Mir fällt ein alter Mann auf. Er ist klein und dünn, und beim Lächeln kommen seine kaputten Zähne zum Vorschein. Jeden Tag zieht er seinen Karren in das kleine marokkanische Fischerdorf am Atlantik und sammelt für ein bescheidenes Entgelt den Müll der DorfbewohnerInnen ein. Diesen bringt er aus dem Dorf, kippt ihn auf eine Müllhalde und verbrennt ihn. Doch weil der Mann allein ist, schafft er es nicht, allen Müll einzusammeln. Vieles landet am Strand, wird vom Wasser weggespült oder vom Wind verweht, bleibt im Sand, in den Gebüschen oder den Steinen hängen. Das Dorf ist zwar klein, der Strand jedoch gross. Zu gross für den kleinen Mann. So verkommt der Strand zur inoffiziellen Müllhalde der Gemeinde.
Doch die Operation Sauberer Strand will das ändern. Überall im Dorf hängen handbeschriebene Plakate mit der Aufschrift „Opération Plage Propre!“ – die DorfbewohnerInnen rufen zum Müllsammeln am Strand auf. Am Sonntag um 10 Uhr geht es los, Treffpunkt beim Fluss am südlichen Ende des Strandes.
Marokkanische Böden, Gewässer, Menschen und Tiere – sie alle leiden am Müll
Abfall ist in Marokko eines der gravierendsten Umweltprobleme. Zahlreiche Gemeinden verfügen nicht über ein funktionierendes Abfallsystem, Recycling steckt in den Kinderschuhen. Das führt zu verschmutzten Böden und Gewässern, zu Gestank, und letzten Endes zur Ausbreitung von Krankheiten. Zudem ist bekannt, dass nicht nur Tiere, sondern auch Menschen versehentlich kleine Müllstücke wie Mikroplastik essen. Die Schadstoffe, die so in unseren Körper gelangen, können zu Unfruchtbarkeit, Krebs oder Herzerkrankungen führen.
Deshalb versucht die marokkanische Regierung, unter anderem unterstützt von der Weltbank, das Müllproblem in den Griff zu kriegen. Jüngst hat das Parlament ein Verbot für die Herstellung, den Verkauf, den Vertrieb und den Import von Einweg-Plastiksäcken erlassen. Doch solchen Bemühungen zum Trotz: Der Müll ist immer noch überall dort, wo er nicht sein sollte. Und das fällt dem umweltbewussten und lehrerhaften Durchschnittsschweizer natürlich sofort auf.
Müll ist ein treuer Reisebegleiter, genau so wie Kamele und Tajines. Doch weil er ungleich mehr Probleme verursacht als letztere, beschliesse ich, dem alten Mann und dem Dorf etwas unter die Arme zu greifen.
„Opération Plage Propre!“
Als ich am Sonntag am Treffpunkt für die Müllsammeloperation ankomme, hat sich bereits eine beachtliche Menschenmenge am Strand eingefunden. Irgendjemand wirft mir zwei grosse, blaue Plastiksäcke (wiederverwendbar!) zu, Instruktionen gibt es keine; zu offensichtlich ist die Aufgabe. Ich geselle mich zu den Fischern, Hotelangestellten, Metzgern und europäischen TouristInnen und lege los. Ein Stift, ein Joghurtdeckel, PET-Flaschen, etwas Undefinierbares, viele Plastiksäcke, Schuhe und Sandalen. Woher das alles wohl kommt? Wer hat hier seinen Müll liegengelassen? Und ist Plastik eigentlich absichtlich farbig, damit man ihn beim Einsammeln besser sieht?
Während des Sammelns schildert mir ein Marokkaner das Problem mit den PET-Flaschen: Die meisten seiner Landsleute trinken Wasser direkt ab dem Hahn. Wir TouristInnen aber haben Geld und schwache Mägen. Deshalb leisten wir uns abgepacktes Flaschenwasser. Das führt zu extrem viel PET-Müll, welcher das lokale Abfallsystem überfordert. Teilweise werden die Flaschen zwar für die Aufbewahrung von Oliven- oder Arganöl gebraucht, aber es gibt einfach zu viele davon. Die meisten PET-Flaschen landen in der Natur.
Ich steigere mich in ein Sammelfieber. Immer mehr will ich sammeln, immer schneller. Hier noch was, da noch was. Der Sack füllt sich. Ich schäme mich für die Menschheit, bin jedoch gleichzeitig stolz, Teil der Müllsammelgruppe zu sein. Innerhalb von kürzester Zeit sind meine zwei Säcke voll und ich bringe sie zu den markierten Sammelstationen. Was anschliessend mit dem Eingesammelten passiert, kann mir niemand genau erklären. Sprachbarrieren oder Scham mögen Gründe dafür sein. Ein Kanister Benzin spricht dann allerdings eine klare Sprache. Meine Illusionen lösen sich in dichtem, schwarzem Rauch auf.
1000 x 10 kg = 10 Tonnen
Von oben brennt die Sonne, von vorne das Feuer, und unter meinen Nägeln die Frage, was das nun alles gebracht hat. In ein paar Monaten sieht der Strand wieder genau gleich aus wie vor unserem Reinigungsritual – die ganze Arbeit wird dann bloss ein Tropfen auf den heissen Stein gewesen sein. Klar: Das marokkanische Abfallproblem lässt sich nicht mit zwei Stunden Müllsammeln lösen. Ein funktionierendes Abfallsystem aufzubauen, braucht sehr viel Zeit und Geld. Und es ist nicht mit einer einzigen, allmächtigen Innovation zu schaffen. Vielmehr braucht es viele kleine Schritte, um das Bewusstsein für die Abfallproblematik in einer Gesellschaft zu verankern. Das dauert. Und braucht vielleicht solche Sisyphos-Aktionen wie die „Opération Plage Propre!“.
Bis dahin verlasse ich mich auf die Macht der Masse. Würden nämlich alle ungefähr 1000 DorfbewohnerInnen einmal im Jahr zwei Stunden Arbeit investieren und je 10 Kilogramm Abfall auflesen, käme man im Handumdrehen auf 10 Tonnen. Aber das ist reiner Konjunktiv, eine blosse Gedankenspielerei. In der Realität nehmen wir uns nämlich viel zu wichtig, um uns mit Dreck zu beschäftigen. Denn ich wars ja nicht, der den Müll liegengelassen hat, und krank bin ich vom Müll auch noch nicht. Diese Verantwortungsdiffusion ist wohl nur zu überwinden, wenn es effiziente Lösungen gibt, die verhindern, dass der Abfall überhaupt in der Natur landet. Vielleicht auch Verbote, wie etwas dasjenige von Einwegplastiksäcken in verschiedenen europäischen Ländern. Manche Lösungen sind aber auch ganz simpel: Das Leben des alten Mannes könnte bestimmt vereinfacht werden, würde man am Strand ein paar Abfallkübel aufstellen.
Podcast-Tipp:
Der Aufbau eines funktionierenden Abfallsystems in Ländern wie Marokko ist ein langfristiges Unterfangen, das nicht mit einer einzigen Innovation gelöst werden kann. Vielmehr führen viele kleine Schritte zum Ziel. Die Radiosendung „In Praise of Incrementalism“ von Freakonomics Radio diskutiert solch kurzfristig langsame Veränderungen mit langfristig umwälzender Schlagkraft.[/mailquote]
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