Die Kunst der Verwandlung

Die Ausstel­lung „VEE“ lädt die Betrachter*innen dazu ein, sich mit ihrem inneren Tier zu verbinden – mögliche Verwand­lung inklu­sive. Der Kurator Marcel Hörler und der Künstler Benjamin Egger nehmen uns mit in die Ausstel­lung und zeigen uns eine tieri­sche Seite der Kunst. 
Benjamin Egger, My Body Is Because of Dogs, 2020 (Foto: Benjamin Egger)

Der Hof Froh Ussicht in Sams­ta­gern liegt inmitten von male­ri­schen Hügeln und grünen Feldern, mit Aussicht auf den Zürichsee, die Berge und die Vorstadt. In der Ferne gackern Hühner. Dass hier eine zeit­ge­nös­si­sche Kunst­aus­stel­lung statt­finden soll, scheint eher unge­wöhn­lich. Und wie passt das über­haupt zusammen – Kunst und Bio-Hof?

Der 32-jährige Marcel Hörler ist der Kurator der Ausstel­lung VEE, also „Viech“. Für ihn soll eine Kunst­aus­stel­lung vor allem Fragen aufwerfen und zum Denken anregen.

„In der zeit­ge­nös­si­schen Kunst gibt es die Tendenz, Ausstel­lungen in einem White Cube zu veran­stalten und so die sozio­kul­tu­rellen, poli­ti­schen und wirt­schaft­li­chen Kontexte komplett auszu­blenden. Auf der einen Seite wird so ein Glanz, eine gewisse Magie um das Werk geschaffen, auf der anderen Seite besteht aber auch die Gefahr, dass so eine Mauer darum aufge­baut wird. Dadurch dass die Archi­tektur des Hofs neben den künst­le­ri­schen Praxen eben auch Kontexte bildet, entsteht hier eine span­nende Reibung zwischen den künst­le­ri­schen Inter­ven­tionen und dem Land­wirt­schafts­be­trieb als solches“, sagt er.

Der Hof Froh Ussicht. (Foto: Stefan Tschumi)

Auch die Verstrickung zwischen den Gene­ra­tionen auf dem Fami­li­enhof und dessen Wandel inter­es­sieren ihn als Ausstel­lungs­ma­cher. Der Bauer des Hofes Froh Ussicht, Martin Blum, sei eben­falls Künstler und bringe damit auch eine gewisse Offen­heit gegen­über dem Projekt und den Themen mit, die damit einher­gehen, sagt Marcel Hörler. Der Aufbau der Ausstel­lung sei in enger Zusam­men­ar­beit mit Martin Blum entstanden.

Das Viech in uns

Die Werke der Ausstel­lung befragen die Bezie­hung zwischen Menschen und Tieren und sinnieren darüber, wie eine mögliche Verwand­lung dieser Bezie­hung in Zukunft aussehen könnte. „In unserer Bezie­hung zum Tier spielen auch Unter­drückungs­me­cha­nismen mit, wenn es beispiels­weise um die Tier­hal­tung geht. Der Mensch baut Struk­turen auf und das Tier muss sich dann anpassen“, sagt Hörler. „Wir möchten mit dieser Ausstel­lung Gespräche darüber anregen, wie wir diese Haltung verän­dern können – ob im Kleinen oder global gesehen.“

Doch nicht nur der Mensch-Tier-Bezie­hung und deren mögli­chen Wandel, sondern auch der Erfor­schung des eigenen inneren Tieres und den Konstrukten „Mensch“ und „Tier“ will die Ausstel­lung einen Raum geben.

Badel/Sarbach, Hotties in the Neigh­bor­hood, 2020. (Foto: ProLitteris)

So erschafft das Künst­lerduo Badel/Sarbach ein Viech, welches man nicht sehen, aber erfühlen kann. Die Arbeit Hotties in the Neigh­bor­hood ist eine gewebte Instal­la­tion aus Schläu­chen, durch die heisses Wasser fliesst. Die Stellen, durch die das Wasser fliesst, formen die Silhou­ette eines Tieres. Das Viech besteht also nur in der Fantasie der Besucher*innen – ist sozu­sagen vom Menschen gemacht. Auch die Schläuche, die als Mate­rial auf einem Bauernhof alltäg­lich sind, erhalten so eine neue Funk­tion und fügen sich gleich­zeitig in das Bild des Hofes ein. Die Arbeit erforscht die Grenze zwischen mensch­li­chen und nicht-mensch­li­chen Körpern. Das Duo Badel/Sarbach hat das erschaf­fene Viech mit einer Wärme­bild­ka­mera foto­gra­fiert – dieses Bild ist aber nicht Teil der Ausstel­lung, sondern wird in der Publi­ka­tion erscheinen, welche an der Finis­sage Release feiert. Der Arbeit direkt gegen­über hängen zahl­reiche Plaketten, auf denen die ehema­ligen Zucht­kühe des Hofes abge­bildet sind. Diese Gegen­über­stel­lung vertieft die Fragen nach den Konstrukten „Mensch“ und „Tier“, die die Ausstel­lung aufwerfen will. Auch wird der Bauernhof als Ausstel­lungsort noch mal bewusster ins Zentrum gerückt – wie hat sich der Hof Froh Ussicht in der Vergan­gen­heit gewandelt?

Inner­halb der Ausstel­lung finden eben­falls „Hofge­spräche“ statt – in einem Tandem treffen sich ein*e Expert*in und ein*e Künstler*in und disku­tieren über ein im Vorfeld gewähltes Thema. So können Dialoge und auch mal Konflikte entstehen, die über das Ausstel­lungs­thema hinaus­gehen, sagt Marcel Hörler.

Die Ausstel­lung „VEE“
ist noch bis am 3. Oktober auf dem Hof Froh Ussicht in Sams­ta­gern geöffnet. Weitere Hofge­spräche finden am 13. September 2020 von 14–16 Uhr, die Finis­sage mit Perfor­mances und Release der Publi­ka­tion zur Ausstel­lung am 3. Oktober von 18–24 Uhr statt.

Im Juli fand beispiels­weise ein Gespräch zwischen dem Wein-Käse-Spezia­li­sten Hans Preisig, einem lang­jäh­rigen Kunden des Hofes und dem Künstler Daniel Hell­mann aka „Soya the Cow“ statt. Dabei kam es zu einer hitzigen Diskus­sion über Fleisch­konsum und Tier­hal­tung – der Künstler Hell­mann war der Meinung, dass auch Metz­ge­reien fleisch­lose Würste verkaufen könnten. Und Martin Blums Vater Alfred, der auf dem Hof Froh Ussicht früher die Vieh­zucht betrieb, sprach über die Bezie­hung zu seinen Kühen.

Wir sind nicht Mensch, ohne auch Tier zu sein

Ein Beispiel für die Ausein­an­der­set­zung der Mensch-Tier-Bezie­hung ist die Video­ar­beit My Body Is Because of Dogs des Zürcher Künst­lers Benjamin Egger. Diese befindet sich im Dach­ge­schoss jenes Gebäudes auf dem Hof, in dem sich auch das Atelier des Bauers Blum befindet. In seiner Arbeit lernen wir ein Rudel Stras­sen­hunde in Neu-Delhi kennen. Das Video ist mit einem vom Künstler verfassten Text unter­legt. Darin sinniert er über den evolu­tio­nären Einfluss des Hundes auf den Menschen. „Wir leben seit über 20’000 Jahren mit Hunden zusammen. Deswegen hat mich die Frage inter­es­siert: Wie hat das unser Selbst­ver­ständnis als Menschen geprägt?“

Eggers Arbeit fragt nach dem Einfluss des Hundes auf uns Menschen – nicht nur auf unser soziales Verhalten, sondern auch auf unsere biolo­gi­sche Entwick­lung. Dabei geht er davon aus, dass der Mensch nicht eine abge­schlos­sene Entität ist, sondern immer auch von den Tieren, die ihn umgeben – in diesem Falle den Hunden – beein­flusst sei.

Zehn Tage und Nächte hat der 39-jährige Künstler die wilden Hunde mit seiner Kamera begleitet. „Die Stras­sen­hunde sind frei lebende Tiere in einem vom Menschen besetzten Raum. In Indien werden Stras­sen­hunde als Mitbe­wohner der Stadt akzep­tiert und auch geschützt.“ Die Aufnahmen hat er vor allem nachts gemacht, denn tags­über ist die Stadt von Menschen über­füllt. „Nachts ist die Stadt wie eine andere Welt – sie gehört den Hunden.“

Als Betrachter*in beob­achten wir dieses ursprüng­liche Leben der Stras­sen­hunde in einem von Menschen erschaf­fenen Lebens­raum. Dabei stellt sich eben­falls die Frage: Wie viel Raum wollen wir einnehmen? Im Prozess seiner Arbeit wurde dem Künstler bewusst, dass es in der Co-Existenz von Mensch und Tier gewisser Zuge­ständ­nisse des Menschen bedarf. So habe in Neu-Delhi beispiels­weise jedes Auto eine Delle auf dem Dach, da die Hunde auf die Autos springen. Die Menschen hätten gelernt, damit zu leben. Seine Arbeit sei für ihn eine Mischung aus Forschung und Kunst­pro­jekt – dabei sei für ihn die Ästhetik des Videos und die Poetik in seinem Text ebenso wichtig gewesen wie der forschende Ansatz seiner Frage­stel­lung. „Meine Arbeit soll Fragen stellen und nicht Antworten gene­rieren“, sagt er abschliessend.

Kunst entdecken

Die Ausstel­lung VEE erstreckt sich über den ganzen Hof. So fügen sich manche Arbeiten in die weite Land­schaft ein, andere sind in der Hoftoi­lette versteckt. Es entsteht eine direkte Gegen­über­stel­lung der künst­le­ri­schen Posi­tionen zum land­wirt­schaft­li­chen Betrieb. Damit konfron­tiert die Ausstel­lung die Betrachter*innen konkret mit der Frage nach der ursprüng­li­chen Rolle des Menschen in der Natur. Wie wollen wir uns in Zukunft in die Natur einfügen, mit ihr im Einklang leben? Reden wir darüber.

 


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