Die Erde brennt und die Schule pennt

Die kürz­liche Beset­zung zweier Schweizer Gymna­sien gab viel zu reden. Unsere Kolum­ni­stin war dabei und meint: Hört zu! 
Für einmal ein anderer Tagesablauf in der besetzten Kantonsschule Enge, Zürich. (Foto: Gian Lusti)

Es ist Freitag Morgen und ich platze zehn Minuten verspätet in den Sport­un­ter­richt. Kaum eine Sekunde später fragt mich eine Kollegin: „Helena, weisst du etwas über diesen Klima­streik in der Schule heute?” Etwas verlegen darüber, nicht beson­ders gut infor­miert zu sein, verneine ich. Eine Gruppe Aktivist*innen will heute ein Gymna­sium in Basel besetzen, klären mich meine Kolle­ginnen auf. Man munkelt, es sei unser Gymna­sium, das Gymna­sium am Münsterplatz.

Das Wort „Beset­zung”, beson­ders weil es im glei­chen Satz wie „Schule” auftauchte, löste in meiner Klasse eine Welle der Aufre­gung aus. Auch in mir, muss ich sagen. Da wir nicht wussten, wie eine solche Beset­zung wohl aussehen würde, verwan­delte sich diese Welle der Aufre­gung in ein Tsunami von Neugier. Froh, dass ich mich nicht einmal für den Sport­un­ter­richt umge­zogen hatte, lief ich zusammen mit einigen Kolleg*innen zurück ins Schul­haus und – Ah! Siehe da. Ein grosses Plakat hing vor unserer Aula: „BESETZT! Von End Fossil Basel”.

„End Fossil: Occupy!” ist eine inter­na­tio­nale Jugend­be­we­gung, die sich für Klima­be­wusst­sein einsetzt, oft mit Beset­zungen. Am Freitag, den 3. Februar 2023, haben sie die Aula des Gymna­siums am Münster­platz in Basel besetzt. Auf dem Programm standen Vorträge, Diskus­sionen, ein gratis Zmittag und ein Gespräch, in dem wir Kritik an unserem Schul­sy­stem erar­bei­teten. Einige Tage später, am 7. Februar 2023, besetzte die Gruppe „Erde brennt: Occupy!” die Zürcher Kantons­schule Enge. Am Programm in Zürich nahmen zusätz­lich Jungpolitiker*innen und bekannte Aktivist*innen wie beispiels­weise die Femi­ni­stin Anna Rosen­wasser teil.

Die Forde­rungen beider Anlässe? Einen Ausbau der psycho­lo­gi­schen Betreuung an Schulen, mehr Frei­heit im Absen­zen­sy­stem, gratis Bildung für alle und die Behand­lung von aktu­ellen Krisen, insbe­son­dere der Klima­krise, im Unterricht.

In den vergan­genen Tagen wurde viel über beide Beset­zungen disku­tiert. Bürger­liche Politiker*innen beklagten sich; eine solche Aktion würde die Neutra­lität an unseren Schulen gefährden. Andere konnten sich mit der Dring­lich­keit der Anliegen iden­ti­fi­zieren und waren somit froh, dass sich an den Schulen nun auch etwas bewegte. Und während einige Lehr­per­sonen begei­stert waren, dass sich Schüler*innen für Politik inter­es­sieren und ihren Einsatz bewun­derten, ärgerten sich andere darüber, dass ihr Unter­richt gestört wurde. Die Diskus­sionen scheinen aber aller­seits stets bei einem Thema zu bleiben: Die Aktion der Schul­be­set­zung. Dabei sollte dieser Diskurs darüber hinaus gehen!

Über Akti­vismus und seine Formen zu spre­chen, ist unbe­streitbar wichtig, vor allem bei einer Schul­be­set­zung. Dies will ich diesem Thema gar nicht abspre­chen. Man wirft Aktivist*innen aber oft ganz gerne vor, sie würden bloss herum­schreien und stören. Konkrete Forde­rungen hätten sie nicht und das sei poli­tisch unproduktiv.

Einmal über den Schock und die Aufre­gung dieser Schul­be­set­zungen hinweg gesehen, wird aber klar: Die Schüler*innen haben infor­ma­tive Vorträge orga­ni­siert, disku­tiert, Dialog geschaffen und zusammen konkrete Kritik an unserem Schul­sy­stem formu­liert. Rumge­schrien hat keine*r. Es ist nicht das Problem, wenn ihr nicht damit einver­standen seid, wie diese Aktion durch­ge­führt wurde. Wenn ihr aus diesem Grund aber die Alarm­glocke über­hört, die von der Seite der Schüler*innen kommt, ist das hingegen bedauerlich.

Dafür, dass wir ohne Zweifel die Gesell­schafts­gruppe sind, die am meisten von der Schule geprägt ist, werden wir ziem­lich selten nach unserer Meinung gefragt.

Ob wir Schüler*innen uns an unseren Schulen wohl­fühlen, beein­flusst sehr direkt unser Allge­mein­be­finden und unsere mentale Gesund­heit. Wir haben Glück, wenn wir während der Woche Zeit für ausser­schu­li­sche Akti­vi­täten haben, ohne dabei andere wich­tige Sachen wie Schlaf auf der Strecke zu lassen. Dafür, dass wir ohne Zweifel die Gesell­schafts­gruppe sind, die am meisten von der Schule geprägt ist, werden wir ziem­lich selten nach unserer Meinung gefragt.

Glück­li­cher­weise haben die meisten Schulen ein Schüler*innenparlament, das versucht, das Leben in der Schule einfa­cher und schöner zu gestalten. Diese Parla­mente sind eine extrem gute Sache, haben aber einen sehr beschränkten Hand­lungs­spiel­raum. Ich bin selber seit vier Jahren im Schüler*innenparlament meiner Schule und kenne langsam die Abläufe. Auf lokaler Ebene kann man bestens für Verän­de­rung sorgen, aber sobald man einen Schritt weiter gehen will, heisst es dann: „Sorry, das ist Sache des Erziehungsdepartements”

Untouchable – so scheint uns das heilige Erzie­hungs­de­par­te­ment. Wer in der Diskus­sion über die Schul­be­set­zungen meint, man solle sich doch in Schüler*innenparlamenten enga­gieren, hat absolut recht. Das soll man unbe­dingt! Was man aber auch soll: wissen, dass grund­le­gende Verän­de­rung auf kanto­nalem und natio­nalem Level auf diesem Weg nicht möglich sein wird.

Es war sogar das erste Mal, dass wir über­haupt mitein­ander über Kritik am Schul­sy­stem gespro­chen haben. 

Es braucht nämlich mehr Dialog: Jetzt und immer! Es kann ja wohl nicht sein, dass ich als Matu­randin an einer Schul­be­set­zung das erste Mal das Gefühl hatte, dass Anliegen der Schüler*innenschaft wirk­lich gehört werden. Oder noch wich­tiger: Es war sogar das erste Mal, dass wir über­haupt mitein­ander über Kritik am Schul­sy­stem gespro­chen haben. Es war erleich­ternd, in einem Kreis mit Schüler*innen zu sitzen und zu reali­sieren, dass viele von uns die glei­chen Anliegen haben.

Vor allem jetzt, wo auf natio­naler Ebene über eine Maturare­form disku­tiert wird, die es zuletzt vor knapp 30 Jahren gab, sollte dieser Austausch zwischen den Schüler*innen und den Erzie­hungs­de­par­te­menten selbst­ver­ständ­lich sein. Damit meine ich nicht nur Q&As mit Politiker*innen oder einzelne Podi­ums­dis­kus­sionen, sondern einen ausge­wo­genen, ernst­haften und regel­mäs­sigen Kontakt. Der Gedanke daran, dass Schüler*innen viel­leicht erst in 30 Jahren wieder die nächste Chance haben, bei einer Reform des Schul­sy­stems wirk­lich mitspre­chen zu können, ist massiv enttäuschend.

Dass Schul­be­set­zungen und andere extreme Mass­nahmen keine nach­hal­tige Lösung sind, mag sein. Dass diese Schüler*innen die formel­leren Wege der Mitsprache als zu wenig wirkungs­voll ansehen, über­rascht mich aber kein biss­chen. Wir müssen aus diesen Beset­zungen nicht nur Diskus­sionen über den Akti­vismus und seine Formen mitnehmen, sondern auch ein Bewusst­sein dafür, dass es Platz für Kritik am Schul­sy­stem geben muss.

An all die (Jung-)Politiker*innen, die jetzt aus allen Ecken krie­chen und meinen, dass diese Diskus­sion über die Klima­krise und das Schul­sy­stem anders aussehen müsste: Also gut! Schafft doch Platz für einen solchen Austausch, orga­ni­siert euch und hört den Schüler*innen zu! Denn dazu­stehen und sich über eine extreme Mass­nahme zu beschweren, sich dabei aber zu weigern, den Schüler*innen zuzu­hören, ist, wie so oft von euch gesagt: unproduktiv.


Jour­na­lismus kostet

Die Produk­tion dieses Arti­kels nahm 16 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 1092 einnehmen.

Als Leser*in von das Lamm konsu­mierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demo­kratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produk­tion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rech­nung sieht so aus:

Soli­da­ri­sches Abo

Nur durch Abos erhalten wir finan­zi­elle Sicher­heit. Mit deinem Soli-Abo ab 60 CHF im Jahr oder 5 CHF im Monat unter­stützt du uns nach­haltig und machst Jour­na­lismus demo­kra­tisch zugäng­lich. Wer kann, darf auch gerne einen höheren Beitrag zahlen.

Ihr unter­stützt mit eurem Abo das, was ihr ohnehin von uns erhaltet: sorg­fältig recher­chierte Infor­ma­tionen, kritisch aufbe­reitet. So haltet ihr unser Magazin am Leben und stellt sicher, dass alle Menschen – unab­hängig von ihren finan­zi­ellen Ressourcen – Zugang zu fundiertem Jour­na­lismus abseits von schnellen News und Click­bait erhalten.

In der kriselnden Medi­en­welt ist es ohnehin fast unmög­lich, schwarze Zahlen zu schreiben. Da das Lamm unkom­mer­ziell ausge­richtet ist, keine Werbung schaltet und für alle frei zugäng­lich bleiben will, sind wir um so mehr auf eure soli­da­ri­schen Abos ange­wiesen. Unser Lohn ist unmit­telbar an eure Abos und Spenden geknüpft. Je weniger Abos, desto weniger Lohn haben wir – und somit weniger Ressourcen für das, was wir tun: Kriti­schen Jour­na­lismus für alle.

Ähnliche Artikel

Berühmt und brotlos

Unsere Kolumnistin maia arson crimew ist "die berühmteste Hackerin der Schweiz". Ihre aktivistische und journalistische Arbeit schlug international grosse Wellen. Trotzdem lebt sie am Existenzminimum – und so wie ihr geht es vielen Berühmtheiten heutzutage.