Fast sechs Jahre ist es her, seit der französische Minister Laurent Fabius mit einem kleinen grünen Hammer den Abschluss des Pariser Klimaabkommens besiegelte und der mit Verhandlungsteilnehmer:innen gefüllte Saal in tosenden Applaus ausbrach.
Als Gegenstimme zu diesen Bildern der hoffnungsvollen Überschwänglichkeit bleiben die lautstarken Proteste in den Strassen von Paris: Vor dem Abschluss des Abkommens demonstrierten Zehntausende Menschen trotz Ausnahmezustand und massiver Polizeipräsenz.
Wurden die Appelle erhöht, kamen die Entscheidungsträger:innen im Dezember 2015 zur Vernunft?
Vom 31. Oktober bis zum 12. November findet die 26. Klimakonferenz in Glasgow statt. Als Vorbereitung für die Verhandlungen veröffentlichte das UNO-Umweltprogramm ihren Emission Gap Report. Dieser untersucht, inwiefern sich die prognostizierte Emissionsentwicklung mit dem deckt, was zur Einhaltung der Klimaziele erforderlich wäre. Er ermisst sozusagen die Kluft zwischen Worten und Taten.
Der Bericht kommt zum unmissverständlichen Schluss, dass die Einhaltung des in Paris vereinbarten 1.5°C‑Ziels einen sofortigen Rückgang der Produktion fossiler Energien erfordert.
Tatsächlich aber planen alle Staaten zusammengenommen bis 2030 mehr als doppelt so viele fossile Energieträger aus dem Boden zu holen, als für dieses Klimaziel zulässig wäre. Seit Beginn der Pandemie haben die G20-Staaten weitere 300 Milliarden Dollar in fossile Aktivitäten investiert – mehr als in erneuerbare Energien. Von Einsicht ist man an den Schalthebeln der Macht also weit entfernt – auch sechs Jahre nach Paris.
Dieser systematischen Untätigkeit zum Trotz besteht ein wichtiger Teil des Klimaaktivismus darin, an die Entscheidungsträger:innen zu appellieren: Man ruft wissenschaftliche Fakten in Erinnerung, appelliert an den gesunden Menschenverstand der Machtträger:innen. „Die Wahrheit zu sagen“ war dann auch die Hauptforderung von Extinction Rebellion an die Schweizer Regierung, als sie Anfang Oktober in Zürich eine Blockade-Aktion durchführte.
Aber solche Appelle übersehen die wirtschaftlichen und politischen Strukturen, die sich einem klimapolitischen Kurswechsel hartnäckig entgegenstellen. So lassen sie bestehende Machtungleichgewichte unangetastet.
Man weiss längst Bescheid
Eine nüchterne Analyse der letzten 50 Jahre zeigt: Nicht Unwissen ist die Hauptursache für klimapolitische Untätigkeit. Vielmehr haben die Staaten und die grossen Konzerne wider besseres Wissen nach Erdöl gebohrt, Kohle ausgegraben und Wälder abgeholzt. Eine jüngst veröffentliche Erforschung der Archive des französischen Erdölkonzerns Total ergab, dass der Konzern bereits 1971 von den Gefahren des Klimawandels wusste.
Der für die Warnung verantwortliche Wissenschaftler prognostizierte damals bis circa 2010 eine CO2-Konzentration von 400ppm. Das war erstaunlich akkurat: Erstmals wurde am 9. Mai 2013 auf dem Mauna Loa in Hawaii eine solche Kohlenstoffdioxid-Konzentration gemessen. Das wahre Problem liegt, man muss es so sagen, nicht im fehlenden Zugang zu Informationen, denn diese lagen ja bekanntlich vor.
Trotz der ersten Warnrufe handelte Total nicht. Schlimmer: Als in den 1990er-Jahren erste Klimaschutzpolitiken diskutiert wurden, sabotierte Total solche Massnahmen mit verbissener Lobbyarbeit. Heute noch baut der Konzern neue Förderanlagen für Erdöl und Gas, obwohl längst klar ist, dass der Grossteil der fossilen Energievorkommen im Boden bleiben müsste.
Dasselbe gilt für die Regierungen: In der Klimarahmenkonvention von 1992 sprachen 154 Staaten ihre Sorge über die „nachteiligen Auswirkungen“ des Klimawandels aus. Sie nahmen sich vor, gemeinsam das Klima zu stabilisieren, um eine „gefährliche anthropogene Störung des Klimasystems“ zu verhindern. Wie es mit guten Absichten nun mal so ist: Sie reichen nicht.
Seit 1992 sind die globalen Emissionen um rund 60 % gestiegen. Es wird deutlich, dass aus den Kenntnissen über die Gefahren der Klimakrise nicht zwingend entschiedenes Handeln wächst. Das Problem sind wirtschaftliche und politische Interessen, die sich einem wirklichen Klimaschutz entgegenstellen. Es geht somit mehr um Geld und Macht, weniger um Unwissen. Entsprechend müsste die Klimabewegung vor allem eines tun: auf Selbstermächtigung setzen.
Macht von unten aufbauen
Nur wenn bestehende Kräfteverhältnisse verändert werden, lässt sich das Schlimmste, der Kollaps des globalen Klimas, verhindern. Erst wenn die Zukunft des Planeten nicht mehr nur in den Chefetagen und Regierungen, sondern an den Arbeitsplätzen, Quartieren, Schulen, Unis und in WGs wie in Familienhaushalten entschieden wird, besteht Hoffnung auf tatsächliche Veränderung.
Dafür muss die Klimabewegung zuallererst Macht von unten aufbauen. Der Macht des Geldes muss ein kollektives Vermögen der international vernetzten Vielen entgegengehalten werden. Obwohl wir als Einzelpersonen nur einen geringen Einfluss auf das kollektive Zusammenleben haben, hängt das Fortbestehen dieser Gesellschaftsform vom Gehorsam und der Mitarbeit von jeder:m Einzelnen von uns ab. Wenn wir uns zusammentun und organisieren, können wir diese potenzielle Stärke bündeln und kollektive Macht aufbauen, wie die Aktivistin Franziska Heinisch in ihrem Buch erläutert.
Statt die bestehenden Machtinstanzen zum Handeln aufzufordern, müsste diese Form des Aktivismus einen konfrontativen Ansatz verfolgen. Eine Strategie der Appelle setzt häufig auf Einklang und Harmonie. Sie setzt voraus, dass wir alle im selben Boot sitzen. Dem ist aber nicht so. Während einem Grossteil der Weltbevölkerung schon jetzt das Wasser sprichwörtlich bis zum Hals steht, schauen die Mächtigen weiterhin zu, wie das Boot untergeht. Zumal schon jetzt klar ist, dass sie es sind, die auf den wenigen luxuriösen Rettungsbooten Platz finden werden. So bestehen berechtigte Zweifel, ob jene, die Millionen an der Naturzerstörung verdienen, rechtzeitig handeln werden.
Die Klimabewegung muss somit nach Strategien suchen und Taktiken stärken, mit denen bestehende Kräfteverhältnisse verändert werden können. Dazu gehören zweifelsohne die Fähigkeiten zu streiken und zu blockieren, wie sie in der Klimabewegung oder auch im Feministischen Streik bereits eingesetzt werden.
Eine Zusammenarbeit zwischen diesen und vielen weiteren Bewegungen – etwa der antirassistischen oder gewerkschaftlichen – ist deshalb unerlässlich. Beim Klimawandel geht es längst nicht mehr nur ums CO2. Es geht um alles – um die Transformation einer Gesellschaft, die auf Profit, Ausbeutung, Unterwerfung, Ausgrenzung und Egoismus getrimmt ist. Eine solche Vernetzung kann erreicht werden, wenn sich die Klimabewegung als feministisch, antirassistisch, internationalistisch und kapitalismuskritisch versteht. In den Aktionen von „Ende Gelände“ oder „Sand im Getriebe“ in Deutschland – um nur diese Beispiele zu nennen – werden solche Verknüpfungen seit Längerem hergestellt.
Ganz so einfach sind diese Allianzen aber nicht herzustellen. Um diesem Pluralismus der Bewegungen und Ansätze einen Schritt näherzukommen, muss die Klimabewegung politische Infrastrukturen aufbauen und stärken. Es braucht kollektive Räume des Austauschs und Kennenlernens: Aktionskomitees, Diskussionszirkel, Kulturorte, Wohnprojekte, Genossenschaften, Organisationen, Parteien, Zeitungsprojekte. Denn Beziehungsaufbau und Beziehungsarbeit sind Teil jedes politischen Aktiv-Seins. Das Private ist auch deshalb politisch, weil es beim politischen Handeln darum geht, sich kennenzulernen, voneinander zu lernen, sich gegenseitig zu bestärken, füreinander zu sorgen.
Die Ohnmacht durchbrechen
Vieles davon ist bereits da. Die Klimabewegung muss nicht bei null anfangen. Sich nur als Bittsteller:innen an Machthaber:innen zu wenden, ist ernüchternd und lässt einen häufig machtlos zurück. Auf Selbstermächtigung zu setzen kann hingegen dieses Gefühl der Ohnmacht zurückdrängen. Denn gemeinsam zu demonstrieren, blockieren, streiken und diskutieren, kann und sollte vor allem eines sein: bestärkend. Wir haben viel zu verlieren, aber auch eine Welt zu gewinnen.
Milo Probst schreibt seine Dissertation in Geschichte an der Universität Basel und ist Autor des Buchs „Für einen Umweltschutz der 99%“.
Am 6. November finden in Zürich und Lausanne Demonstrationen zur COP26 statt, am 7. November zudem ein Forum im Kanzlei Club Zürich.