Berlin vs. Zürich: Wieso ich die direkte Demo­kratie trotzdem liebe

Seit einem Jahr lebe ich nun in Berlin – genug, um die alte Heimat Zürich mit meinem neuen Zuhause zu verglei­chen. Im Finale geht es um Politik. Denn erst in Berlin habe ich entdeckt, weshalb ich die direkte Demo­kratie so mag. Auch wenn die AfD das auch tut 
Direkter geht’s fast nicht: Im Kanton Glarus treffen sich auch heute noch alle stimmberechtigten BürgerInnen auf dem Dorfplatz, um über Gesetzes- und Verfassungsänderungen sowie über die Höhe des Steuersatzes zu beraten und abzustimmen (Foto: Kanton Glarus, Samuel Trümpy Photography).

Teil I Berlin vs. Zürich: Abfall­tren­nung deluxe in Berlin

Teil II Berlin vs. Zürich: Schwach­strom-Bio gibt’s überall. Aber wo gibt’s mehr davon?

Teil III Berlin vs. Zürich: Wo kommt man besser voran, ohne die Luft zu verpesten?

Teil IV Berlin vs. Zürich: Berlin vs. Zürich: In welcher Stadt gibt’s mehr Natur?

Ob in der Berliner Eckkneipe oder mit einem Quöll­frisch an der Zürcher Seepro­me­nade: Poli­ti­sche Diskus­sionen gehören in beiden Städten zum Feier­abend­bier dazu. Aber während ich in Berlin das Gefühl habe, mona­te­lang über dasselbe Zeug zu reden, ohne zu neuen Erkennt­nissen zu kommen, war das in Zürich anders: Da wech­selten in derselben Zeit ganz selbst­ver­ständ­lich mehr­mals die Themen, zu welchen man seine Meinungen beim Panache rausposaunte.

Der Grund: Alle paar Monate flat­tert ein neues Abstim­mungs­cou­vert in alle Brief­kä­sten. Als ich im Früh­jahr 2017 in der Limmat­stadt war, redete die ganze Schweiz über die Ener­gie­stra­tegie. Bei meinem näch­sten Besuch im Spät­sommer kam man bei keiner bier­se­ligen Runde an der Renten­re­form vorbei. Dank der direkten Demo­kratie führte ich in meinem Zürcher Freun­des­kreis immer wieder geniale Gespräche zu ständig wech­selnden Themen.

Die Abstim­mungs­cou­verts takten die poli­ti­schen Diskus­sionen. Das ist mir vorher nie aufge­fallen. Dank dem Kreuz­chen, das man setzen muss, reden alle für kurze Zeit über dasselbe, um zu einer Entschei­dung zu kommen. Und wir versu­chen zumin­dest, einander zuzu­hören. Wie genial!

Auch die Rechts­ra­di­kalen lieben die direkte Demokratie

Und trotzdem verstricke ich mich in Berlin immer wieder in Diskus­sionen über das Schweizer System, aus denen ich oft geknickt heraus­gehe. Entweder muss ich eine Erklä­rung dafür abgeben, weshalb die rechts­ra­di­kale Alter­na­tive für Deutsch­land (AfD) auf ihren Plakaten damit wirbt, dass sie das Schweizer System in Deutsch­land einführen will — oder mich gleich konkret dafür recht­fer­tigen, dass es die direkte Demo­kratie war, die in der Schweiz Mina­rette verboten und ein paral­leles Rechts­sy­stem für Ausländer einge­führt hatte. Beides ist nicht sehr angenehm.

Ganz unan­ge­bracht ist die Kritik ja auch nicht. Manchmal entscheidet das Volk nicht zum Wohle aller. Wie können wir die Schwä­cheren in diesem System schützen — all dieje­nigen, die nie die Mehr­heit stellen werden, weil sie eben Minder­heiten sind? Ja, wer soll über­haupt mitreden dürfen? Die Regierten regieren sich selbst — das wäre das Herz­stück der Demo­kratie. Wer von den Regeln, über die gemeinsam entschieden wird, betroffen ist, soll auch mitreden dürfen beim Aufstellen dieser Regeln. Aber einE Schweizer Stimm­bür­gerIn wird nie direkt von den neuen Ausschaf­fungs­ge­setzen betroffen sein. Auf der anderen Seite hätte die Annahme der Fair-Food-Initia­tive wohl minde­stens so viel Einfluss auf das Leben der Kakao­bau­ern­fa­milie in Peru wie auf das von Herrn und Frau Schweizer. Aber abstimmen darf sie trotzdem nicht. Was das Schweizer Volk entscheidet, betrifft schon lange nicht mehr nur das Schweizer Volk. Haben wir wirk­lich das Recht, das Leben anderer so zu beein­flussen, ohne ihnen eine Stimme zu geben? Ist das dann noch Demo­kratie? (Dazu hat sich übri­gens der Philo­soph Arash Abiz­adeh in dem empfeh­lens­werten Aufsatz „Geschlos­sene Grenzen, Menschen­rechte und demo­kra­ti­sche Legi­ti­ma­tion” schon mehr als nur einen Gedanken gemacht.)

Klar ist: Das Schweizer System ist nicht perfekt. Aber sich damit ausein­an­der­zu­setzen und als Stimm­bür­gerIn Verant­wor­tung zu über­nehmen: Auch das macht es eben aus. Und deshalb geht dieser Punkt an Zürich.

Zürich gewinnt! — und ich komme heim

Nachdem ich die beiden Städte nun in fünf Punkten vergli­chen habe,  ist der Fall klar: Zürich gewinnt das kleine Städ­te­duell! Es steht, mit einem „unent­schieden”,  3 : 1. Und das ist auch gut so. Denn das ist ein guter Grund, wieder zurück­zu­kehren in die Limmat­stadt und das Kapitel Berlin vorerst zuzu­schlagen. Ich freue mich auf Zürich und das, was mich dort erwartet. Denn es ist Zeit für Verän­de­rung. Deshalb werde ich auch noch andere Kapitel zuschlagen. Doch mehr will ich erst im näch­sten Beitrag verraten.


Jour­na­lismus kostet

Die Produk­tion dieses Arti­kels nahm 25 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 1560 einnehmen.

Als Leser*in von das Lamm konsu­mierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demo­kratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produk­tion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rech­nung sieht so aus:

Soli­da­ri­sches Abo

Nur durch Abos erhalten wir finan­zi­elle Sicher­heit. Mit deinem Soli-Abo ab 60 CHF im Jahr oder 5 CHF im Monat unter­stützt du uns nach­haltig und machst Jour­na­lismus demo­kra­tisch zugäng­lich. Wer kann, darf auch gerne einen höheren Beitrag zahlen.

Ihr unter­stützt mit eurem Abo das, was ihr ohnehin von uns erhaltet: sorg­fältig recher­chierte Infor­ma­tionen, kritisch aufbe­reitet. So haltet ihr unser Magazin am Leben und stellt sicher, dass alle Menschen – unab­hängig von ihren finan­zi­ellen Ressourcen – Zugang zu fundiertem Jour­na­lismus abseits von schnellen News und Click­bait erhalten.

In der kriselnden Medi­en­welt ist es ohnehin fast unmög­lich, schwarze Zahlen zu schreiben. Da das Lamm unkom­mer­ziell ausge­richtet ist, keine Werbung schaltet und für alle frei zugäng­lich bleiben will, sind wir um so mehr auf eure soli­da­ri­schen Abos ange­wiesen. Unser Lohn ist unmit­telbar an eure Abos und Spenden geknüpft. Je weniger Abos, desto weniger Lohn haben wir – und somit weniger Ressourcen für das, was wir tun: Kriti­schen Jour­na­lismus für alle.

Ähnliche Artikel