Austausch mit dem Auslands­chef der NZZ über den Hamba­cher Forst

Im Hamba­cher Forst, einem Wald­stück zwischen Köln und Aachen, prallen momentan ziem­lich unter­schied­liche Meinungen, Ziele und Ideo­lo­gien aufein­ander. Es ist daher nahe­lie­gend, dass auch die Medien teils sehr unter­schied­lich über die Ereig­nisse im „Hambi“ berichten. 
Die Baumhaussiedlung ‚Beach Town‘ im Hambacher Forst. Ist es wirklich falsch, einige Bäume zu besetzen, nur weil man sich nicht an jeden einzelnen von der Fällung betroffenen Baum binden kann? ( Foto: Tim Wagner)

Peter Rásonyi ist Auslands­chef bei der Neuen Zürcher Zeitung und schreibt dort unter anderem über Deutsch­land, Ener­gie­po­litik, Wirt­schaft und manchmal auch über Umwelt­themen. So auch über die Proteste im Hamba­cher Forst, mit denen Akti­vi­stInnen die Rodung eines alten Waldes und den Abbau der Kohle unter dem Wald durch den Ener­gie­kon­zern RWE verhin­dern wollen.

Auch ich schreibe über Umwelt­themen bei das Lamm. Und auch mich inter­es­sieren die Ereig­nisse im Hamba­cher Forst. Peter Rásonyi und ich ordnen die Gescheh­nisse dort erwar­tungs­ge­mäss sehr unter­schied­lich ein — gerade deswegen lohnt sich eine konstruk­tive Auseinandersetzung.

Es waren drei Punkte, die mir im Kommentar von Rásonyi zum Hamba­cher Forst am 17. September 2018 sauer aufstiessen. Per Mail bat ich den Auslands­chef der renom­mier­te­sten Tages­zei­tung der Schweiz, dazu Stel­lung zu nehmen. Was er inner­halb weniger Stunden tat.

Um Rásonyis Feed­back nicht durch eine selbst­ge­trof­fene Auswahl der Inhalte zu verzerren, gebe ich meine Fragen an ihn und seine Antwort dazu unge­kürzt wieder, bevor ich meinen eigenen Senf in den jour­na­li­sti­schen Ring werfe. Ich bin der Meinung, dass Rásonyi Argu­mente anbringt, die leider ledig­lich auf einer emotio­nalen Ebene wirken. Dass er Profit­streben mit  „wirt­schaft­lich sinn­voll“ verwech­selt. Und dass seine Bestre­bungen die Grund­rechte zu wahren einseitig daher kommen. Aber eins nach dem anderen.

Guten Tag Herr Rásonyi

Ich schreibe für das Online­ma­gazin „Das Lamm“. Ich habe Ihren Kommentar zum Hamba­cher Forst gelesen und bin mit einigen Ihrer Aussagen [...] nicht ganz einver­standen. Aus diesem Grund schreibe ich nun an einem kriti­schen Artikel, der sich auf Ihren Beitrag stützt. Gerne will ich Ihnen mit diesem Mail die Möglich­keit geben, sich genauer zu den Passagen zu äussern, die mir nicht schlüssig erscheinen.

Sie schreiben in Ihrem Artikel Folgendes: „Aber warum ketten sich dieselben Leute nicht auch auf uralte Eichen und Buchen, die in vielen Wald­ge­bieten Deutsch­lands zum Erstellen von Wind­rä­dern abge­holzt werden? Für den Bau und Unter­halt dieser über hundert Meter hohen Kolosse müssen Zufahrten für schweres Gerät geschlagen werden. Doch das scheint die Baum­freunde aus dem Hamba­cher Forst nicht zu stören.“

Aus ökolo­gi­scher Sicht ist ein gross­flä­chiger Kahl­schlag inklu­sive des kompletten Abtra­gens des Erdrei­ches nicht mit dem Roden von Schneisen für Wind­kraft­werke oder Strom­lei­tungen durch ein Wald­stück zu verglei­chen. Klar sind auch solche Rodungen ein Eingriff in den Wald und einzelne Bäume werden fallen. Eine offene Fläche kann aber auch für viele Arten ein Gewinn sein und die Biodi­ver­sität erhöhen. Zum Beispiel nutzen Greif­vögel solche Flächen zum Jagen und sonnen­lie­bende Baum­arten können dort eine Popu­la­tion aufbauen. Waren Ihnen diese Unter­schiede bewusst, als Sie den Kommentar schrieben?

Auf meine Fragen antwor­tete der NZZ-Auslands­chef umgehend:

Sehr geehrte Frau Tiefenbacher

Vielen Dank für ihre Mail und ihr Inter­esse an unserer Bericht­erstat­tung. Gerne nehme ich mir für ihre Fragen ein wenig Zeit. Wir sind ja immer noch eine Tages­zei­tung, deshalb ist der Kommentar poin­tiert und kurz ausge­fallen, da lässt sich natür­lich nicht alles bis ins Detail ausführen. Der Kommentar erschien aller­dings zusammen mit einer Analyse, die gleich­zeitig unser Wirt­schafts­kor­re­spon­dent in Berlin geschrieben hat. Manches dürfte sich da schon beantworten.

Die Gewich­tung ökolo­gi­scher Schäden hängt von der Perspek­tive ab, die Sie einnehmen. Für den einzelnen Baum ist jede Fällung eine Kata­strophe. Für die lokale Tier­welt ist die Rodung eines ganzen Waldes schlimmer als einzelne Schneisen, an die sich die lokale Umwelt leichter anpassen kann. Für das Welt­klima spielt es bei glei­cher Wald­fläche keine Rolle, wie sich die Rodungen lokal verteilen. Und aus Sicht der Menschen und der Gesell­schaft können Schneisen und Wind­räder in Erho­lungs- oder Natur­land­schaften bela­stender sein als die Rodung des Hamba­cher Forsts. Im Übrigen werden Tage­bau­ge­biete lang­fri­stig wieder in Natur­land­schaften umge­wan­delt; aus lang­fri­stiger Perspek­tive kann der Verlust also wieder weit­ge­hend kompen­siert werden. Ich habe in dieser Passage die Bezie­hung des Menschen zum Wald/Baum in den Vorder­grund gestellt.

Die unter­schied­li­chen Perspek­tiven, die Rásonyi aufzählt, sind unbe­stritten vorhanden und legitim. Viel wich­tiger als deren blosse Aufzäh­lung wäre jedoch ihre Gewich­tung aus einer gesamt­ge­sell­schaft­li­chen Perspek­tive. Dies macht Rásonyi leider nicht. Das Resultat meiner eigenen, subjek­tiven Gewich­tung bleibt hingegen auch nach den zusätz­li­chen Ausfüh­rungen Rásonyis dasselbe: Der Kahl­schlag im Hamba­cher Forst ist nicht vergleichbar mit den von ihm erwähnten Schneisen. Wieso ich dieser Meinung bin, habe ich oben bereits erläu­tert. Und auch die Rena­tu­rie­rung der abge­tra­genen Fläche, die aus ökolo­gi­scher Sicht zwar durchaus span­nende Biotope hervor­bringen kann, ändert an meiner Meinung nichts. Denn für diese stehen im Tagbau Hambach ja bereits ein paar tausend Hektaren abge­räumte Fläche zur Verfügung.

Aber nicht nur auf dieser inhalt­li­chen Ebene hinkt Rásonyis Argu­men­ta­tion meiner Meinung nach, sondern auch auf einer struk­tu­rellen. Er spricht hier einer Aktion A die Legi­ti­mität ab, weil der Ausführer dieser Aktion eine ähnliche Aktion B nicht macht. Rásonyi benutzt hier ein Argu­ment der Form „Wieso machst du dann nicht auch…“. Doch nur weil man nicht die Kapa­zität hat, alle Bäume zu besetzen, heisst das nicht, das es prin­zi­piell falsch ist, ein paar der Bäume zu besetzen.

Lusti­ger­weise funk­tio­nieren diese „Wieso machst du dann nicht auch…“-Argumente sehr oft trotz ihres struk­tu­rellen Mangels. Aber leider nicht auf einer logi­schen, sondern auf einer rein emotio­nalen Ebene. Zum Beispiel kann man versu­chen, das Enga­ge­ment eines Vege­ta­riers zu dele­gi­ti­mieren, indem man darauf aufmerksam macht, dass er trotz seines Fleisch­ver­zichts im Sommer Fallen für die Frucht­fliegen aufstellt, die seine Küche bevöl­kern. Oder meine Kritik an der Fleisch­de­kla­ra­tion bei Denner in Frage stellen, indem man in der Kommen­tar­spalte den Hinweis hinter­lässt: „Wieso fragt ihr denn nicht auch bei Migros und Coop nach, wenn euch das so wichtig ist. Die machen das ja auch so.“ Eine Bericht­erstat­tung, die nicht als einseitig oder mani­pu­lativ daher­kommen will, sollte jedoch vorsichtig sein mit dem Einsatz von emotional wirkenden Stilmitteln.

Aber zurück zu meinem Mail­ver­kehrt mit dem Auslands­chef der NZZ und meiner zweiten Anmer­kung. Denn ich glaube, Sie verwech­seln Wirt­schaft­lich­keit mit dem Profit­streben eines einzelnen Konzerns, Herr Rásonyi.

Lieber Herr Rásonyi […] 

Auch die folgende Passage Ihres Kommen­tars hat bei mir Fragen aufge­worfen: „Aber Ener­gie­po­litik ist mehr als Klima­po­litik. Sie muss die Inter­essen von Klima­schutz, Natur­schutz, sicherer Ener­gie­ver­sor­gung und Wirt­schaft­lich­keit in Einklang bringen.“

Sie zählen hier vier unter­schied­liche Perspek­tiven auf, aus welchen man die Rodung des Hamba­cher Forst beur­teilen könnte und stellen dadurch indi­rekt die These auf, dass es zwar aus der Perspek­tive des Klima­schutzes viel­leicht Sinn machen würde den Wald stehen zu lassen, es aber halt andere Punkte gäbe, die nach der Rodung und dem Abbau der darunter liegenden Braun­kohle verlangten. Meiner Meinung nach machen die Rodungen aber aus keiner der aufge­zählten Perspek­tiven Sinn. Aus der Perspek­tive des Klima­schutzes und des Natur­schutzes sollte der Wald unbe­stritten erhalten bleiben. Da der Ausstieg aus der Braun­kohle in Deutsch­land bereits eine beschlos­sene Sache ist, wird die Braun­kohle unter dem Hamba­cher Forst in der zukünf­tigen Ener­gie­ver­sor­gung Deutsch­lands wohl keine grosse Rolle mehr spielen. Und ange­sichts der riesigen Kosten, die mit dem Klima­wandel auf uns zukommen, ist die Rodung und die Förde­rung der Kohle auch nicht sonder­lich wirt­schaft­lich. Aus welcher der vier aufge­zählten Perspek­tiven macht Ihrer Meinung nach die Rodung des Hamba­cher Forsts Sinn?

Zuerst die unge­kürzte Erläu­te­rung aus dem NZZ-Prachtbau am See:

Sehr geehrte Frau Tiefenbacher [...] 

Auch hier kommt es wieder auf die Perspek­tive an, die Sie einnehmen. Ja, aus der Perspek­tive des Klima- und Natur­schutzes wäre es besser, der Forst bliebe bestehen. Bäume entziehen CO2 aus der Atmo­sphäre, während das Verbrennen von Braun­kohle das Gegen­teil bewirkt. Das ist klar. Wirt­schaft­lich sieht es RWE aber offen­sicht­lich als vorteil­haft an, den Forst zu roden, um den Tagebau voran­zu­treiben. Die kurz­fri­stig wahr­schein­lichste Alter­na­tive zur Strom­erzeu­gung bei vergleich­barer Versor­gungs­si­cher­heit wäre das Verbrennen von Gas in einem Gaskraft­werk. Das bedeu­tete weniger CO2, aber das wäre für RWE bzw. letzt­end­lich den Strom­ver­brau­cher deut­lich teurer.

Sie spre­chen vermut­lich die externen Kosten der Klima­er­wär­mung an, die wirt­schaft­lich gegen die Kohle spre­chen. Das ist im Prinzip natür­lich richtig. Aber das Schicksal des in seinen Dimen­sionen doch sehr über­schau­baren Hamba­cher Forstes hat keinen mess­baren Einfluss auf das Welt­klima und damit die externen Kosten der Klima­er­wär­mung. Weil die Kraft­werke von RWE Teil des euro­päi­schen Emis­si­ons­han­dels­sy­stems (ETS) sind, würden markante Einspa­rungen von Klima­gasen bei RWE zudem bloss den Preis der CO2-Zerti­fi­kate redu­zieren und bei anderen Betrei­bern den Anreiz erhöhen, mehr CO2 zu emit­tieren. Insge­samt wäre es annä­hernd ein Null­sum­men­spiel. Das ist ein ökono­mi­scher Preis­ef­fekt, der in der Klima­schutz­de­batte oft über­sehen wird.

Herr Rásonyi, wider­spre­chen Sie sich da nicht selber, wenn Sie einer­seits sagen, dass der sehr über­schau­bare Hamba­cher Forst keinen mess­baren Einfluss auf das Welt­klima habe, gleich­zeitig aber die markanten Einspa­rungen von Klima­gasen bei RWE den CO2-Zerti­fikat-Markt derart aufwir­beln könnten?

Klar, der Kohle­abbau mag sich unter den momen­tanen Bestim­mungen für RWE lohnen. Ich wage aber zu bezwei­feln, dass dies bereits genügt, um zu dem Schluss zu kommen, der Abbau sei aus wirt­schaft­li­cher Sicht sinn­voll. Immerhin rechnet die Welt­bank damit, dass der Klima­wandel, dazu führen könnte, dass bis im Jahr 2050 140 Millionen Menschen ihren Wohnort wech­seln müssen. Konzerne wie RWE sind mitver­ant­wort­lich für den Klima­wandel. Was wäre, wenn RWE nicht nur die paar tausend Menschen entschä­digen müsste, die der Konzern direkt aus ihren Ortschaften vertreibt, weil diese nun mal auf der Braun­kohle wohnen, sondern sich zusätz­lich an den Umzugs­ko­sten von 140 Millionen Klima­flücht­lingen betei­ligen müsste. Natür­lich anteilig zu den Klima­gasen, die RWE verur­sacht. Würd sich die Förde­rung der Kohle für den Konzern dann immer noch lohnen?

Eine kleine, hypo­the­ti­sche Rech­nung zeigt: Das, was RWE macht, lohnt sich nur, weil andere die Rech­nungen zahlen

Um diese Frage beant­worten zu können, ist eine andere Frage zentral: Für wie viel Prozent der Klima­gase ist RWE verant­wort­lich? In einem Artikel des Guar­dian über die grössten Emit­tenten von indu­striell erzeugten Klima­gasen in der Zeit­pe­riode von 1988–2015 taucht RWE mit 0.47% auf Platz 41 auf. Und auch wenn man die auf Wiki­pedia zur Verfü­gung stehenden Daten aus dem Jahr 2009 verrechnet, kommt man auf eine Zahl derselben Grös­sen­ord­nung. Laut den dort vorhan­denen Infor­ma­tionen produ­zierte Deutsch­land 2009 798.5 Millionen Tonnen CO2. Dies entspricht 2.4% der welt­weiten Klima­gase (eigene Berech­nung). 107.29 Millionen Tonnen kamen in demselben Jahr von RWE. Also rund ein Siebtel der deut­schen oder 0.3% der welt­weiten Emis­sionen. Die von RWE verur­sachten Klima­gase dürften also etwa 0.3 — 0.5% der welt­weiten Klima­gase ausma­chen. Das klingt nach wenig. Wenn jedoch RWE für 0.3% der Klima­gase verant­wort­lich ist, dann gehen auch 0.3% der Klima­flücht­linge auf die Kappe des Ener­gie­kon­zerns. Und dies entspräche bei einem Total von 140 Million Klima­flücht­lingen 420’000 Menschen. Natür­lich ist diese Rech­nung eine grobe Schät­zung. Müsste jedoch RWE nicht nur für die Umzüge der Leute aufkommen, die in Nord­rhein-West­falen auf der Kohle wohnen, sondern auch noch mehrere 100’000 Klima­flücht­linge entschä­digen, würde der Betrieb wahr­schein­lich ziem­lich schnell still­ge­legt. Aus wirt­schaft­li­chen Gründen.

Zum selben Schluss kommt auch das Deut­sche Institut für Wirt­schafts­for­schung (DWI). Dieses schätzt die externen Kosten, die bei der Braun­koh­le­ge­win­nung und Verstro­mung entstehen, auf 6 bis 12 ct/kWh. Würden diese Kosten in den Strom­preis mit einbe­zogen, so wäre die Kohle­ver­stro­mung dem DWI zufolge unwirt­schaft­lich. Braun­kohle ist also weder aus der Perspek­tive des Klima­schutzes oder des Natur­schutzes, noch aus Gründen der Wirt­schaft­lich­keit sinnvoll.

Das vierte Inter­esse, das es laut Rásonyi zu berück­sich­tigen gilt, ist die Ener­gie­ver­sor­gung. Da auch ich keine Lust auf einen Blackout habe, liegt diese natür­lich auch mir am Herzen. Für eine sichere Ener­gie­ver­sor­gung gibt es jedoch Wege, die weniger stark mit den Inter­essen des Natur- und Klima­schutzes kolli­dieren als die Verstro­mung von Kohle. Und diese wären gleich­zeitig sogar richtig gut für das Porte­mon­naie der Verbrau­che­rInnen. Dazu aber mehr am Schluss. Zuerst zum dritten Punkt, der mich in Rásonyis Text störte.

Werden mehrere Grund­rechte tangiert, gilt es diese gegen­ein­ander abzuwägen.

Lieber Herr Rásonyi […] 

Sie schreiben in Ihrem Artikel des weiteren: „Dafür sind die demo­kra­ti­schen Insti­tu­tionen zuständig. Diese haben längst entschieden, dass der Hamba­cher Forst weichen muss, ….“

Die Kommis­sion für Wachstum, Struk­tur­wandel und Beschäf­ti­gung, welche oft auch nur als „Kohle­kom­mis­sion“ bezeichnet wird, soll der Bundes­re­gie­rung bis Ende Jahr ein Konzept für den Ausstieg aus der Braun­kohle vorlegen. Beschlossen ist also zum jetzigen Zeit­punkt eigent­lich noch nichts. War Ihnen dies nicht bekannt, als Sie den Artikel schrieben?

Rásonyi antwortet:

Sehr geehrte Frau Tiefenbacher [...] 

Es ist völlig klar, dass das Verstromen von Braun­kohle kein nach­hal­tiges Zukunfts­kon­zept ist. Deshalb ist der Ausstieg aus ökolo­gi­scher und wirt­schaft­li­cher Perspek­tive lang­fri­stig sinn­voll. Es kommt aber auf die Über­gangs­fri­sten an. Weil Deutsch­land nach Fuku­shima sehr unver­mit­telt bereits den raschen Ausstieg aus der Atom­energie beschlossen hat, hat die Kohle­ver­stro­mung eine uner­war­tete Verlän­ge­rung ihrer Lebens­zeit erhalten – als Ersatz­tech­no­logie für eine Über­gangs­zeit. Deshalb macht sie heute noch einen Viertel der Strom­ver­sor­gung aus. Das ist aus Sicht des Klima­schutzes bedau­er­lich, aber der Atom­aus­stieg hat eben einen Preis.

In diesem Kontext ist die Rechts­lage nun einmal die, dass noch für viele Jahre Braun­kohle abge­baut und verstromt werden und der Tagebau um den Hamba­cher Forst voran­ge­trieben werden kann. RWE hat alle Bewil­li­gungen und das Recht, das zu tun, beschlossen von Parla­menten und Behörden. Darum geht es hier.

Dass die Kohle­kom­mis­sion Vorschläge für die Umset­zung des im Grunde sinn­vollen Ausstiegs aus der Kohle machen wird, ist mir natür­lich bekannt. Es ist auch sinn­voll, dass die Politik ein lang­fri­stiges Kohle-Konzept erar­beiten will, um Trans­pa­renz und Planungs­si­cher­heit für die betrof­fenen Unter­nehmen, Mitar­beiter und Bürger zu bieten. Aber diese poli­ti­schen Vorschläge werden einen langen Zeit­ho­ri­zont betreffen und liegen noch gar nicht vor. Sie sind nicht Teil des geltenden Rechts. RWE operiert dagegen im Hier und Jetzt, nach heute geltendem Recht. Das sind zwei sehr unter­schied­liche Dinge.

Offen­sicht­lich ist es Rásonyi wichtig, dass die Nutzungs­rechte von RWE respek­tiert werden. Der Boden auf dem der Hamba­cher Forst steht, gehört RWE. Würde man RWE unter­sagen, den Wald zu roden und die Kohle darunter zu nutzen, würde man RWE damit tatsäch­lich in einem Grund­recht beschneiden, im Grund­recht auf sicheres Eigentum. Dieses ist sowohl in der UN-Menschen­rechts­charta (Artikel 17) wie auch im Deut­schen Grund­ge­setz (Artikel 14) verbrieft. Da gebe ich dem Auslands­chef der NZZ durchaus recht.

Gleich­zeitig ist RWE aber nur eine von sehr vielen Betei­ligten in diesem Konflikt, deren Grund­rechte es zu wahren gilt. Denn die Auswir­kungen des Klima­wan­dels, für die RWE mitver­ant­wort­lich ist, werden welt­weit zu spüren sein. Zu den Betrof­fenen gehören — um nur einige aufzu­zählen — etwa die deut­schen Bauern, welche in Zukunft weniger Regen auf ihre Felder kriegen werden. Oder die Schweizer Skige­biete, denen heute schon der Schnee für einen lukra­tiven Winter­tou­rismus fehlt. Ganz zu schweigen von den Millionen von Klima­flücht­lingen, die sich auf eine gefähr­liche und unge­wisse Reise begeben werden müssen. Sie alle werden nicht nur in ihrem Grund­recht auf Wohl­fahrt (UN-Menschen­rechts­charta, Artikel 25) sondern auch in ihrem Recht auf eine sichere Existenz (Deut­sches Grund­recht, Artikel 1) beschnitten.

Grund­rechte sind alle gleich wichtig und müssen, falls mehrere tangiert werden, gegen­ein­ander abge­wogen werden. Wie wägen Sie ab, Herr Rásonyi? Ich stimme Ihnen zu, dass eine sichere Strom­ver­sor­gung wichtig ist. Und laut eigenen Angaben produ­ziert RWE die Elek­tri­zität für jede siebte Lampe in Nord­rhein-West­falen (NRW). Aber statt welt­weite Grund­rechts­ver­let­zungen in Kauf zu nehmen, würde man doch besser darüber nach­denken, wie man jede siebte Lampe in NRW abstellen könnte.

PS: Vor Kurzem ist im Streit um den Hamba­cher Forst ein weiterer Player aufge­taucht: Die Bech­stein­fle­der­maus. Ironi­scher­weise scheinen die nächt­li­chen Flat­ter­vögel mäch­tiger zu sein als alle Bauern, Skige­biete und Klima­flücht­linge zusammen. Da die seltene Fleder­maus zu den Bewoh­nern des umstrit­tenen Waldes gehört, hat das Ober­ver­wal­tungs­ge­richt Münster vor ein paar Tagen die Abhol­zungen des Hamba­cher Forst vorerst untersagt.


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