alle 29 Stunden eine Frau ermordet. Die Zahlen der Fälle häuslicher Gewalt gegen Frauen sind seit Beginn der Pandemie in die Höhe geschnellt. Die staatliche Notrufstelle registriert Rekordzahlen bei Anrufen zu häuslicher Gewalt. Gleichzeitig sinkt die Zahl effektiver Anzeigen. Laut der Zeitung El Auditor liegt dies an der fehlenden Begleitung der betroffenen Frauen: Die Pandemie hat die Opfer den Gewalttätern ausgeliefert, da der Lockdown die Frauen über mehrere Monate daran hinderte, Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Noch zu Beginn der Pandemie, im Juni 2020, stellt die argentinische Ministerin für Frauen und Genderdiversität, Eli Gómez Alcorta, den neuen Plan gegen sexualisierte Gewalt vor. Sie sieht einen enormen Nachholbedarf und würdigt die Rolle der Basisorganisationen. Die Regierung wolle, so die Wortwahl, die Anstrengungen sozialer Organisationen im Kampf gegen sexualisierte Gewalt stärken.
Dank dieser Basisorganisationen finden Frauen wie Flavia Pedraza zurück ins soziale Leben. Sie glaubte lange Zeit selbst an ihrer Situation schuld zu sein. Bis heute wagt sie es nicht, ihren Peiniger anzuzeigen. Trotzdem hat das Projekt ihr Selbstbewusstsein und die Perspektive auf ein selbstbestimmtes Leben gegeben. Eine Revolution für sie und für den männerdominierten Sektor der Baustelle.
Angst, auf die Strasse zu gehen
Zwischen dem Schaufeln und Steine schleppen setzt sich Flavia Pedraza für einen Moment auf einen einfachen Stuhl. Die Mittvierzigerin hat vier Kinder, ist alleinerziehend und ein Gründungsmitglied der Bautruppe. Sie beginnt zu erzählen: “Das hier ist mehr als nur eine Arbeit, wir sind eine Gemeinschaft, eine zweite Familie. Wenn es mir schlecht geht, ist immer jemand da, mit der ich sprechen kann”.
Pedraza wird Opfer von sexualisierter Gewalt, mitten bei der Arbeit, wird sie von einem Mann, der im gleichen Dorf wohnt wie sie, überfallen. Sie betont, wie Freundinnen sie später in ein Frauenhaus begleiten, und sie hier erste Hilfe und Betreuung bekommt. Das Haus liegt in der etwa zehn Kilometer entfernten Kleinstadt Mercedes. Ein Zug fährt mehrmals am Tag zwischen beiden Orten hin und her.
Pedraza beginnt einen langwierigen Prozess der Aufarbeitung. “Solche Vorfälle kann man nicht vergessen, es sind Wunden, die für immer offen bleiben”, meint sie. Man könne höchstens lernen, mit ihnen zu leben. Am Anfang fällt es ihr schwer, auf die Strasse zu gehen. Im Dorf trifft sie mehrmals jenen Mann auf der Strasse an, der ihr damals das Schreckliche angetan hat.
Zu allem Unglück kommt die Pandemie. Der Lockdown macht die Reise nach Mercedes unmöglich. Der Besuch beim benachbarten Frauenhaus bleibt aus. Wie vielen anderen Frauen nehmen die Massnahmen zur Eingrenzung der Verbreitung des Coronavirus Pedraza den Raum, in dem sie sich austauschen kann.
Lösung von unten
Pedraza sucht nach Lösungswegen. Ihr wird empfohlen, sich im lokalen Gesundheitszentrum bei der Sozialarbeiterin Tatiana Zunina zu melden. Gleichzeitig beginnt sie bei der Basisorganisation Movimiento de Trabajadores Excluidos (MTE) in einer Suppenküche zu kochen. Es geht um Hilfe für die Ärmsten während der Pandemie. Beide Orte sollen sich schon bald verbinden.
Im Gesundheitszentrum bekommt Pedraza einen Therapieplatz, zudem wird sie für einfache Arbeiten im Zentrum angestellt, als Teil staatlicher Lösungsansätze für Opfer sexualisierter Gewalt. Heute meint Pedraza, dank der Therapie mit “Tati”, wie Pedraza Zuninas Vornamen in herzlicher Weise kürzt, sei ihr bewusst geworden, dass viele frühere Probleme nicht bei ihr lagen, sondern bei den Gewalttätern. “Es liegt nicht an der Kleidung oder ob du jemanden bei einer Arbeit hilfst und mit ihm noch einen Mate trinkst”, sagt sie. All dies sei keine Einladung für ungefragte Berührungen.
Durch die Therapie sei sie selbstsicherer und selbständiger geworden.
Gleichzeitig trifft sie sich mit anderen Frauen. Gemeinsam sprechen sie über ihre Erfahrungen und die Schwierigkeit, ein selbständiges Leben aufzubauen. Viele Frauen haben keine abgeschlossene Schulbildung, es fehlt an Arbeit und einem anständigem Dach über dem Kopf. Eine, Romina, steht kurz vor der Räumung – sie kann ihre Miete nicht mehr bezahlen.
Da Romina aber ein Stück Land besitzt, kommen die Frauen auf eine Idee. Wüssten Sie ein Haus zu bauen, könnten sie gemeinsam der Genossin ein neues Dach über dem Kopf geben. So hätten sie einen Beruf und könnten zudem gemeinsam anderen Menschen helfen. Sie fragen Genoss:innen aus der MTE an und bekommen die Zusage, dass ihnen beim Häuserbau geholfen wird.
Staatliche Programme – Ausführung von unten
Möglich macht das eine argentinische Eigenheit: Die Verbindung zwischen Basisorganisationen und staatlichen Sozialprogrammen. Im Gegensatz zu anderen Ländern baut der argentinische Staat auf soziale Organisationen auf und übergibt ihnen zum Teil wichtige Aufgaben. Eine der wichtigsten Organisationen ist die Landesweit vertretene Bewegung der ausgeschlossenen Arbeiter:innen, kurz MTE.
Die MTE ist eine Bewegung, die zur Zeit der grossen Krise in Argentinien aus dem Jahr 2001 entstanden ist. Der Name ist das Programm. Gebeutelt von der Wirtschaftskrise und dem Umsturz der neoliberalen Regierung begann ein Anwalt zusammen mit Altpapiersammler:innen ein genossenschaftliches Projekt zu organisieren.
Die Recycler:innen sind Personen aus der Unterschicht, die aufgrund ihrer Nähe zum Müll ein sehr schlechtes gesellschaftliches Ansehen haben. Dank der Genossenschaft begannen sie sich zuerst in Buenos Aires und später in ganz Argentinien gemeinschaftlich zu organisieren und bauten Recyclinghöfe auf. Heute funktioniert ein Grossteil der öffentlichen und privaten Wiederverwertung durch die Arbeiter:innen der MTE.
Unter der linksreformistischen Regierung von Nestór Kirchner bauten sie ihren Tätigkeitsbereich aus. Dabei half ein staatliches Programm zur Arbeitsbeschaffung: Menschen mit Problemen sich im Arbeitsmarkt zu integrieren erhalten einen staatlichen Grundlohn und müssen dafür öffentliche Aufgaben wie Strassenreinigung oder ‑bau erledigen. Zusätzlich haben sie aber die Möglichkeit, andere Arbeiten durchzuführen und ihren Lohn so aufzubessern. Dabei kooperiert der Staat mit Basisorganisationen und überlässt ihnen die konkrete Ausgestaltung der Arbeiten.
“Aus Patientinnen werden Genossinnen”
Die Frauen, anfangs zu neunt, kommen in das staatliche Programm “Potencial Trabajo”, der ihnen einen Grundlohn zusichert. Am Haus von Romina lernen sie das Maurerinnenhandwerk. Pedraza erzählt, dass es zu Beginn schwierig war, mit den Männern zu kommunizieren: “Sie sagten ‘du mach das’, es war ein ständiges Anraunzen und Befehlen”.
Mit der Zeit lernen die Männer, wie man den Frauen das Handwerk beibringt. “Wir hatten gemeinsame Sitzungen in denen wir unsere Probleme ansprachen”, erinnert sich Pedraza. Melissa Melgar, eine Koordinatorin vom MTE, ergänzt gegenüber das Lamm: “Wir mussten den Männern nach und nach klarmachen, dass sie sich langsam zurückziehen sollten.”
Nach ein paar Monaten entsteht die erste Baugruppe aus Frauen, danach kommt die zweite und vor ein paar Wochen die dritte – dieses Mal aber eine gemischte. Der Wille, gemeinsam arbeiten zu können, drückt sich darin aus.
Für Pedraza ist die Arbeit ein Segen. Sie traut sich wieder auf die Strasse zu gehen und baut heute selbstständig Fussgänger:innenwege. “Ich hätte mir nicht vorstellen können, jemals solche Arbeiten durchzuführen”, meint sie glücklich. Ihren Kindern ist sie zu einem Vorbild geworden, sie sind stolz auf ihre Mutter. Pedraza meint, die Wertschätzung gehe weiter. Ihr Cousin, ebenfalls ein Maurer, wollte sie schon engagieren, um einzelne Arbeiten gemeinsam auszuführen.
Diese Erfahrung wird von Zunina, der Sozialarbeiterin, gegenüber das Lamm bestätigt. Bei der Frage, ob der Werdegang der Frauen so geplant war, lacht sie. Sie hätte sich selbst vor zwei Jahren nicht vorstellen können, dass aus den Frauen ein Kollektiv aus Bauarbeiterinnen werden würde. Sie sagt: «Ich glaube, ein wichtiger Punkt ist, dass wir die Frauen in ihren Entscheidungen und Überlegungen unterstützt haben.» Es war die Idee der Frauen, gemeinsam ein Haus zu bauen und später daraus eine Arbeit zu machen. Zunina ist glücklich über das Erreichte: «Aus Patientinnen wurden Genossinnen».
Pedrazas Stimme beginnt zu stocken und ihr kommen die Tränen, als sie versucht, den Werdegang seit dem Einstieg in das Programm gegen häusliche Gewalt zusammen zu fassen. Sie habe Zunina und dem MTE viel zu verdanken. Heute arbeiten sie gemeinsam und sie fühlt sich von ihren Arbeitskolleg:innen respektiert. «Hier auf der Baustelle sind wir vollkommen gleichwertig», meint Pedraza.
Doch der Schmerz bleibt, ihren Peiniger hat sie bis heute nicht angezeigt. Er habe Kinder und eine Ehefrau und sie wolle nicht, dass es diesen aufgrund einer Anzeige schlechter ginge. „Ich glaube an Gott“, meint sie zum Schluss und hofft, dass er ihren Peiniger irgendwann strafen wird.
Journalismus kostet
Die Produktion dieses Artikels nahm 28 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 1716 einnehmen.
Als Leser*in von das Lamm konsumierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demokratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produktion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rechnung sieht so aus:
Wir haben einen Lohndeckel bei CHF 22. Die gewerkschaftliche Empfehlung wäre CHF 35 pro Stunde.
CHF 980 → 35 CHF/h für Lohn der Schreibenden, Redigat, Korrektorat (Produktion)
CHF 476 → 17 CHF/h für Fixkosten (Raum- & Servermiete, Programme usw.)
CHF 260 pro Artikel → Backoffice, Kommunikation, IT, Bildredaktion, Marketing usw.
Weitere Informationen zu unseren Finanzen findest du hier.
Solidarisches Abo
Nur durch Abos erhalten wir finanzielle Sicherheit. Mit deinem Soli-Abo ab 60 CHF im Jahr oder 5 CHF im Monat unterstützt du uns nachhaltig und machst Journalismus demokratisch zugänglich. Wer kann, darf auch gerne einen höheren Beitrag zahlen.
Ihr unterstützt mit eurem Abo das, was ihr ohnehin von uns erhaltet: sorgfältig recherchierte Informationen, kritisch aufbereitet. So haltet ihr unser Magazin am Leben und stellt sicher, dass alle Menschen – unabhängig von ihren finanziellen Ressourcen – Zugang zu fundiertem Journalismus abseits von schnellen News und Clickbait erhalten.
In der kriselnden Medienwelt ist es ohnehin fast unmöglich, schwarze Zahlen zu schreiben. Da das Lamm unkommerziell ausgerichtet ist, keine Werbung schaltet und für alle frei zugänglich bleiben will, sind wir um so mehr auf eure solidarischen Abos angewiesen. Unser Lohn ist unmittelbar an eure Abos und Spenden geknüpft. Je weniger Abos, desto weniger Lohn haben wir – und somit weniger Ressourcen für das, was wir tun: Kritischen Journalismus für alle.
Einzelspende
Ihr wollt uns lieber einmalig unterstützen?