Eine junge Frau unter einer Autobahnbrücke in einer herbstlichen Vorstadtlandschaft. Sie hat es eilig, sie rennt, sie stolpert, fühlt sich offensichtlich verfolgt. In den Händen hält sie ein grosses Jagdgewehr. Noch einmal sieht sie sich um, die Kamera mit ihr, immer nahe dran, immer atemlos und verwackelt. Dann packt sie das Gewehr am Lauf und wirft es in einer fast verzweifelten Geste ins vertrocknete Schilf am Rand eines Ackers.
Die Szene steht isoliert am Anfang von Und morgen die ganze Welt, dem neuen Film von Julia von Heinz, mit dem sie gerade ins Rennen um den Auslandsoscar geschickt wurde. Was wir sehen, ist der Schluss: die junge Frau auf dem Höhepunkt ihrer politischen Radikalisierung, kurz vor dem Einsatz ultimativer Gewalt.
Dazu wird ein Artikel aus dem deutschen Grundgesetz eingeblendet: „Die BRD ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand.“ Damit ist die Spur gelegt. Es geht um Radikalisierung bis zum Äussersten und um die Frage nach legitimem Widerstand: Wer darf Widerstand leisten? Was sind die angemessenen Mittel?
Nach dem Auftakt springt der Film in der Zeit zurück und zeigt die junge Frau (Mala Emde) zu Beginn ihrer Politisierung. Luisa heisst sie. Wir befinden uns mit ihr in der Gegenwart von 2019. Sie ist Jurastudentin aus Mannheim und wird von ihrer Freundin Batte (Luisa-Céline Gaffron) in die örtliche Antifa-Szene eingeführt. Batte bewohnt mit anderen Aktivist*innen das besetzte Haus p81. An ihrer Seite stehen der Polit-Macker Alfa (Noah Saavedra) und sein sensibler Sidekick Lenor (Tonio Schneider), die sich als Führungsduo der ansonsten eher anarchisch aufgestellten Kommune geben.
Der nie um einen sexistischen Spruch verlegene Alfa treibt die Handlung voran und treibt die anderen Figuren durch das Kommunenleben. Es wird gemeinsam gekocht, gesungen und vor allem: für den Kampf trainiert. „Entweder mitmachen oder abhauen. Zugucken ist nicht“, haut er Luisa an, die zuerst fasziniert daneben steht und sich dann fallen lässt. Sie geht mit den anderen containern, sie übt sich im Kickboxen. Und sie hilft schliesslich bei der grossen Demo gegen eine unschwer als AFD-Verschnitt erkennbare Rechtspartei aus.
Auf der Demo schafft sie es, einem der Securities das Handy zu klauen. Der Gruppentechniker Lenor knackt den Code und kommt an geheime Versammlungsdaten einer rechten Burschenschaft. Als die Gruppe loszieht, um die Nazis zu stören, ist es wieder Alfa, der mehr will, mehr Gewalt. Luisa unterstützt ihn. Es kommt zur Prügelei mit Verletzten auf beiden Seiten.
Die Gruppe macht trotzdem weiter, findet ein Materiallager der Rechten und stösst dabei auf Sprengstoff. Offensichtlich war ein Anschlag geplant. Batte und Lenor wollen zur Polizei gehen und das Ganze anzeigen, Luisa und Alfa wollen den Sprengstoff klauen und auf eigene Faust vernichten.
Recht auf Widerstand
Die Ereignisse überschlagen sich, als klar wird, dass die Bomben den Rechten von der Polizei untergeschoben wurden. Jetzt ist die Polizei auf einmal hinter den Antifas her, die mit illegalem Sprengstoff im Gepäck als Terroristen gelten.
Was tun? Aufgeben oder den letzten Schritt auch noch gehen? Mit der Waffe kämpfen, so wie wir Luisa gleich am Anfang gesehen haben? Oder mit Papas Anwalt zurück in die Bürgerlichkeit, wie es der Superanführer Alfa am Ende kleinlaut und eingeschüchtert machen wird?
Und morgen die ganze Welt erzählt den Weg in die politische Gewalt als unwiderstehliche Abwärtsspirale, die alles und alle mitreisst. Die Figuren stolpern fast wie in einem Noir-Krimi in ihr Verhängnis. Das Dumme ist nur, dass sie bei all dem spannenden Furor auch noch ständig über Politik reden müssen. Immer wenn die Gewaltfrage diskutiert wird, sinkt das Niveau der Dialoge auf Oberflächlichkeiten à la: Wir hatten zu einfache Antworten auf komplexe Probleme.
Das ist ärgerlich, aber es ist nicht das eigentliche Problem von Und morgen die ganze Welt. Die aktive politische Gewalt wird nur an der Oberfläche diskutiert, weil es nur scheinbar um sie geht. Tatsächlich liegt das wahre Gewaltverhältnis innerhalb der Gruppe – exemplarisch in der Beziehung zwischen Luisa und Alfa – im Geschlechterverhältnis.
Wie revolutionär auch immer die Hauptfiguren ihren Kampf artikulieren, sie verstricken sich dabei in filmästhetisch geradezu archaische Beziehungskisten, in denen mit passiv-aggressiver Gewalt Verliebte verführt werden und Machos andere ausbeuten und missbrauchen. „Stimmt es, dass du mit allen bei p81 schon mal was hattest?“, fragt Luisa Alfa. Der muss zur Antwort nur zufrieden die Augenbraue heben: So ist er halt. Luisa akzeptiert’s.
Und so liegt das eigentliche Potenzial des Films auch in der Möglichkeit einer Selbstkritik der aktivistischen Linken: Werden wir den eigenen Ansprüchen überhaupt gerecht? Fallen wir nicht immer wieder in genau die konservativen Rollenmuster zurück, die wir eigentlich kritisieren?
Leider verpufft dieses Potenzial sofort, wenn man wieder auf das grosse Ganze schaut, auf einen Film nämlich, der in sich überlagernden Bild- und Textzitaten von legitimem Widerstand in einer zunehmend nach rechts driftenden Gesellschaft erzählt. Schon während der ersten Viertelstunde stellt sich das Gefühl ein, dass Julia von Heinz Überblick und Kontrolle über die vielen anzitierten Widerstandserzählung verliert. Zuerst die Anfangsszene, die mit der bewaffneten jungen Frau vor Herbstlandschaft unmissverständlich die RAF heraufbeschwört.
Wer hat das Recht auf Widerstand? Die Frage wird aktiv gestellt, dann aber so unpräzise beantwortet, dass die Kategorien und besonders die Zeitebenen verschwimmen.
So ist das Thema Sexismus in der linken Bewegung auch heute noch aktuell. Eine Figur wie Alfa aber, die mit ihrem schnoddrigen Gelaber eher in die Neunziger – und damit in die Jugend der Regisseurin – passt, hat zum besseren Verständnis nichts beizutragen. Heute wird in Antifa-Kommunen so nicht mehr geredet. Es herrschen andere Kommunikationscodes, in denen sich auch verbale sexistische Gewalt anders äussert.
Zeitreise
Gleichzeitig führt der gelegentlich aufflackernde RAF-Kontext vollkommen in die Irre. Die Antifa hat sich immer wieder vehement gegen linksradikalen Kader-Terrorismus gestellt. RAF bedeutet stalinistischen Gehorsam. Das ist nichts für egalitäre und anarchische Antifaschist*innen.
Wo, oder besser: Wann befinden wir uns also? Die Frage ist nicht trivial. Denn der unsaubere Umgang mit grundverschiedenen Widerstandserzählungen führt den Film direkt in das bekannte rechte Narrativ: Links- und rechtsradikal sind im Grunde dasselbe. Oder, um es in Trumps Worten zu sagen: „There were very fine people on both sides.“
Beim letzten Scharmützel zwischen Polizei und Aktivist*innen sind die politischen Ziele und die Unterschiede zwischen den Widerstandsmotivationen dann auch so weit verwischt, dass die Riot Cops nur noch einer amorphen Masse gewaltbereiter junger Menschen gegenüberstehen.
Und ausgerechnet jetzt wird noch einmal das Grundgesetz zitiert: Es gibt ein Recht auf Widerstand gegen jeden Versuch, die grundgesetzliche Ordnung auszuhebeln. Was sonst sollte man denken, als dass hier die Polizei Widerstand leistet gegen einen politischen Aktivismus, der kaum der Gewalt abschwören will oder kann? Womit die Antifa aber in genau der Ecke landet, in der sie die sogenannte Neue Rechte gerne hätte: Krawallmacher*innen auf dem Weg in den Terrorismus.
Es ist kaum anzunehmen, dass Julia von Heinz auf dieses Ergebnis hinauswollte. Dafür zeigt sie zu viel Sympathie für ihre Figuren. Es passiert ihr aber, weil sie es nicht schafft, die handlungsbestimmenden Beziehungsgeflechte in Politik aufzulösen.
Damit bleibt die mögliche Kritik am Sexismus innerhalb der linken Szene eine Kritik am Fehlverhalten Einzelner, während die grosse Politik in Beziehungsgeplänkel verschwimmt, womit ihr jede diskursive Legitimation genommen wird.
Trotzdem wäre es falsch, den Film darauf zu reduzieren. Denn auf einer bestimmten Ebene funktioniert er gerade in den Momenten, in denen er scheitert. Er funktioniert, weil er die inhärente Selbstkritik der Linken auch dann nicht versteckt, wenn sie offensichtlich problematisch wird. Im Gegenteil, er trägt sie stolz vor sich her.
Und das in einer Zeit, in welcher das zweitwichtigste Propagandanarrativ der Rechten lautet, links der Mitte lauere eine selbstzufriedene Meinungsdiktatur. Und morgen die ganze Welt hat für diesen Blödsinn nicht mehr übrig als Luisas plötzliches und wunderbar tiefsinniges Lächeln kurz vor den Credits, das zu sagen scheint: „Versucht, das hier erst mal nachzumachen!“
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