Es war ein warmer Sommerabend und Spanien spielte an der Männerfussball-Europameisterschaft 2021 gegen Polen. Für einmal interessierte das niemand, denn zeitgleich fand ein viel wichtigeres Endspiel statt: Das Kulturlokal, der neuralgische Punkt unserer Kleinstadtjugend, feierte seinen letzten Abend.
Der Ort, an dem das Feierabendbier irgendwann unweigerlich mit Spirituosen zusammenfloss und wo man sich immer ein bisschen so fühlte, als sei man nur noch ein angeregtes Gespräch im verqualmten Fumoir davon entfernt, diese verkorkste Welt aus den Angeln zu heben – diese Bar also schloss nach diesem Wochenende für immer, und für ein letztes Austrinken waren alle gekommen.
Es war erst 23 Uhr und der Platz vor dem Kulturlokal füllte sich mit immer mehr Menschen. Ich entschloss mich, früher nach Hause zu gehen, weil am nächsten Tag ein Familienfest anstand. Auf dem Heimweg ging ich über einen Parkplatz, den ich schon tausendmal überquert hatte.
Zwei junge Männer – beide vielleicht 15 Jahre alt – griffen mich von hinten an. Sie schlugen auf mich ein, kickten mich zu Boden, so dass ich ins Krankenhaus eingeliefert werden musste.
45 Minuten für die Geschichtsbücher
Rückblende: Es ist das Jahr 2001 im Studio 5 im Leutschenbach, Zürich-Oerlikon. In rotem Pullover steht der Moderator Daniel Fohrler vor seinem jungen Publikum und moderiert eine Sendung an. Der Titel: „Jugend und Gewalt – ich schlag zu“.
„Die Gewaltbereitschaft unter Jugendlichen nimmt zu, auch bei uns in der Schweiz. Manchmal reicht schon ein schiefer Blick oder die gleiche Jacke und das kann bereits Grund genug sein, dass sich zwei auf das Dach geben“, sagt Fohrler, bevor er seinen ersten Gast ins Studio ruft – den 18-jährigen Osman.
Von ihm will er wissen, wann er denn zuschlage. „Wänn mich eine blöd aluegt, Mann, dänn isch nüme guet“, antwortet er. Was folgt sind 45 Minuten Chaos und ein endloser Strom an Zitaten, die bis heute fester Bestand der Schweizer Populärkultur sind.
Die Sendung steht heute stellvertretend für zwei Phänomene der zyklisch wiederkehrenden Diskussion über Jugendgewalt.
1) Die moralische Panik rund um das Thema: Im selben Jahr, in dem Fohrler mit seiner entglittenen Sendung Fernsehgeschichte schreibt, fordert die FDP eine „Taskforce Jugendgewalt“. Die damalige FDP-Sprecherin sagt gegenüber der Aargauer-Zeitung, man könne die Zunahme an Jugendgewalt nicht mit Zahlen belegen. „Dass die Gewalt unter Jugendlichen zunimmt, ist eine Wahrnehmung.“
Ein Jahr später wird eine Studie das Gegenteil belegen: Der Anteil der Verurteilungen im Zusammenhang mit Gewaltdelikten war zwischen 1999 und 2002 stabil, ein Anstieg der Jugendgewalt nicht erkennbar.
2) Die Orientierungslosigkeit im Umgang mit Jugendgewalt in der Schweiz.
Fohrler und seine Gäste versuchen sich an verschiedenen Erklärungen: Sind es vor allem ausländische Jugendliche, die gewalttätig sind? Ist es der Hip Hop, der die jungen Menschen zu Gewalttätern macht? Oder hat es was mit „da inne, da Herz“ zu tun?
Was niemand fragt: Warum prahlen alle Männer auf dem Podium mit ihren Gewalterfahrungen, während die beiden jungen Frauen kaum zu Wort kommen?
Fehlerhafte Vorbilder
Besonders letzterer Punkt – die einfache Erkenntnis, dass Gewalt in erster Linie ein Männlichkeitsphänomen ist, unter dem alle Geschlechter, aber insbesondere FINTA-Personen (Frauen, inter, non binäre, trans und agender Personen) leiden – ist zwar heute dank viel feministischer Aufklärungsarbeit bekannter, aber die Schlüsse daraus sind immer noch unbeholfen.
Das zeigt sich deutlich in der aktuellen gesellschaftlichen Diskussion über Jugendgewalt. Diese hat tatsächlich in den letzten Jahren zugenommen: Zwischen 2009 und 2015 hatte sich für die Kerngruppe der Jugendlichen, die 15- bis 17-jährigen, die Gewalt noch halbiert, doch 2015 steigt sie wieder. In Zürich etwa verübte in diesem Jahr im Schnitt jeden Tag ein Minderjähriger eine schwere Straftat. 88 Prozent der Beschuldigten sind in der Statistik als männlich erfasst.
Das Magazin der NZZ am Sonntag fragte erst kürzlich, ob wir als Gesellschaft vor lauter Girlpower die jungen Männer vergessen hätten. Dies wäre grundsätzlich ein Fortschritt, weil man über Männlichkeit spricht, wäre da nicht der herablassenden Ton gegenüber „Girlpower“.
Was es brauche, so der Autor am Ende, seien männliche Vorbilder. „Diese Jungs brauchen jemanden zum Reden, der vom Gleichen spricht wie sie.“ Auch wenn der Vorschlag gut gemeint sein mag, ist er erschreckend naiv. Er suggeriert, dass eine Gesellschaft, die nach patriarchalen Geschlechterrollen strukturiert ist und nach diesen Privilegien Macht und Ressourcen verteilt sich selbst reformieren kann, also Männlichkeiten als Vorbilder hervorbringen könne, die weder patriarchal sind noch auf Ungleichheit basieren.
Dabei erwartet man von einem Feuerwerfer auch nicht, dass er einen Brand löschen kann. Es gibt nämlich einen Grund, warum bei männlichen Vorbildern – man nehme als Beispiele Johnny Depp oder Will Smith – irgendwann der Schleier verrutscht und die rohe Gewalt freilegt: Wer erfolgreich an der Performance „Männlichkeit“ teilnehmen will, tut das mit Gewalt.
Die deutsche Soziologin Sylka Scholz beschreibt, wie körperliche Gewalt eine Ressource für Männlichkeit darstellt. Gegenüber FINTA-Personen stellt sie Dominanz, Erniedrigung her – unabhängig davon, wie das Gericht über Johnny Depp urteilen wird, ist sein Auftritt im Gerichtsaal, der live übertragen wird, und die Reaktion seiner Fans nicht anders als einen Versuch, Amber Heard in aller Öffentlichkeit zu erniedrigen.
Homosoziale Gewalt – also Gewalt zwischen verschiedenen Formen von Männlichkeiten – hat gemäss Scholz hingegen die Funktion, Männlichkeiten zu hierarchisieren. Wenn Will Smith auf die Bühne der Oscar-Verleihung stürmt und den Komiker Chris Rock für einen geschmackslosen Witz über Smiths Partnerin vor der Weltöffentlichkeit ohrfeigt, tut er genau das: Er rückt die Hierarchie wieder zurecht, die er durch einen Witz bedroht sah.
Wie Scholz schreibt, wird diese homosoziale Gewalt vor allem von jungen Männern zwischen 16 und 20 angewendet. In der Kerngruppe der Jugendgewalt, also.
Nachbeben
Zurück zur Gegenwart, in der ich inzwischen nicht mehr in der Kleinstadt, sondern in der Stadt lebe, die so gern Grossstadt wäre, aber dann doch um den Schattenwurf von Hochhäusern streitet.
Erst kürzlich hatte ich eine Panikattacke, als ein betrunkener Mann sich mir konfrontativ in den Weg stellte. Ich bin auf der Stelle eingefroren, unfähig, mich zu bewegen. Eine Freundin, mit der ich unterwegs war, konnte zum Glück einschreiten.
Was macht es mit der eigenen Männlichkeit, wenn Gewalt zwar integral zur Performance ‘Mann’ gehört, aber allein schon ein paar laute (männliche) Stimmen auf dem Heimweg einen so lähmen, dass man sich nicht selbst schützen könnte, geschweige denn andere?
Wenn heute jemand in der Dunkelheit hinter mir hergeht, werde ich nervös, mein Herz pocht. Demonstrationen meide ich heute, wenn ich meine Kleinstadt besuche, umgehe ich den Parkplatz.
Ich bin heute viel sensibler auf scheinbar alltägliche und unverfängliche Ausdrucksformen von Gewalt: Warum hat die WOZ einen Sticker mit dem Slogan „Woz grad eine?!“ produziert, der bei meinen Nachbarn an der Türe klebt? Wieso werden Ohrfeigen in Serien als comic-relief dargestellt anstatt als die Grenzüberschreitung, die sie sind? Und wie erklär ich meiner Freundin, dass man natürlich gegen Nazis auf die Strasse gehen muss, ich aber nicht mitkommen kann?
Korrektur: In einer früheren Version dieses Textes stand, dass Italien gegen Kroatien an der Männerfussball-Europameisterschaft spielten. Tatsächlich spielte an diesem Abend aber Spanien gegen Polen.
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