Am 24.06.2020 wurde vor dem Zürcher Bezirksgericht ein 33-jähriger Stadtpolizist vom Vorwurf der versuchten Tötung freigesprochen. Der Mann hatte 2015 elf Schüsse auf einen unter schizophrener Psychose leidenden Mann äthiopischer Herkunft abgegeben, der sich mit einem Fleischermesser den fünf Beamten genähert hatte. Insgesamt sind 13 Schüsse auf den Mann abgegeben worden, sechs Kugeln trafen ihn.
Der Freispruch wirft Fragen auf: Fragen zur Verbindung von Staatsanwaltschaft und Polizei und Fragen dazu, ob eine neutrale Rechtsprechung in Bezug auf staatliche Sicherheitskräfte überhaupt möglich ist. Der Anwalt des Mannes kritisiert jedenfalls eine für die Beamten „wohlwollende Untersuchungsführung“. Vor allem aber wirft der Fall Fragen dazu auf, warum ein Polizist überhaupt in eine Position gerät, in der er es für nötig erachtet, elf Schüsse auf einen psychisch beeinträchtigten Menschen abzugeben.
Fast satirisch erscheint im Bezug dazu das Statement des Richters bei der Urteilsverkündung: „Unsere Polizisten sind keine Rambos, keine Kampfmaschinen. Die Polizisten waren in dieser gefährlichen Situation genauso überfordert wie jemand, der nicht in der Polizeischule war. Kein Lehrbuch kann einen darauf vorbereiten.“
Es stellt sich unweigerlich die Frage: Worauf werden die mit Schutzwesten ausgerüsteten, mit Pfefferspray und Schlagstock bewaffneten Beamten denn sonst vorbereitet? Und wäre es nicht sinnvoll, diesen Lehrplan zu überdenken, wenn sie in solch einer Situation zur Ultima Ratio greifen? Auch wenn der Mann laut Aussage der Beamten weder auf Pfefferspray noch auch Schussdrohungen reagiert hatte: 13 Schüsse? Ist es nicht Teil der Grundausbildung jeder Kaufhaus-Security, Menschen mit Messern zu entwaffnen? Es geht hier nicht darum, dem Beamten die Todesangst abzusprechen, aber darum, auf das einmalige Privileg, in dieser Situation sanktionsfrei zur Waffe greifen zu können, aufmerksam zu machen.
Sozialarbeiter*innen etwa müssen jederzeit damit rechnen, von renitenten Personen tätlich – teilweise mit Waffengewalt – angegriffen zu werden. Pfleger*innen, nicht nur im psychiatrischen Bereich, werden regelmässig Opfer tätlicher Übergriffe und massiver Aggressionen. Betreuer*innen werden geschlagen, Busfahrer*innen bedroht, Reinigungskräfte bespuckt, beschimpf, erniedrigt – doch keine dieser Berufsgruppen hat das Recht, körperlich mehr Zwang auszuüben als absolut notwendig, geschweige denn Waffen zu führen und zu gebrauchen.
(K)ein Job wie jeder andere
Das Verhältnis vieler Bürger*innen zu Polizist*innen ist seltsam. Zum einen sind Polizist*innen etwas ganz Besonderes, ausgestattet mit einer einzigartigen Autorität: Sie sind Beamte mit Hochglanz. Aber obwohl die Stellung der Polizist*innen eine so besondere ist, wird von ihnen paradoxerweise doch nicht erwartet, dass sie sich anders – eben: besonders – verhalten. Ein*e Polizist *in ist eben „auch nur ein Mensch.“ Auch von Vorurteilen geplagt und auch im Stolz verletzbar, auch mal etwas grob und halt auch mal dem Kontrollverlust ausgeliefert. Gruppendynamiken, ideologische Schlagseiten und Mauscheleien innerhalb des Korps? Geschenkt! Und: Sie haben auch eine politische Meinung. Menschlich eben, gesellschaftlich voll in der Mitte.
Dass sich hier ein unüberwindbarer Widerspruch zur einzigartgen Autoritätsposition mit Gewaltmonopol bildet, ist offensichtlich. Es geht eben nicht, dass „ganz normale Menschen“ ein Gewaltmonopol innehaben: weil sie auch mal die Kontrolle verlieren und weil sie politische Interessen haben. Und diese politischen Interessen sind nicht einmal besonders durchschnittlich.
Es ist kaum Zufall, dass die AfD in Deutschland gerade bei der Polizei viel Zulauf geniesst, dass innerhalb verschiedener Polizeistrukturen immer und immer wieder rechte Zellen, Chats, Gedanken und rechtsextreme Prepper-Gruppen öffentlich bekannt werden – aber nicht linke oder islamistische, was eine generelle Affinität der Polizeibeamten zu sogenanntem Extremismus im Sinne der Hufeisentheorie eher unwahrscheinlich erscheinen lässt.
Zahlreiche personelle wie ideologische Überschneidungen zwischen Polizei und rechten Gruppen aller Couleur fassen Matthias Meisner und Heike Kleffner im Buch Extreme Sicherheit: Rechtsradikale in Verfassungsschutz, Bundeswehr und Justiz anhand mehrerer Dutzend detailliert und präzise aufbereiteter „Einzelfälle“ zusammen. Auch wenn der Fokus des Buches auf Deutschland liegt und bisher keine entsprechende Aufarbeitung für die Schweiz existiert, so wäre es dennoch naiv anzunehmen, die Situation „bei uns“ sei eine ganz andere, zumal es auch innerhalb der beschriebenen Gruppen immer wieder Schweiz-Verbindungen gibt.
Die Kernaussage von Meisners und Kleffners Buch: Polizist*innen sind keine RoboCops, sondern Menschen mit Ideologien, Ansichten, Zielen und Werten. Mit einer Charakterdisposition, die sie dazu veranlasst hat, einen Beruf auszuüben, der „das Gute“ gegen „das Böse“ vertritt, und „das Recht“ mit Gewalt durchsetzt. Es ist mehr als fragwürdig, das staatliche Gewaltmonopol in die Hände einer solchen kaum demokratisch legitimierten Institution zu legen.
Gesetze durchsetzen – immer
Auf die Frage hin, ob es in der Schweiz Polizeigewalt gebe, antwortet Rolf Zopfi: „Selbstverständlich.“ Und ergänzt: „Ein Teil dieser Gewalt passiert im Rahmen der Schweizer Gesetzgebung, ein anderer Teil ist das, was dann als unverhältnismässig betitelt wird.“ Das Problem sei das grosse Ganze.
Zopfi ist Sprecher von augenauf, einer nicht-staatlichen, unabhängigen Menschenrechtsorganisation mit aktiven Gruppen in mehreren Schweizer Städten, die Betroffene von behördlichen Übergriffen, Diskriminierungen und Menschenrechts- oder Grundrechtsverletzungen unterstützt und entsprechende Öffentlichkeitsarbeit leistet.
Rolf Zopfi entschuldigt gewalttätige Beamte keineswegs, aber er verortet zumindest einen Teil des Problems nicht bei der Polizei selbst, sondern einen Schritt weiter oben: bei der Gesetzgebung und innerhalb der Gesellschaft, die diese zu grossen Teilen aktiv mitträgt.
„Nur schon die Gesetze sind rassistisch motiviert. Wenn die Polizei diese durchsetzt, setzt sie rassistische Gesetze durch, die im Rahmen des geltenden Rechtsstaats aber legal sind. Ein rassistischer Grundkonsens in der Bevölkerung führt zu rassistischer, aber legitimer Polizeiarbeit.“ Als Beispiele hierfür nennt Zopfi etwa Gesetze im Bereich der sogenannten „Migrationspolitik“ oder aufenthaltsstatusbezogene Gesetze.
Die Ausführung dieser Gesetze führe schliesslich zu einer gefährlichen Eigendynamik: „Viele Polizeikorps würde ich zu einem grossen Teil als latent rassisch bezeichnen. Wegen rassistischer Gesetze haben sie überdurchschnittlich oft mit PoC als Täter*innen zu tun, was auch Vorurteile bestätigt und neue schafft.“
Lakonisch fragt Zopfi: „Kann man ein Polizeikorps so ausbilden, dass es keine rassistischen Übergriffe gibt, in einer Gesellschaft, die einen rassistischen Grundkonsens hat?“ Die Polizei habe nun mal die Funktion, die Gesetze durchzusetzen.
Und welche Mechanismen bleiben Betroffenen? „Hier funktioniert der Rechtsweg in der Schweiz überhaupt nicht“, sagt Zopfi. „Die Polizei selbst hat eine inexistente Fehlerkultur. Jegliche Vorwürfe wegen übermässiger Gewaltanwendung werden immer verneint bis zu dem Moment, wenn Beweise vorliegen – und dann ist es ein Einzelfall.“ Hinzu kommt: Der Moment, in dem etwas bewiesen werden kann, ist äusserst selten: „Beweisführung läuft über die Justiz – und wenn es um die Beurteilung von Polizeigewalt geht, sind die Mechanismen dysfunktional. Justiz und Polizei stossen schliesslich ins selbe Horn und sehen sich als solidarische Einheit.“
Natürlich sei es theoretisch möglich, eine Klage gegen einen oder mehrere Beamte bis vors Bundesgericht zu tragen, aber: „Man muss es sich leisten können und trägt das Risiko, am Ende bis zu 100’000.- Franken Anwalts- und Verfahrenskosten bezahlen zu müssen. Mir ist kaum ein Fall bekannt, wo ein*e Bürger*in gegen die Polizei gewonnen hat.“ In der Schweiz gebe es nicht einmal eine systematische Erfassung von Klagen und Beschwerden gegen Beamte.
„Die Idee der Neutralität ignoriert sowohl die Geschichte als auch die funktionale Natur der Polizei“, sagt der Autor und Vordenker der Abschaffung der Polizei (The End of Policing) Alex Vitale in einem Interview mit der Wochenzeitung.
Im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten, wo die Rolle der Polizei in den Südstaaten primär darin lag, flüchtige und ungehorsame Sklaven zu sanktionieren, ist die Geschichte der Schweizer Polizei nicht auf solche grobe Menschenrechtsverstosse zurückzuführen. „Wie sich aus der Warenkontrolle auf mittelalterlichen Märkten und dem Vertreiben von Bettlern aus dem Staatsgebiet die moderne Polizei entwickelte“, erklärt der Historiker Alexander Rechsteiner in der Einleitung zu einem Artikel auf watson.ch, in dem er die Geschichte der Polizei in der Schweiz nachzuzeichnen versucht.
Rechsteiner schreibt: „Die Geschichte der Polizei in der Schweiz ist auch die Geschichte der Entstehung des modernen liberalen Staates. Der Beruf des Polizisten im modernen Sinn existiert somit erst seit rund 150 Jahren. Mord, Betrug und Diebstahl sind hingegen so alt wie die Menschheit und ebenso die Funktion des Polizisten. Während Jahrhunderten waren die Grenzen zwischen Verwaltung, Militär, Polizei und Justiz fliessend und die Polizeigewalt oft in der Hand der regierenden Elite oder gar eines einzelnen Machthabers.“
Auch wenn die Schweizer Polizei keine Sklavenhaltung massregelte, so diente sie ganz im Sinne ihres Wesens schon immer der Kontrolle des öffentlichen Raums und der Massregelung der Bevölkerung im Sinne eines oder mehrerer Herrschenden. Etwas platt ausgedrückt ist es auch heute noch so: Zwar basiert das Handeln der Beamten oft auf einem sogenannten gesellschaftlichen Grundkonsens; in den Fokus der Kriminalisierung geraten so aber all jene, die bei der Schaffung dieses Konsens aussen vor gelassen werden: also jene, die nicht mitreden können oder dürfen.
Transformative Gerechtigkeit statt Zwang
Zur Polizeiarbeit gebe es keine Alternativen, heisst es oftmals. Das ist in der bestehenden Rechtsordnung wohl wahr – und eine funktionierende Gesellschaft ohne Polizei, würde diese von jetzt auf morgen verschwinden, kaum vorstellbar.
Am schwersten vorstellbar scheint das Verschwinden der Polizei aus dem öffentlichen Raum, aber hier wäre sie wohl am einfachsten ersetzbar. Anders im Bereich der schweren Kriminalität. Rolf Zopfi von augenauf: „Ich finde, wir brauchen etwas wie die Polizei, also irgendeine Institution, die grundsätzliche Gesetze durchsetzt, die mit den Menschenrechten zusammenhängen. Recht auf Unversehrtheit, Recht auf Integrität etc.“ Das könne man Polizei nennen – oder auch anders.
Alternativen zur klassischen Polizeiarbeit samt damit einhergehender Gefängnisstrafen und gesellschaftlicher Isolation werden momentan in den USA wieder laut diskutiert; sie sind aber keineswegs neu. Die Rede ist etwa vom Prinzip der transformativen Gerechtigkeit, einer nachhaltigen Konfliktbewältigung, das gemäss der Aktivistin Meral Kaya primär auf die Arbeit selber marginalisierter und kriminalisierter Gruppen wie WoC, PoC oder Transpersonen zurückzuführen ist, also all jener, die oftmals aus dem gesellschaftlichen Grundkonsens ausgeschlossen werden. In einem Interview mit der Wochenzeitung beschreibt Kaya das Prinzip wie folgt: „‚Transformativ‘ beschreibt den Weg: Das Ziel ist eine Veränderung der Situation. Die Gerechtigkeit wiederum bezieht sich auf die Person, die Gewalt erfahren hat. Wie können wir dieser Person helfen und ihre Heilung unterstützen, und zwar ohne dass die Gewalt ausübende Person einfach nur bestraft und weggesperrt wird?“
Fragen, die in der Schweiz nur marginal diskutiert werden. Und in der Praxis keine Anwendung finden. Amtsmissbrauch und Polizeiwillkür, rechte Tendenzen und racial profiling gibt es nicht nur in den USA, sondern auch in der Schweiz. Wen das überrascht, der oder die hat das Privileg, jener vermeintlichen Mehrheitsgesellschaft anzugehören, die vor Polizeigewalt keine Angst haben muss.
Natürlich ist es ein wichtiger Unterschied, ob die Polizei dazu eingesetzt wird, schwerwiegende Kriminaldelikte wie Menschenhandel, Zwangsprostitution, Mord oder Vergewaltigung zu ermitteln – oder ob sie den öffentlichen Raum kontrolliert und ihre eigenen moralischen und politischen Ansichten mit der Staatsmacht im Rücken durchsetzt.
Feinfühlig zu differenzieren und Aussagen zu formulieren wie „nur bestimmte Teile der Polizei…“ nützen dennoch wenig. Das Problem sind nicht einzelne Beamt*innen, das Problem ist die Polizei als Institution, die Gesetzgebung, auf die sie sich berufen darf, sowie das offensichtlich fehlende Korrektiv.
Entsprechend geht es auch nicht darum, die Polizei von heute auf morgen aufzulösen, sondern sich aktiv damit zu beschäftigen, Prozesse in Gang zu setzen und Alternativen aufzuzeigen. Sich vorbehaltlos eine andere Gesellschaft vorzustellen und sich auch zu fragen: Was würde sich für mich ändern, wenn die Gelder der Polizei bei der Prävention landen würden, bei der Sorgearbeit und der Jugendkultur, bei der Integration geflüchteter Menschen, bei Beratungsstellen, unabhängigen Institutionen und den Sozialdiensten. Die Kantonspolizei Zürich kostet jedes Jahr 426 Millionen Franken, die Stadtpolizei 346 Millionen Franken. Ja, was würde sich dann ändern?
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