Minder­jährig, geflüchtet – und alleingelassen

Die Jugend­li­chen würden kaum betreut, das Personal sei über­la­stet – und nichts davon solle an die Öffent­lich­keit gelangen: Ehema­lige Mitarbeiter*innen des Zentrums für unbe­glei­tete minder­jäh­rige Asyl­su­chende Lili­en­berg im Kanton Zürich erheben schwere Vorwürfe. 

Auf der Suche nach Schutz sind 90 Jugend­liche zwischen 12 und 18 Jahren hier gelandet: in einem Haus auf einem Hügel in Affol­tern am Albis. Rund­herum liegen Felder, Zürich ist eine Drei­vier­tel­stunde per Bus und Zug entfernt. Hier steht das Zentrum Lili­en­berg, eine Kollek­tiv­un­ter­kunft für unbe­glei­tete minder­jäh­rige Asyl­su­chende. In Behör­den­sprache werden sie MNA genannt, kurz für „mineurs non accom­pa­gnés“. Die meisten Bewohner*innen des Hauses sind aus Afgha­ni­stan in die Schweiz gekommen und haben gefähr­liche Flucht­routen hinter sich. 

Doch Recher­chen von das Lamm zeigen: Manche Jugend­liche fühlten sich nirgends zuvor so unsi­cher wie hier oben. Denn die Stim­mung im Zentrum ist seit Monaten angespannt.

Das Lamm hatte Einblick in interne Sitzungs­pro­to­kolle und Mail­wechsel sowie Unter­lagen des Sozi­al­amts Kanton Zürich. Wir haben zudem mit mehr als einem halben Dutzend Personen gespro­chen, die früher im Lili­en­berg gewohnt oder gear­beitet haben und mit weiteren Kontakt­per­sonen, die im Lili­en­berg tätig sind. 

Sie alle bestä­tigen: In der Unter­kunft, die beson­ders verletz­li­chen Jugend­li­chen Schutz bieten sollte, herr­schen Chaos und Gewalt.

Die Recherche wurde von einer Gruppe ehema­liger Mitarbeiter*innen ange­stossen. Sie stellten ihre Vorwürfe zusammen und wandten sich damit an die Medien. Neben das Lamm standen sie auch mit Radio SRF und dem Tages­an­zeiger in Verbin­dung, die eben­falls heute, Freitag, über die Vorwürfe berichten. Die Gruppe stand ausserdem in Kontakt mit den Gemein­de­räten Walter Angst und Luca Maggi, mit denen auch das Lamm Gespräche geführt hat.

Die ehema­ligen Mitar­bei­tenden suchen die Öffent­lich­keit aus Sorge um die teils schwer trau­ma­ti­sierten Jugend­li­chen. Diese würden im Zentrum weit­ge­hend sich selbst über­lassen. Für Betreuung bleibe keine Zeit. Ihre psychi­sche und physi­sche Gesund­heit könne ange­sichts der herr­schenden prekären Umstände nicht gewähr­lei­stet werden. 

Volle Zimmer, blanke Nerven

Die Situa­tion im Zentrum verschärft sich laut den ehema­ligen Mitarbeiter*innen vergan­genen Sommer. Die Anzahl der in der Schweiz gestellten Asyl­ge­suche nimmt zu dieser Zeit deut­lich zu. Ebenso die Anzahl unbe­glei­teter Minder­jäh­riger im Verant­wor­tungs­be­reich des Kantons Zürich.

Vor einem Jahr, im März 2021, sind noch unge­fähr 35 Jugend­liche im Zentrum Lili­en­berg unter­ge­bracht. Seit dem Früh­ling 2022 ist es gemäss den ehema­ligen Mitar­bei­tenden voll belegt. Offi­ziell kann der Lili­en­berg 90 Personen unter­bringen. Dafür biete er aber zu wenig Platz. Gemäss der Grund­risse, die das Lamm vorliegen, gibt es 35 Schlaf­zimmer. Die meisten sind zwischen 12 und 15 Quadrat­meter gross. Durch­schnitt­lich werden sie von zwei oder drei Jugend­li­chen bewohnt. In manchen, etwas grös­seren Zimmern schlafen sogar vier Personen. Ein ehema­liger Bewohner sagt: „Wenn du dir zu zweit oder zu dritt ein so kleines Zimmer teilst, macht dich das krank.“ 

Merken würde das aber wohl niemand, sagen die ehema­ligen Mitarbeiter*innen. Denn für die 90 Jugend­li­chen seien im Lili­en­berg aktuell nicht einmal zehn ausge­bil­dete Sozialpädagog*innen ange­stellt, von denen niemand Voll­zeit arbeite. Hinzu kämen etwa gleich viele Betreu­ungs­per­sonen ohne fach­re­le­vante Ausbil­dung. Das sei zu wenig: Im Alltag bleibe kaum Zeit, um auf die Jugend­li­chen einzu­gehen, für die Ausge­stal­tung von Frei­zeit­an­ge­boten – oder einen ange­mes­senen Umgang mit Konflikten und Krisen.

Eine ehema­lige Mitar­bei­terin erzählt von ihren morgend­li­chen Runden durch das Zentrum. In der Früh­schicht habe sie alle Jugend­li­chen für die Schule geweckt. „Manche schafften es nicht aufzu­stehen, weil sie Albträume und Schlaf­stö­rungen hatten“, sagt sie. Eigent­lich müsste man sich dann über­legen, wie sie beim Aufstehen begleitet und unter­stützt werden könnten. „Aber es blieb nie Zeit, um mit ihnen zusam­men­zu­sitzen und ihnen zuzu­hören – es mussten ja noch so viele andere Jugend­liche geweckt werden“, erzählt sie. „Viele blieben dann einfach liegen.“

Eigent­lich wäre vorge­sehen, dass alle Jugend­li­chen eine Bezugs­person unter den Betreuer*innen hätten. Seit die Bele­gung des Zentrums so hoch sei, habe es nach Eintritt bisweilen aber bis zu zwei Wochen gedauert, bis ihnen eine solche Bezugs­person habe zuge­teilt werden können, sagt eine andere ehema­lige Mitar­bei­terin. Eine Sozi­al­päd­agogin sei teils für mehr als zehn Bezugs­ju­gend­liche gleich­zeitig verant­wort­lich gewesen.

Ein ehema­liger Bewohner beschreibt den Umgang mit den Betreuer*innen so: „Wenn du nicht putzt, dann kürzen sie dein Taschen­geld; wenn du nicht zur Schule gehst, kürzen sie dir das Taschen­geld; wenn du nicht tust, was sie von dir wollen, kürzen sie dir das Taschen­geld.“ Obwohl der Alkohol- und Drogen­konsum eigent­lich verboten sei, hätten viele Bewohner*innen regel­mässig drinnen geraucht und getrunken. Das Personal habe nichts dagegen unter­nehmen können. Gele­gent­lich sei dann einfach die Küche abge­schlossen worden.

Vor allem aber hat er sich nicht sicher gefühlt: Unter den 90 Jugend­li­chen habe es viele Konflikte gegeben, riva­li­sie­rende Gruppen, Schlä­ge­reien und Mobbing. Immer wieder sei die Situa­tion eska­liert. Hilfe vonseiten der Betreu­ungs­per­sonen sei ihm aber kaum je zuteil­ge­worden. „Wenn jemand richtig Ärger gemacht hat, dann haben sie einfach die Polizei gerufen“, sagt er. Gemäss zwei ehema­ligen Mitarbeiter*innen sei die Polizei durch­schnitt­lich einmal pro Monat im Lili­en­berg im Einsatz gewesen.

Der ehema­lige Bewohner sagt: „Ich habe mich während all der Jahre auf dem Weg in die Schweiz nie so unsi­cher gefühlt wie im Lili­en­berg.“ Mit Errei­chen der Voll­jäh­rig­keit hat er die Unter­kunft verlassen – eine grosse Erleich­te­rung: „Wenn es einmal einen ernsten Kampf geben sollte, dann könnte dort jemand sterben.“

Früher sei es im Lili­en­berg besser gewesen, sagt er: Mit weniger Bewohner*innen und freund­li­cheren Mitar­bei­tenden, die sich bemüht hätten. Die seien aber alle gegangen. Gemäss den Angaben der ehema­ligen Mitarbeiter*innen haben im vergan­genen Jahr 13 Mitar­bei­tende den Lili­en­berg verlassen, was für die Jugend­li­chen zahl­reiche Bezie­hungs­ab­brüche bedeu­tete. „Ich konnte die Arbeit nicht mehr bewäl­tigen“, sagt eine von ihnen. „Viele von uns haben Über­stunden gelei­stet, weil wir merkten, dass die Jugend­li­chen zu kurz kommen.“ Wenn sie recht­zeitig Feier­abend gemacht habe, dann immer im Wissen darum, dass sie einen Jugend­li­chen mit Gesprächs­be­darf sich selbst überlasse.

Dabei wären viele der im Lili­en­berg unter­ge­brachten Jugend­li­chen auf beson­ders inten­sive und vor allem profes­sio­nelle Betreuung ange­wiesen. Das sagt die Psycho­the­ra­peutin Sandra Rumpel vom Verein Family Help, der einzelne Bewohner*innen des Zentrums thera­peu­tisch behan­delt. „Man geht davon aus, dass bis zu 75 Prozent der Jugend­li­chen, die allein geflüchtet sind, unter einer Trau­ma­fol­ge­stö­rung leiden“, so Rumpel. Hinzu kämen andere psychi­sche Erkran­kungen wie Depres­sionen, Angst- und Schlafstörungen.

Vor diesem Hinter­grund wäre es umso wich­tiger, in der Pubertät vertrau­ens­volle Bezie­hungen aufbauen zu können. „Die Jugend­li­chen brau­chen Privat­sphäre, stabile Bezie­hungen und einen sicheren Raum“, sagt die Psycho­login. Anson­sten steige die Gefahr, dass sich die Trau­mata chro­ni­fi­zieren – und die jetzigen Bewohner*innen für immer begleiten. „Die erfah­rene Gewalt verheilt dann viel­leicht nie mehr und kann sich immer wieder gegen die Betrof­fenen selbst oder auch andere richten.“

Statt auf die beson­deren Bedürf­nisse der unbe­glei­teten Minder­jäh­rigen im Asyl­be­reich einzu­gehen, gelten für MNA-Zentren tiefere Stan­dards als für andere Kinder- und Jugend­heime. Laut Pfle­ge­kin­der­ver­ord­nung muss ein Doppel­zimmer minde­stens 13,5 Quadrat­meter gross sein. Und in Zürcher Jugend­heimen muss minde­stens eine Betreu­ungs­person für vier Bewohner*innen anwe­send sein. Im Lili­en­berg müssten also mehr als 22 Betreu­ungs­per­sonen die rund 90 Jugend­li­chen begleiten, und drei Viertel davon sollten über einen psycho­lo­gi­schen oder sozi­al­päd­ago­gi­schen Abschluss verfügen. Doch für den Asyl­be­reich gelten diese Regeln nicht.

Miss­ver­ständ­nisse verhindern

Ganz auf sich allein gestellt sind die Jugend­li­chen aber auch im Lili­en­berg nicht. Sie werden von Beiständ*innen vertreten, die sich für ihre Rechte einsetzen. Im Kanton Zürich über­nimmt diese Aufgabe die soge­nannte Zentral­stelle MNA, die nicht der Sicherheits‑, sondern der Bildungs­di­rek­tion unter­steht. Alle Personen, mit denen das Lamm gespro­chen hat, haben die Zentral­stelle MNA als ehrlich bemüht beschrieben.

Im Juli 2021 beklagt die Leitung des Lili­en­bergs „Probleme auf kommu­ni­ka­tiver Ebene“ zwischen Mitar­bei­tenden des Lili­en­bergs und der Zentral­stelle. Konkret: Sozialpädagog*innen hätten in Berichten zuhanden der Beiständ*innen „schlechte“ Umstände im Lili­en­berg bemän­gelt. Als Mass­nahme kommu­ni­ziert die Zentrums­lei­tung gemäss einem Proto­koll, welches das Lamm vorliegt, dass sie fortan in alle Kommu­ni­ka­tion zwischen Betreu­ungs­per­sonen und der Zentral­stelle mitein­be­zogen werden will.

Die ehema­ligen Mitarbeiter*innen sagen: „Begriffe wie ‚Mobbing‘, ‚disso­ziativ‘ oder ‚Verwahr­lo­sung‘, die verwendet wurden, um den Zustand von Jugend­li­chen zu beschreiben und entspre­chende notwen­dige Mass­nahmen aufzu­zeigen, durften in der Folge nicht mehr gebraucht werden.“ Die Leitung spricht laut Proto­koll dagegen von „lösungs­ori­en­tierter“ Arbeit.

In einer E‑Mail vom November 2021, die das Lamm einsehen konnte, infor­miert ein Mitglied der Zentrums­lei­tung die Ange­stellten über einen kurz bevor­ste­henden Besuch der Zentral­stelle MNA. In der Nach­richt wird darauf hinge­wiesen, dass zwei Küchen nicht sauber genug seien und noch gerei­nigt werden sollten, bevor der Besuch eintrifft. So sollen „Probleme“ verhin­dert werden.

Die AOZ schreibt in ihrer Stel­lung­nahme, dass die Kontrolle wich­tiger Doku­mente, etwa der Berichte zuhanden der Beistands­per­sonen, Teil des Quali­täts­si­che­rungs­pro­zesses sei: „Der Begriff ‚Verwahr­lo­sung‘ wird im profes­sio­nellen Kontext seit längerer Zeit nicht mehr verwendet und deshalb im Rahmen der Quali­täts­si­che­rung durch ein Synonym ersetzt“, schreibt die Medi­en­stelle. „Dasselbe gilt für den Begriff ‚Mobbing‘, der trotz seiner Popu­la­rität nicht für jeden Konflikt unter Jugend­li­chen zutrifft und gege­be­nen­falls durch den für die jewei­lige Situa­tion zutref­fenden Begriff ersetzt wird.“

Schnitt­blumen und eine Tiefenreinigung

Laut den ehema­ligen Mitarbeiter*innen, mit denen das Lamm gespro­chen hat, war die Zentrums­lei­tung nicht nur gegen­über der Zentral­stelle MNA darum bemüht, Probleme zu vermeiden. Sie spre­chen sogar davon, dass sie die Umstände im Lili­en­berg zu kaschieren versucht habe.

Im August 2021 führte die Firma Schiess im Auftrag des kanto­nalen Sozi­al­amts ein soge­nanntes Audit im Lili­en­berg durch. Der Besuch der Prüfer*innen wurde im Voraus ange­kün­digt. „Sobald klar war, dass sie kommen würden, wurden Vorbe­rei­tungen in Gang gesetzt“, erzählt eine ehema­lige Mitar­bei­terin. Gemäss internen Proto­kollen, die dem Lamm vorliegen, wurden die Vorbe­rei­tungen des Audits im Lili­en­berg schon im Mai, drei Monate vor dem Besuch, in Sitzungen besprochen.

Im Vorfeld des Audits sei das ganze Zentrum mehrere Tage lang intensiv gerei­nigt worden. Ehema­lige Mitarbeiter*innen sagen ausserdem, dass für den Tag des Audits Frisch­blumen im Eingangs­be­reich plat­ziert worden seien. Ausserdem seien auf einem White­board ein „Jugend­li­chenrat“ und ein Velo­aus­flug am kommenden Wochen­ende sowie ein Gesprächs­an­gebot ange­sichts der Macht­über­nahme der Taliban in Afgha­ni­stan beworben worden.

Sie sagen auch: Frisch­blumen gab es im Lili­en­berg davor noch nie. Ebenso wenig den am Tag des Audits in Szene gesetzten Jugend­li­chenrat oder das Gesprächs­an­gebot. Auch der ange­kün­digte Velo­aus­flug habe nicht statt­ge­funden. Velos seien den wenig­sten Bewoh­nern über­haupt zugäng­lich: Voraus­set­zung dafür wäre der Besuch eines Einfüh­rungs­kurses. Aber die Betreu­ungs­per­sonen, die diesen Kurs anbieten müssten, hätten dafür schon lange keine Zeit mehr.

Eine sach­ge­rechte und geplante Vorbe­rei­tung auf ein Audit werde von der AOZ nicht als Kritik ange­sehen, schreibt die Medi­en­stelle dazu. Sie sei, im Gegen­teil, ein Beleg für profes­sio­nelles Verhalten. „In allen Aufga­ben­be­rei­chen der AOZ werden Audits vorbe­reitet. Würden wir uns in unseren Insti­tu­tionen nicht auf Audits vorbe­reiten, wäre dies mit einem Schüler zu verglei­chen, der sich absicht­lich nicht auf eine Prüfung vorbereitet.“

Eine Rech­nung, die nicht aufgeht

Die poli­ti­sche Verant­wor­tung für die Betreuung und Unter­brin­gung von unbe­glei­teten Minder­jäh­rigen im Asyl­be­reich trägt die Zürcher Sicher­heits­di­rek­tion unter Regie­rungsrat Mario Fehr (Parteilos). Das Sozi­alamt, das zur Sicher­heits­di­rek­tion gehört, hat den Auftrag für den Betrieb der MNA-Struk­turen, darunter das Zentrum Lili­en­berg, 2018 öffent­lich ausgeschrieben. 

Das ist üblich. Die Unter­brin­gung von Asyl­su­chenden ist ein Markt, auf dem verschie­dene Dienstleistungsanbieter*innen um Aufträge des Kantons konkur­ren­zieren. Entspre­chend über­zeu­gend müssen ihre Bewer­bungen sein. Wich­tigste Playerin im Asyl­markt neben der öffent­lich-recht­li­chen AOZ im Besitz der Stadt Zürich ist die private, gewinn­ori­en­tierte Firma ORS. Doch um den Auftrag zum Betrieb der Unter­brin­gung von minder­jäh­rigen Asyl­su­chenden bewarb sich die AOZ allein.

Die Rahmen­be­din­gungen für den Betrieb gibt der Kanton vor: Etwa, dass im Lili­en­berg 90 Jugend­liche Platz haben sollen. Er vergütet die AOZ mit einer Pauschale für den Betrieb des Zentrums sowie einem Betrag pro Bewohner*in und Nacht. Gemäss dem öffent­li­chen Auszug aus einem Proto­koll des Stadt­rats liegt dieser Betrag bei 119.90 Franken. Für die Betreuung von „als Flücht­ling aner­kannten MNA“ kommt ein Zuschlag von 11.70 Franken pro Person und Nacht hinzu.

In den Ausschrei­bungs­un­ter­lagen von 2018 wird ausserdem fest­ge­halten, dass der AOZ „eine Mini­mal­ab­gel­tung von 50 % der Kapa­zität“ garan­tiert wird. Das heisst: Auch wenn im Lili­en­berg nur 35 Jugend­liche wohnen, zahlt der Kanton trotzdem so viel, wie wenn 45 Jugend­liche dort unter­ge­bracht würden. Darüber hinaus macht die AOZ wegen der Pauschale von rund 75’000 Franken pro Monat ein schlech­teres Geschäft, je mehr Jugend­liche dem Lili­en­berg zuge­wiesen werden.

Gegen­über Anfang 2021, als noch deut­lich weniger Jugend­liche im Lili­en­berg unter­ge­bracht waren, hat sich die Situa­tion für die AOZ also auch aus ökono­mi­schen Gründen verschärft: Unter dem Strich über­weist das Sozi­alamt der AOZ deut­lich weniger Geld pro Bewohner*in. Gemäss Berech­nungen von das Lamm werden der AOZ pro Nacht und Person mit „Flücht­lings­status“ rund 225 Franken vergütet, wenn der Lili­en­berg von nur 35 Jugend­li­chen bewohnt wird. Bei einer vollen Bele­gung liegt dieser Betrag gemäss Stadt­rats­pro­to­koll aber nur bei 159.90 Franken – also rund 30 Prozent tiefer.

Die mutmass­lich prekäre Betreu­ungs­si­tua­tion im Lili­en­berg deutet darauf hin, dass diese derzeit gelei­stete Vergü­tung bei voller Ausla­stung des Lili­en­bergs zu tief ange­setzt ist, dass die AOZ der Sicher­heits­di­rek­tion bei ihrer Bewer­bung einen zu tiefen Preis ange­boten hat. 

Sofort­mass­nahmen gefordert

Der Vertrag für den Betrieb der kanto­nalen Zürcher MNA-Struk­turen läuft Ende Februar 2024 aus. Bis dahin wird sich die Situa­tion voraus­sicht­lich nicht entspannen. Im Gegen­teil: Prognosen deuten auf eine weitere Zunahme von Asyl­ge­su­chen unbe­glei­teter Minder­jäh­riger hin. Die AOZ wird weiterhin mit den knappen finan­zi­ellen Ressourcen wirt­schaften müssen.

Die Gemein­de­räte Walter Angst (AL) und Luca Maggi (Grüne) fordern deshalb Sofort­mass­nahmen, um die Lebens­um­stände der Jugend­li­chen zu verbes­sern. Stand jetzt könne die AOZ die verein­barten sozi­al­päd­ago­gi­schen Stan­dards nicht einhalten, schreiben sie in einem State­ment: „Weil die mit dem Kanton vertrag­lich verein­barte Entschä­di­gung für die Unter­brin­gung und Betreuung von MNA viel zu tief ist.“

Sie fordern unter anderem, dass die AOZ zusätz­liche Sozialpädagog*innen enga­giert. Falls der Kanton nicht für deren Bezah­lung aufkommen wolle, soll ihr Lohn aus den Reserven der AOZ oder mit Unter­stüt­zung der Stadt finan­ziert werden. Von der Sicher­heits­di­rek­tion fordern sie die Halbie­rung der vorge­se­henen Kapa­zität des Lili­en­bergs von heute 90 auf 45 Personen. Statt­dessen sollen neue Unter­künfte geschaffen werden.

Erst am 11. Mai hat der Stadtrat einen Kredit für den Betrieb einer neuen MNA-Unter­kunft an der Affol­tern­strasse bean­tragt. Hinzu kommen 325’000 zusätz­liche Franken, die die Verpflich­tung neuer Sozialpädagog*innen in dieser Unter­kunft ermög­li­chen sollen. In seiner öffent­li­chen „Eigen­tü­mer­stra­tegie“ hat er ausserdem fest­ge­halten, dass die AOZ bis Ende 2023 keine neuen Leistungs­auf­träge von Dritten über­nehmen soll.

Das sei alles begrüs­sens­wert, sagt Walter Angst. Die zusätz­li­chen Mittel seien aber letzt­lich bloss „ein Tropfen auf den heissen Stein“. Und wenn sich die den aktu­ellen Miss­ständen im Lili­en­berg zugrun­de­lie­genden Rahmen­be­din­gungen nicht ändern würden, solle die AOZ den Vertrag mit dem Kanton für den Betrieb des Zentrums Lili­en­berg vorzeitig aufkün­digen. So oder so solle der Kanton in Zukunft auf Ausschrei­bungen im MNA-Bereich verzichten.

„Wir pflegen die Haltung, dass wir im Dialog mit den Auftrag­ge­benden unsere Sicht­weise einbringen und Verbes­se­rungen vorschlagen“, schreibt die AOZ zu den Vorwürfen der ehema­ligen Mitar­bei­tenden. So könne sie dazu beizu­tragen, „dass die Geflüch­teten während ihres Aufent­haltes in der Schweiz auf dem Wege ihrer Inte­gra­tion best­mög­lich unter­stützt werden.“ Den Mitar­bei­tenden käme dabei eine zentrale Rolle zu. Die Medi­en­stelle räumt ein, dass es der AOZ nicht immer gelinge, das Optimum für ihre Mitar­bei­tenden heraus­zu­holen – und es nach­voll­ziehbar sei, dass das zu Frustra­tionen bei ehema­ligen Mitar­bei­tenden führen könne.

Die AOZ verweist ausserdem darauf, dass das Sozi­alamt eine ausser­or­dent­liche Aufsichts­prü­fung des Lili­en­bergs veran­lasst hat. Diese Prüfung des Betriebs durch unab­hän­gige Expert*innen sei derzeit noch in Gange. Die Medi­en­stelle der Sicher­heits­di­rek­tion erklärt dazu, dass der Grund für die Prüfung „verschie­dene Beob­ach­tungen und Meldungen“ seien. Über allfäl­lige Folge­mass­nahmen werde entschieden, sobald die Resul­tate vorliegen, schreibt die Medi­en­stelle weiter. Und: „Die AOZ ist in der Pflicht, die Leistungen fach­ge­recht zu erbringen.“

„Wir pflegen die Haltung, dass wir im Dialog mit den Auftrag­ge­benden unsere Sicht­weise einbringen und Verbes­se­rungen vorschlagen – und so dazu beitragen können, dass die Geflüch­teten während ihres Aufent­haltes in der Schweiz, auf dem Wege ihrer Inte­gra­tion best­mög­lich unter­stützt werden. Die Mitar­bei­tenden der AOZ spielen dabei die zentrale Rolle, weil sie die Geflüch­teten vor Ort unter­stützen und begleiten, Ihnen gilt unsere beson­dere Aufmerk­sam­keit, weil sie im Span­nungs­feld zwischen vorge­ge­benen Rahmen­be­din­gungen, fach­li­chen Ansprü­chen und den Bedürf­nissen der Geflüch­teten arbeiten. Dies ist ein schwie­riges und heraus­for­derndes Span­nungs­feld, bei dem es auch der AOZ nicht immer gelingt, das Optimum für unsere Mitar­bei­tenden und die Geflüch­teten heraus­zu­holen. Dass dies bei ehema­ligen Mitar­bei­tenden zu Frustra­tionen führen kann, ist nachvollziehbar.

Nun zu Ihrem Fragen­ka­talog. Leider können wir teil­weise mangels Zustän­dig­keit, aber auch aus perso­nal­recht­li­chen oder Daten­schutz­gründen nicht auf alle Ihre Fragen eintreten. Im Umfeld der von Ihnen ange­spro­chen Themen läuft derzeit auch eine ausser­or­dent­liche Aufsichts­prü­fung durch unsere Auftrag­ge­berin, das Kanto­nale Sozi­alamt, deren Resultat wir mit Auskünften an die Medien nicht vorgreifen können. Danke für Ihr Verständnis.

Gerne machen wir Ihnen aber folgende Angaben, wo es uns möglich ist und wir auch vermeiden können, dass Sie beim Verfassen Ihres Beitrags von falschen Annahmen ausgehen: 

[...] *

·         Bezüg­lich des psycho­so­zialen Dien­stes (PSD): dieser bietet direkt keine Thera­pien für unsere Jugend­li­chen an, das ist auch nicht seine Aufgabe. Dafür arbeiten wir mit externen Stellen zusammen. Die Kapa­zi­täten in der Jugend­psych­ia­trie sind – wie Sie sicher auch schon gelesen haben – ausge­spro­chen knapp und lange Warte­zeiten sind nicht nur für MNA, sondern für alle Jugend­li­chen bedau­er­li­cher­weise die Norm. Bei psych­ia­tri­schen Notfall­si­tua­tion werden Über­wei­sungen in die dafür zustän­digen Struk­turen veran­lasst (psych­ia­tri­sche Kliniken, Krisen­in­ter­ven­ti­ons­ein­rich­tungen, Notfallpsychiater).

·         Bezüg­lich des ‚Heraus­strei­chens‘ von Worten aus Berichten: Die Kontrolle von wich­tigen Doku­menten durch die Zentrums- oder Team­lei­tung gehört zur Quali­täts­si­che­rung in der AOZ. Der Begriff ‚Verwahr­lo­sung‘ wird seit längerer Zeit im profes­sio­nellen Kontext nicht mehr verwendet und deshalb im Rahmen der Quali­täts­si­che­rung durch ein Synonym ersetzt. Dasselbe gilt für den Begriff ‚Mobbing, der trotz seiner Popu­la­rität nicht für jeden Konflikt unter Jugend­li­chen zutrifft, und gege­be­nen­falls durch den für die jewei­lige Situa­tion zutref­fenden Begriff ersetzt wird.

·         Eine sach­ge­rechte und geplante Vorbe­rei­tung auf ein Audit sehen wir nicht als Kritik, ist sie doch im Gegen­teil ein Beleg für profes­sio­nelles Verhalten. In allen Aufga­ben­be­rei­chen der AOZ werden Audits vorbe­reitet. Würden wir uns in unseren Insti­tu­tionen nicht auf Audits vorbe­reiten, wäre dies mit einem Schüler zu verglei­chen, der sich absicht­lich nicht auf eine Prüfung vorbereitet.“

*Drei Antworten wurden aus der Stel­lung­nahme entfernt, weil die darin ange­spro­chenen Themen nicht im Artikel erwähnt werden.

„Die betrieb­liche Verant­wor­tung für das MNA-Zentrum Lili­en­berg liegt bei der AOZ. Dem Kanto­nalen Sozi­alamt sind die Kritik­punkte betref­fend Betreu­ungs­si­tua­tion im Lili­en­berg bekannt. Die betei­ligten Stellen sind im Austausch. Aufgrund von verschie­denen Beob­ach­tungen und Meldungen hat das KSA eine ausser­or­dent­liche Betriebs­prü­fung durch unab­hän­gige Fach­ex­perten ange­ordnet. Über allfäl­lige Mass­nahmen wird entschieden, wenn die Resul­tate vorliegen. Die AOZ ist in der Pflicht, die Leistungen fach­ge­recht zu erbringen. Aufsichts­be­suche finden regel­mässig statt.

Wir haben den Auftrag ordent­lich im Jahr 2018 ausge­schrieben. Die AOZ als erfah­rene Fach­or­ga­ni­sa­tion erhielt gestützt auf das im Submis­si­ons­ver­fahren einge­reichte Betreu­ungs­kon­zept, das auch die Infra­struktur umfasst, und die offe­rierten Tarife den Zuschlag. In den letzten Monaten sind vermehrt MNA in die Schweiz gekommen. Vor einem Jahr war der Lili­en­berg zur Hälfte belegt, inzwi­schen sind rund 90 Jugend­liche im Lili­en­berg unter­ge­bracht. Schwan­kungen sind normal im Asylbereich.“


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