Recherchen von das Lamm deckten Missstände im Zentrum Lilienberg für geflüchtete Minderjährige in Zürich auf. Sie zeigen, dass es an allem mangelt: zu wenig Platz, zu wenig Personal, zu wenig sanitäre Einrichtungen. Doch das Problem liegt tiefer: Asylsuchende werden rechtlich benachteiligt.
In der Schweiz regelt die Pflegekinderverordnung (PAVO) seit 1977 die Unterbringung von Kindern und Jugendlichen in Heimen. Diese besagt, dass eine Betreuungsperson für höchstens vier Heimbewohner*innen zuständig sein darf. Die Betreuungspersonen im Lilienberg waren laut eigenen Aussagen für bis zu zehn Jugendliche zuständig – also mehr als doppelt so viele wie in der PAVO vorgeschrieben.
Zudem müssen laut PAVO Doppelzimmer mindestens 13,5 Quadratmeter gross sein. Für vier Bewohner*innen des Heims braucht es jeweils ein WC, ein Lavabo und eine Dusche. Die Verordnung besagt auch: „Besonderen Bedürfnissen der Leistungsbeziehenden ist mit grösseren Flächen Rechnung zu tragen.“ Laut ehemaligen Mitarbeitenden sind Zweierzimmer im Lilienberg zwischen 9,5 und 13 Quadratmeter gross. Und auf einem der Stockwerke des Gebäudes teilten sich 34 Personen drei Duschen. Gemäss PAVO müsste es mindestens acht Duschen geben.
Dennoch: Die AOZ und die Zürcher Sicherheitsdirektion verstossen nicht gegen das Gesetz. Denn die PAVO muss laut kantonaler Gesetzgebung in Zürich nicht auf Kinder- und Jugendheime für minderjährige Geflüchtete angewandt werden. Für den Asylbereich existieren keine vergleichbaren verbindlichen Mindeststandards. Sie werden vor dem Gesetz nicht gleich behandelt wie andere Jugendliche und Kinder.
Zwar hat die AOZ im vergangenen Dezember ein Reglement verabschiedet, welches Mindeststandards enthält. Diese gehen aber nicht weit genug. So legen sie bezüglich des Wohnraums etwa lediglich fest, dass unbegleitete Minderjährige getrennt von Erwachsenen untergebracht werden müssen.
Dabei wären angesichts der Verwundbarkeit dieser Jugendlichen besonders hohe Standards für ihre Unterbringung nötig. Sie müssten weit über diejenigen der PAVO hinausreichen. Und den Jugendlichen etwa traumapädagogische Betreuung rund um die Uhr zusichern. Nur so besteht die Chance, dass sie, die Teil unserer Gesellschaft bleiben werden, ihr Trauma aufarbeiten und Vertrauen in ihre neue Umgebung fassen können.
Das Gegenteil ist der Fall: Diese jungen Menschen, die teilweise jahrelang und unter Gefahren auf der Flucht waren in der Hoffnung, am Ende einen friedlichen Ort zu erreichen, werden in der Schweiz erneut im Stich gelassen und Gewalt ausgesetzt.
Etwa in Form von regelmässigen Polizeieinsätzen im Zentrum. Das führte laut den Aussagen der ehemaligen Mitarbeitenden bereits zur Re-Traumatisierung von Jugendlichen, die mit uniformierten Männern nicht Sicherheit, sondern Schläge und Folter assoziieren. Je älter sie werden, desto schwieriger wird es sein, die langfristigen Folgen dieser Re-Traumatisierung abzuwenden. Misstrauen in die Schweizer Gesellschaft vonseiten der Jugendlichen wäre angesichts der Zustände im Lilienberg durchaus angebracht.
Sofortiges Handeln ist dringend nötig. Es braucht jetzt mehr und besser geschultes Personal und andere Unterkünfte. Es reicht nicht, zu warten, bis der Vertrag zwischen Sozialamt und AOZ im Jahr 2024 ausläuft. Zwei Jahre im Leben eines Teenagers sind eine lange Zeit und können den Verlauf eines Lebens entscheidend beeinflussen. Es braucht zudem langfristig Mindeststandards für die Unterbringung von geflüchteten Asylsuchenden, die regelmässig und unangekündigt überprüft werden. Diese müssen deutlich über die Mindeststandards, die in der PAVO definiert sind, hinausreichen.
Dass für jedes Kinder- und Jugendheim strengere Regeln gelten als für diejenigen Einrichtungen, die besonders verletzliche Minderjährige unterbringen, zeigt: Diese Teenager sind vor dem Gesetz in erster Linie Asylsuchende und erst in zweiter Linie schutzbedürftige Kinder. Höchste Zeit, das zu ändern.
Journalismus kostet
Die Produktion dieses Artikels nahm 4 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 468 einnehmen.
Als Leser*in von das Lamm konsumierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demokratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produktion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rechnung sieht so aus:
Wir haben einen Lohndeckel bei CHF 22. Die gewerkschaftliche Empfehlung wäre CHF 35 pro Stunde.
CHF 140 → 35 CHF/h für Lohn der Schreibenden, Redigat, Korrektorat (Produktion)
CHF 68 → 17 CHF/h für Fixkosten (Raum- & Servermiete, Programme usw.)
CHF 260 pro Artikel → Backoffice, Kommunikation, IT, Bildredaktion, Marketing usw.
Weitere Informationen zu unseren Finanzen findest du hier.
Solidarisches Abo
Nur durch Abos erhalten wir finanzielle Sicherheit. Mit deinem Soli-Abo ab 60 CHF im Jahr oder 5 CHF im Monat unterstützt du uns nachhaltig und machst Journalismus demokratisch zugänglich. Wer kann, darf auch gerne einen höheren Beitrag zahlen.
Ihr unterstützt mit eurem Abo das, was ihr ohnehin von uns erhaltet: sorgfältig recherchierte Informationen, kritisch aufbereitet. So haltet ihr unser Magazin am Leben und stellt sicher, dass alle Menschen – unabhängig von ihren finanziellen Ressourcen – Zugang zu fundiertem Journalismus abseits von schnellen News und Clickbait erhalten.
In der kriselnden Medienwelt ist es ohnehin fast unmöglich, schwarze Zahlen zu schreiben. Da das Lamm unkommerziell ausgerichtet ist, keine Werbung schaltet und für alle frei zugänglich bleiben will, sind wir um so mehr auf eure solidarischen Abos angewiesen. Unser Lohn ist unmittelbar an eure Abos und Spenden geknüpft. Je weniger Abos, desto weniger Lohn haben wir – und somit weniger Ressourcen für das, was wir tun: Kritischen Journalismus für alle.
Einzelspende
Ihr wollt uns lieber einmalig unterstützen?