„Ein totes Pferd, das man endlich zu füttern aufgeben muss.” – so rechnet der Zürcher FDP-Kantonsrat Marc Bourgoise mit dem System der integrativen Schule ab. Gemeinsam mit Politiker*innen der SVP, FDP und GLP treibt er die Förderklasseninitiative voran, die der Kantonsrat Ende März angenommen hat. Damit wollen sie scheinbar auf das überlastete integrative Schulsystem reagieren.
Schauen wir uns dieses Pferd doch mal genauer an.
Mythos der Homogenität
Integrative Schule bedeutet: Alle Kinder und Jugendlichen lernen unabhängig von ihren Begabungen und Bedürfnissen gemeinsam in der Regelschule. Diesen Schritt zur Inklusion beschloss die Schweiz unter anderem mit der Ratifizierung der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK) im Jahr 2014. Die Konvention fordert, ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen als Menschenrecht umzusetzen.
Das Schweizer Bildungssystem ist längst nicht so durchlässig, wie es häufig gepriesen wird.
Das heisst allerdings nicht, Personen, die auf zusätzliche Unterstützung angewiesen sind, lediglich in eine Norm zu integrieren – sondern jegliche Form der Diskriminierung abzuschaffen und allen Menschen uneingeschränkte gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Es geht um einen grundlegenden Paradigmenwechsel, der den Mythos der Homogenität innerhalb unserer Gesellschaft überwinden will. Dafür muss die Schule die Vielfalt unserer Gesellschaft abbilden. Sie soll Heterogenität als selbstverständlich und als Ressource betrachten.
Die Wissenschaft weiss schon lange, dass selektive, segregierende Schulsysteme ungleiche Bildungschancen zementieren.
Etliche Studien belegen, dass frühe Selektionsprozesse, wie sie in Zürich die Norm sind, tiefgreifende negative Folgen für die weitere Laufbahn mit sich bringen und kaum positive Effekte auf die Gesamtgesellschaft haben.
Gesellschaftliche Isolation
Auch der Mythos, dass heterogene Klassen sich negativ auf die „starken” Schüler*innen auswirken, wurde (sofern auf eine ausgeglichene Durchmischung geachtet wird) wiederholt widerlegt. Das Schweizer Bildungssystem ist längst nicht so durchlässig, wie es häufig gepriesen wird. Wer früh abgestuft oder ausgegliedert wird, hat es schwer, diesen Prozess wieder umzukehren.
So ist die Wiedereingliederung aus einer Sonderklasse in die Regelklasse für den Grossteil der Betroffenen unrealistisch. Unter anderem weil in den Regelklassen die entsprechenden Ressourcen zur individuellen Begleitung fehlen. Oft führen separative Schulsettings auch langfristig zu gesellschaftlicher Isolation.
Studien aus St. Gallen zeigen, dass Schüler*innen mit sonderpädagogischem Bedarf später im Schnitt 15 Prozent weniger verdienen und ein vervierfachtes Risiko haben, auch drei Jahre nach Schulabschluss keinen Zugang zu einem Beruf zu finden, wenn sie anstatt eine Regelklasse eine Sonderklasse besuchten. Auch die Entscheidung, wer überhaupt in eine Sonderklasse verschoben wird, widerspiegelt und reproduziert bestehende Diskriminierungen. Beispielsweise ist der Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund in Sonderklassen um ein Vielfaches höher.
Status quo in Zürcher Schulzimmer
Die Stadt Zürich arbeitet seit 2009 mit dem Konzept der Integrativen Förderung (IF) und schaffte mit deren Einführung die Kleinklassen ab. Das heisst: Schulische Heilpädagog*innen unterstützen Kinder mit besonderem pädagogischem Bedarf auf allen Schulstufen innerhalb der Regelklassen bei Themen wie Lernstrategie, Lesen und Schreiben, Mathematik, Sozialkompetenz, Unterforderung oder bei Verhaltensauffälligkeiten. Zusätzlich gibt es DaZ-Förderung (Deutsch als Zweitsprache) und die integrierte Sonderschulung (ISS/ISR), die es Schüler*innen mit einer Behinderung, Funktionseinschränkung oder Entwicklungsstörung ermöglichen soll, die Regelschule zu besuchen.
Die Kinder nehmen so weit wie möglich am Regelschulalltag teil, werden aber heilpädagogisch begleitet und die Umgebung und der Schulstoff werden nach individuellen Bedürfnissen angepasst.
Um aber den Status quo des integrativen Schulsystems besser zu verstehen, müssen wir auf die aktuelle Lage in den Schulzimmern blicken.
Nehmen wir eine fiktive Sekundarschule im Zürcher Kreis 4. Die Heilpädagogin Katharina betreut dort die 2. Sek., die aus 63 Kindern in drei Klassen besteht. Für 17 dieser Schüler*innen wurde aus der Primarschule eine professionelle Empfehlung zur Integrativen Förderung abgegeben. Wegen mangelnder Ressourcen ist Katharina gezwungen, diese Zahl pragmatisch auf zehn Schüler*innen zu kürzen – sie konzentriert sich auf die „dringenden Fälle”. Katharina hat pro Woche acht Lektionen, um sich um diese dringenden Fälle zu kümmern, also sie integrativ zu fördern. Das sind wöchentlich 36 Minuten pro Kind. In allen übrigen Lektionen müssen die Klassen- und Fachlehrpersonen sowie die Kinder selbst zurechtkommen.
Medien titeln: „Das integrative Schulsystem ist gescheitert.” Gescheitert ist aber die jahrzehntelange Sparpolitik auf Kosten von Schüler*innen, ihren Eltern und Lehrpersonen.
Nun endet die Probezeit in den Gymnasien und es kommen drei neue Schüler*innen in den Jahrgang. Zwei davon, Max und Emre, mit diagnostiziertem ADHS. Gleichzeitig zieht Natasha aus der Ukraine ins Quartier und kommt ebenfalls in den Jahrgang. Sie leidet wegen ihrer Kriegs- und Fluchterfahrung an einer posttraumatischen Belastungsstörung.
Ratet mal, wie viele Lektionen Heilpädagogin Katharina von nun anhat, um die Kinder im 2. Jahrgang integrativ zu fördern? Genau, acht Lektionen.
Das Beispiel zeigt, wie weit Schweizer Schulen von einer ernstzunehmenden Integration entfernt sind. Die Ressourcen richten sich nicht nach den tatsächlichen Bedürfnissen von Kindern oder Lehrpersonen, sondern werden fernab vom realistischen Bedarf und professioneller Einschätzung festgelegt.
Das Scheitern der Sparpolitik
Die Medien titeln dann: „Das integrative Schulsystem ist gescheitert.” Gescheitert ist aber die jahrzehntelange Sparpolitik auf Kosten der Entwicklung und Gesundheit von Kindern und Jugendlichen, ihren Eltern und Lehrpersonen.
Die Förderklasseninitiative soll Schulen nun verpflichten, möglichst innerhalb des Schulhauses Kleinklassen einzurichten. Dort sollen Kinder mit besonderen Bedürfnissen getrennt lernen und laut Initiativtext „in Ruhe ihr Potenzial entfalten”. Das soll gleichzeitig die überarbeiteten Lehrpersonen in den Regelklassen entlasten. Unterrichten sollen diese Kleinklassen die Heilpädagog*innen, die zuvor in den Regelklassen integrativ förderten, so soll die Kostenneutralität gewährleistet werden.
Das System sprengt die Kinder – nicht umgekehrt.
Die Initiant*innen inszenieren sich als Retter*innen in der Not, die den von der Unruhe im Klassenzimmer geplagten „Normkindern” beistehen und der kollabierenden Lehrperson den Rücken stärken. Dass Gemeinden schon heute Kleinklassen einrichten können, diese Möglichkeit aber kaum nutzen, kommt nicht zur Sprache.
Im Initiativkomitee sitzen offenbar Genies: Sie haben das Problem der schulischen Überbelastung zum Schnäppchenpreis von 0 Franken gelöst! Bildungsdirektorin Silvia Steiner soll also nun bis Mitte November einen Umsetzungsvorschlag ausarbeiten, der keine Kosten verursacht.
Von wegen Systemsprenger
Die Initiant*innen verwässern bewusst Begrifflichkeiten und vermeiden es gekonnt auszusprechen, wer genau da eigentlich nicht mehr integriert werden soll. In Artikeln der Tamedia-Medien spricht Marc Bourgeois (FDP) davon, dass „keine Kinder mit Behinderungen aus den Regelklassen wegbefördert werden”.
Also nur ihre Heilpädagog*innen? Nein, er meint nur die Verhaltensauffälligen, die einen geregelten Unterricht verunmöglichen. Bourgeois nannte sie „Systemsprenger”. Kinder und Jugendliche hingegen, deren Behinderung oder Bedürfnisse man also weder sieht noch hört, sind scheinbar okay. Nur die Lauten, die Unruhigen sollen sich bitte woanders „entfalten”.
Ein Kind, das den Unterricht nicht stört, aufgrund einer Lernschwäche dem Unterrichtsstoff aber nicht folgen kann, belastet die Lehrperson schliesslich nicht, wenn sie einfach die Augen ganz fest schliesst und vergisst, dass dieses Kind nichts lernt. Der Unterricht läuft ja.
Der Begriff des „Systemsprengers” ist absurd. Das System sprengt die Kinder – nicht umgekehrt. Es geht schliesslich um ein System – die Volksschule – das die Aufgabe hat, die Gesamtheit der Gesellschaft mitzutragen, zu bilden und zu fördern – und nicht nur den gängigen Anteil davon. Die Schule ist ein essenzieller Spiegel für Gesellschaft und Demokratie. Die Frage, ob sie Kinder mit besonderen Bedürfnissen inkludiert oder separiert, ist keine pädagogische, sondern eine zutiefst politische.
Und ja, Inklusion kann herausfordernd sein, erfordert viel Aufwand und Austausch. Und vor allem kostet sie. Es braucht Zeit und Ressourcen, eine Gesellschaft zu gestalten, die nicht nur die Kategorien produktiv und unproduktiv kennt, sondern auf tatsächlich solidarischen Werten basiert.
Die Förderklasseninitiative ist ein gefährlicher Schritt zurück in Richtung Selektion und Ausgrenzung, der entschieden bekämpft werden muss.
Besser als nichts?
Die Förderklasseninitiative trifft mit ihren gekonnt gewählten Schlagworten nicht nur den Nerv in der Öffentlichkeit. Auch bei vielen Lehrpersonen trifft dieser Vorstoss durchaus auf offene Ohren. Nach jahrzehntelanger Sparpolitik und einer zeitgleichen Explosion des Aufgaben- und Verantwortungsbereichs von Lehrpersonen sind viele von ihnen am absoluten Limit angekommen. Das Burnoutrisiko liegt bei über 40 Prozent. Und wer den Beruf noch nicht verlassen hat, hat es sich sicherlich schon mehrmals überlegt.
Die Belastung nimmt seit Jahren zu und viele Lehrpersonen gehen immer unzufriedener nach Hause. Verständlich: Die Aussicht ist verlockend, im Alltag entlastet zu werden, indem man anspruchsvolle Schüler*innen aus den Klassenzimmern verbann. Praktischerweise ist die Initiative auch schwammig genug formuliert, dass der folglich logische Personalabzug der Heilpädagog*innen aus den Regelklassen kaum Beachtung findet.
Lehrpersonen müssen endlich die seit Jahrzehnten ausbleibenden Investitionen in den Bildungsbereich fordern.
Auch abgesehen von seiner gesellschaftsfeindlichen Politik ist diese Lösung nicht ideal. Das ist auch den meisten Lehrpersonen bewusst. Doch vielleicht ist es „besser als nichts”? Denn „nichts” ist es, woran sich Lehrpersonen seit Jahren gewöhnt haben:
Ressourcen? Gibts nicht.
Entlastung für Klassenlehrpersonen? Zu teuer.
Ein Schulzimmer? Du, man kann auch in Containern unterrichten.
Teammitglieder mit pädagogischer Ausbildung? Haben wir leider etwas verpasst….
Und genau hier liegt das Problem. Lehrpersonen sind absolut unerfahren im Arbeitskampf und kämpfen bisher grösstenteils auf individueller Ebene gegen die grassierende Neoliberalisierung des Bildungssystems an. Diese Vereinzelung brennt zusätzlich aus und wird begünstigt durch den in vielen Care-Berufen sehr hohen Berufsethos. Auch die in den Medien und der Gesellschaft nach wie vor heraufbeschworene Darstellung, dass Lehrpersonen in diesem Land verwöhnt seien, hemmt den Mut zum Arbeitskampf zusätzlich.
Dabei ist es höchste Zeit, dass sich Lehrpersonen gemeinsam mit Eltern und Betreuungspersonal organisieren und Forderungen stellen, die die systemischen Probleme an der Wurzel bekämpfen und einen tiefgreifenden Paradigmawechsel verlangen.
Eigentlich spielt ihnen der allgegenwärtige Lehrpersonenmangel ja in die Hände, sind sie doch buchstäblich unersetzbar geworden. Anstatt sich weiterhin gegeneinander ausspielen zu lassen oder neue erfundene Sündenböcke unter Eltern oder Schüler*innen zu tolerieren, müssen sie endlich die Investitionen in den Bildungsbereich fordern, die seit Jahrzehnten ausbleiben.
Eine ledigliche Abwehr dieses reaktionären Angriffs auf das inklusive Schulsystem reicht bei weitem nicht aus. Jetzt erst recht gilt es, den massiven Ausbau von Ressourcen, die Bekämpfung von Diskriminierung und solidarische Alternativen für eine inklusive Bildung und Gesellschaft zu erkämpfen.
Sonia Grob, die eigentlich anders heisst, arbeitet selbst als Sekundarlehrperson und Heilpädagogin in der Volksschule der Stadt Zürich und ist Mitglied des Kollektiv Kritische Lehrpersonen (krilp). Hier könnt ihr ein Interview mit krilp bei das Lamm nachlesen.
Journalismus kostet
Die Produktion dieses Artikels nahm 20 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 1300 einnehmen.
Als Leser*in von das Lamm konsumierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demokratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produktion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rechnung sieht so aus:
Wir haben einen Lohndeckel bei CHF 22. Die gewerkschaftliche Empfehlung wäre CHF 35 pro Stunde.
CHF 700 → 35 CHF/h für Lohn der Schreibenden, Redigat, Korrektorat (Produktion)
CHF 340 → 17 CHF/h für Fixkosten (Raum- & Servermiete, Programme usw.)
CHF 260 pro Artikel → Backoffice, Kommunikation, IT, Bildredaktion, Marketing usw.
Weitere Informationen zu unseren Finanzen findest du hier.
Solidarisches Abo
Nur durch Abos erhalten wir finanzielle Sicherheit. Mit deinem Soli-Abo ab 60 CHF im Jahr oder 5 CHF im Monat unterstützt du uns nachhaltig und machst Journalismus demokratisch zugänglich. Wer kann, darf auch gerne einen höheren Beitrag zahlen.
Ihr unterstützt mit eurem Abo das, was ihr ohnehin von uns erhaltet: sorgfältig recherchierte Informationen, kritisch aufbereitet. So haltet ihr unser Magazin am Leben und stellt sicher, dass alle Menschen – unabhängig von ihren finanziellen Ressourcen – Zugang zu fundiertem Journalismus abseits von schnellen News und Clickbait erhalten.
In der kriselnden Medienwelt ist es ohnehin fast unmöglich, schwarze Zahlen zu schreiben. Da das Lamm unkommerziell ausgerichtet ist, keine Werbung schaltet und für alle frei zugänglich bleiben will, sind wir um so mehr auf eure solidarischen Abos angewiesen. Unser Lohn ist unmittelbar an eure Abos und Spenden geknüpft. Je weniger Abos, desto weniger Lohn haben wir – und somit weniger Ressourcen für das, was wir tun: Kritischen Journalismus für alle.
Einzelspende
Ihr wollt uns lieber einmalig unterstützen?