Assembly.org.ua sammelt Informationen über Rekrutierungsrazzien, bietet Ukrainer*innen Rechtsberatung an, um sich dem Armeedienst zu entziehen und führt auf libcom.org eine Kolumne über basisorientierte Anti-Kriegsaktionen in Russland.
Einen weiteren Schwerpunkt ihrer Arbeit legen Assembly auf den Wiederaufbau nach dem Krieg. Sie überwachen entsprechende Vorbereitungen lokaler Behörden und suchen nach Möglichkeiten, die Wiederaufbaumassnahmen für eigene politische Ziele und für die Bedürfnisse der Menschen vor Ort nutzbar zu machen. Darüber hinaus leistet Assembly humanitäre Hilfe.
Das Lamm: Assembly bezeichnet sich selbst als Untergrundmagazin und liefert seinen Leser*innen Informationen und Reportagen. Wie kamt ihr dazu, auch humanitäre Hilfe zu leisten?
Assembly: Seit Mitte September gibt es regelmässig russische Raketenangriffe auf zivile Energieinfrastrukturanlagen. Unsere Stadt wurde bereits mehr als ein Dutzend Mal getroffen, was lange Stromausfälle zur Folge hat. Heute hält ein Stromausfall jeweils etwa drei bis vier Stunden an. Im Dezember konnte er auch mal sieben, acht oder sogar zwölf Stunden dauern. In einer solchen Situation sind viele Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen. Darum sind wir hier in die Bresche gesprungen.
Wie sieht diese Hilfe aus?
Die städtischen Behörden begannen schon am 1. Dezember 2022 mit dem Verteilen warmer Speisen an Schulen und der Einrichtung sogenannter „Unbesiegbarkeitspunkte“ auf den Strassen. Das sind öffentlich zugängliche Zelte, in denen sich die Menschen kostenlos aufwärmen und ihre elektronischen Geräte aufladen können.
Trotzdem gibt es auch für uns noch einiges zu tun. Zum Beispiel haben sehr viele Menschen ihre Arbeit verloren. Gleichzeitig kompensieren Arbeitgeber*innen die durch Stromausfälle verursachten Verluste mit Lohnkürzungen bei den Arbeitnehmenden. Wir sammeln zum Beispiel Geld, um die Verluste auszugleichen.
Wie ist die aktuelle Situation in Charkiw?
Zumindest haben wir den Winter besser überstanden als erwartet. Vor allem dank des ungewöhnlich milden Wetters: Die Temperaturen fielen nie unter –10 Grad Celsius. Ausserdem wurde das ukrainische Energiesystem nicht vollständig zerstört, während der Stromverbrauch der Wirtschaft durch die Schliessung grosser Industriebetriebe deutlich sank.
Was Assembly betrifft, so konnten wir dank der Spenden einiger Genoss*innen aus dem Ausland in einem Privathaus am relativ sicheren südlichen Stadtrand eine Gemeinschaftsheizstelle einrichten.
Wann habt ihr mit eurer Arbeit begonnen?
Wir haben unsere Arbeit schon vor dem Krieg aufgenommen und sind seit März 2020 aktiv – also seit Beginn der Pandemie. Im damaligen Ausnahmezustand wurde einigen unserer Genoss*innen das Gehalt um 20 Prozent gekürzt und es kam zu Entlassungen. Um über die resultierenden sozialen Probleme zu berichten und Menschen in der Krise zu vernetzen, stellten wir ein paar Wochen nach Beginn des Lockdowns unsere Website online.
Wie ging es dann im Krieg weiter?
Vor dem Beginn der regelmässigen Raketenangriffe auf die Energieinfrastruktur hatten wir noch Hoffnung, dass die Kämpfe zumindest in unserer Region nicht lange andauern würden. Damals bereiteten wir eine Freiwilligenkampagne vor, um die zerstörten Stadtteile wieder aufzubauen.
Bald war jedoch klar, dass der Krieg nicht so schnell enden würde. Also verwarfen wir diese Pläne und konzentrierten uns darauf, über die städtischen Behörden zu recherchieren.
Um welche Art Informationen geht es dabei?
Kürzlich haben wir zum Beispiel über einen Coup aus dem Büro des Bürgermeisters berichtet.
Im Frühjahr stellte der Stadtrat von Charkiw eine sogenannte Freiwilligeninitiative zur Wiederherstellung der Stadt vor, die nicht von einem Architekten oder einer Stadtplanerin, sondern von einem dem Stadtrat nahestehenden Modedesigner geleitet werden sollte. Dieser Designer wäre niemals in der Lage gewesen, die nötige Arbeit zu leisten. Er hätte lediglich das Geld eingestrichen. Nachdem wir den Fall publik gemacht hatten, zog er sich aus dem Projekt zurück.
Daneben schreiben wir auch über Arbeits- und Strassenkämpfe und versuchen, die Erinnerung an die Traditionen der revolutionären Arbeiter*innenbewegungen zu bewahren.
Wird Assembly von der Bevölkerung akzeptiert?
Ja. Unser Magazin ist mittlerweile zu einem Ort geworden, an dem sich Vertreter*innen von Selbstorganisation und friedlichem sozialem Kampf mit dem radikalen Untergrund verbinden: eine echte Versammlung, die dem Namen „Assembly“ alle Ehre macht.
Wie verortet sich die Gruppe politisch?
Wir organisieren unsere Arbeit horizontal. Das heisst, wir haben keine Ideologie- und Theorieprüfungen wie bei der Aufnahme in eine marxistische Partei, sondern arbeiten mit verschiedenen Personen und Initiativen zusammen. Voraussetzung ist lediglich, dass sie nicht von Politiker*innen oder bürokratischen Strukturen kontrolliert werden, dass sie horizontale direkte Aktionen von unten unterstützen und der lokalen Gemeinschaft helfen wollen.
Bedeutet „horizontale Solidarität“ für euch auch mit Menschen aus Belarus und Russland zusammenzuarbeiten?
Natürlich. Viele Menschen dort gehen ein grosses Risiko ein, um das Gemetzel zu stoppen; Grund genug, ihnen dankbar zu sein. Mit Ausnahme einiger weniger rechter Gruppen unterstützen wir sie – unabhängig davon, ob sie eine in unserem Sinne internationalistische Haltung vertreten. Wir sind nicht vom FSB oder KGB. Wir prüfen unsere Genoss*innen nicht auf solche Detailfragen!
Welchen Einfluss hat der Krieg auf eure Arbeit und eure Politik?
Es gibt im Kollektiv zwei Hauptansichten, wie wir uns im Krieg verhalten sollten. Die einen denken, wir sollten der autoritären Politik beider Staaten, die sich in der Ukraine bekriegen, gleichermassen entgegentreten. Die andere Seite ist eher dafür, dass wir die kriegerischen Auseinandersetzungen so weit als möglich ignorieren und stattdessen den Kampf gegen Arbeitgebende, gegen Landraub in der Stadt und Vergleichbares fortführen. In unserem Newsfeed finden sich Texte von beiden Seiten.
Manche Linke und Alternative in Europa stehen eher für eine pazifistische Haltung und weigern sich, den Kampf der Ukraine aktiv zu unterstützen. Zu nennen wäre etwa ein Teil der deutschen Linkspartei mit Sahra Wagenknecht an der Spitze. Was könnt ihr ihnen entgegnen?
Wir können ihnen sagen, dass Pazifismus keine Alternative zum Krieg ist, weil er die bestehende Ordnung, deren Widersprüche zu solchen Gemetzeln führen, nicht infrage stellt. Natürlich können Anarchist*innen die Stärkung der ukrainischen Armee nicht einfach gutheissen. Aber statt Zeit mit Protesten gegen Waffenlieferungen zu verschwenden, wäre es viel sinnvoller, beispielsweise eine Infrastruktur aufzubauen, um flüchtigen russischen Desertierenden und politischen Gefangenen zu helfen. Nur horizontale Solidarität über die Grenzen hinweg kann neue gesellschaftliche Beziehungen entstehen lassen! Aber all das setzt natürlich voraus, dass die Linken, von denen du sprichst, wirklich gegen den Krieg sind und nicht klammheimlich den Kreml unterstützen.
Arbeitet ihr auch mit der ukrainischen Armee zusammen, etwa wenn es um Selbstverteidigung geht?
Einer unserer Genossen hat sich zu Beginn des Krieges tatsächlich freiwillig zur ukrainischen Armee gemeldet. Er konnte einige Kontakte zu den Soldat*innen knüpfen, aber weiter ging es nicht. Mit unserem Informationsportal richten wir uns hauptsächlich an Menschen, die in keiner Armee dienen wollen. Denn der Staat handelt ausschliesslich in seinem eigenen Interesse und im Interesse der herrschenden Klasse.
Wie ist die Lage der Arbeiter*innen im Krieg?
Die Ukraine war schon vor dem Krieg das Land mit den miserabelsten Löhnen in Europa. Seit Kriegsbeginn hat sich die Situation verschlechtert. Mindestens die Hälfte der Wirtschaft in unserer Stadt und mindestens ein Drittel der Wirtschaft des Landes wurden zerstört, Arbeitsplätze gingen verloren. Zusätzlich ist es Männern zwischen 18 und 60 Jahren heute verboten, das Land zu verlassen, was sie noch anfälliger für Ausbeutung macht.
Wie stehen die Arbeiter*innen in Charkiw zur Armee?
Viele Arbeiter*innen wollen nicht zur Armee. Darum werden sie ohne ihre Einwilligung von den Arbeitgebenden gemeldet oder gleich auf offener Strasse in ein Auto gezerrt und zur Musterung gebracht. Sich dem zu widersetzen ist eine Ordnungswidrigkeit. Nach den medizinischen Tests folgt dann meist die Einberufung ins Ausbildungszentrum. Wer da nicht freiwillig auftaucht, muss sogar mit einer Freiheitsstrafe rechnen.
Wie beeinflusst diese Rekrutierungspraxis die Arbeitsbedingungen?
Weil die Bosse befürchteten, durch die Rekrutierungen viele Fachkräfte zu verlieren, führt die Regierung eine spezielle Liste von Unternehmen, die das Recht haben, 50 Prozent ihrer Beschäftigten von der Mobilisierung auszunehmen. Damit ihr jeweiliges Unternehmen auf diese Liste kommen kann, müssen die Arbeiter*innen noch schlechtere Arbeitsbedingungen akzeptieren. Sie werden also erpressbar, was die Ausbeutung erleichtert.
Der politische Anarchismus hat in der Ukraine eine lange Tradition, die bis auf die sogenannten Machnowschtschina zurückgeht. 1917 kontrollierten anarchistische Truppen mit dem Revolutionär Nestor Machno (Machnowschtschina) an der Spitze einen Grossteil der östlichen Ukraine und setzten eine freiheitlich-libertäre Gesellschaftsordnung durch. Das Gebiet konnte im Bürgerkrieg gegen die konterrevolutionäre Weisse Armee verteidigt werden. Erst als sich nach der Oktoberrevolution auch die Rote Armee gegen die Machnowschtschina wandte, wurden die Anarchist*innen besiegt. Anstelle ihres Modells eines libertären Sozialismus’ setzte die Sowjetunion den diktatorischen Staatskommunismus durch.
Wie steht ihr zur historischen anarchistischen Bewegung in der Ukraine?
Wir betreiben intensive Studien über die reiche libertäre Vergangenheit von Charkiw und veröffentlichen die Ergebnisse auf unserer Homepage. Ein wichtiger Teil dieser politischen Tradition ist die Machnowschtschina, deren Regierungsrat übrigens in der Nähe von Izium im Süden unserer Region gewählt wurde. Im Zentrum Charkiws gab es sogar die Anarchie-Strasse, in der sich in den Zwanzigerjahren das anarchistische Hauptquartier der Machnowschtschina befand. Heute spielt diese lange anarchistische Tradition in der Politik aber kaum noch eine Rolle.
Woran liegt das?
Es fehlt die revolutionäre Klasse. War die Ukraine zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Land der Arbeiter*innen und Bäuer*innen, ist sie jetzt in erster Linie ein Land der Rentner*innen, der Bürokrat*innen und Strafverfolgungsbehörden. Das ist in Russland, mit Ausnahme des Kaukasus und einiger asiatischer Regionen, nicht anders.
Sind revolutionäre Veränderungen damit ausgeschlossen?
Nicht unbedingt. Wir beobachten unter den verbleibenden Arbeiter*innen und Intellektuellen auf beiden Seiten der Front eine deutliche Abnahme des nationalistischen Furors. Sollte sich der Krieg noch länger hinziehen, könnte es also durchaus zu einer revolutionären Situation wie in den Zwanzigerjahren kommen. Darauf müssen wir uns vorbereiten und dürfen nicht nostalgisch an der Vergangenheit festhalten. War also vor einigen Jahren in Frankreich der Slogan „Fuck 68 – fight now“, gilt für uns heute in Charkiw: „Fuck 1917 – fight now!“
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