Mit ihren Aktionen haben es die Aktivist*innen der „Letzten Generation“ (LG) geschafft, die Klimakrise wieder auf die tagespolitische Agenda zu bringen. Und das lediglich mit Aktionen in Kleingruppen, ein wenig Farbe oder Sekundenkleber. Diese Störaktionen ziehen den Hass der bürgerlichen Gesellschaft auf sich und dominieren die deutschsprachigen und sozialen Medien.
Die hasserfüllten Abwehrreaktionen auf Angriffe einer selbstverständlichen imperialen Lebensweise des Globalen Nordens zeigen, wie ideologisch aufgeladen die Debatte ist. Wie im ersten Teil beschrieben, handelt es sich hierbei um einen Habitus des globalen Nordens, die auf der Ausbeutung von Ressourcen des globalen Südens basiert. Zu sehen war dies anfangs dieser Woche auf den Strassen Berlins, wo „Chaoten“ der LG gleich mehrfach von Autofahrern physisch angegriffen wurden.
Aber was an ihrer Aktionsform ist es, das grosse Teile der Gesellschaft zur Weissglut treibt? Um das zu beantworten, müssen die Taktik, Strategie und Ziele der LG analysiert und mit anderen Ökologiebewegungen verglichen werden.
Die Letzte Generation – eine neue Ausrichtung der Klimabewegung?
Seit gut einem Jahr ist die LG in den deutschsprachigen Medien omnipräsent, wobei das Gros der Berichterstattung die Gruppe unkritisch ablehnt. So reiht sich eine empörte, effekthascherische Schlagzeile an die nächste. Überlegte und kritische Einordnungen der Aktionen wie auch der Reaktionen bleiben fast gänzlich aus.
Dabei sind die Forderungen der LG Deutschland alles andere als radikal: ein Tempolimit von 100 Kilometer pro Stunde und ein 9 Euro-Ticket zum Beispiel.
Selbiges gilt auch für die LG Österreich sowie den Schweizer Ableger „Renovate Switzerland“, deren zentrale Forderung die Gebäudesanierung ist. Sie alle verpflichten sich dabei der „freiheitlich demokratischen Grundordnung“, ihr Politikverständnis ist entsprechend liberal und reformistisch. Sie zielen also auf Massnahmen, die eigentlich gut umsetzbar wären. Ihre Aktionen stehen somit beispielhaft für einen liberalen, zivilen Ungehorsam.
Probleme der Ereignispolitik
Gegenwärtig lassen sich im westeuropäischen und insbesondere deutschsprachigen Raum grob drei Taktiken in der Klimabewegung erkennen, die sich in der Praxis überlappen. Die Letzte Generation kann hier in einigen Aspekten als eine Neuausrichtung klimapolitischer Taktiken gelten.
Generell werden Aktionen der Klimabewegung meist mit Besetzungen von Kohlegruben durch Ende Gelände (EG), Grossdemonstrationen von Fridays for Future (FfF) oder mit aufwendigen Strassenumzügen wie die von Extinction Rebellion (XR) assoziiert. Diese Aktionsformen folgen einer bestimmten Taktik: der „Ereignispolitik“, die aus kurzen und gezielten Aktionen besteht, die mediale Aufmerksamkeit erzeugen sollen.
In der digitalen Mediengesellschaft ist es schliesslich ein Muss, ständig Bilder, Stories und Headlines zu produzieren. Um die kurzlebige Aufmerksamkeit der Konsument*innen immer wieder zu erlangen, müssen denn auch die Aktionen der Klimaaktivist*innen dauernd wiederholt und sukzessive spektakulärer werden.
Die Aktionen der Klimabewegung zielen oft auf das Generieren von Followern und Klicks in den sozialen Medien ab. So greifen die kurzlebigen Kohlegrubenbesetzungen und Grossdemos die Infrastrukturen der kapitalistischen Lebensweise und Wirtschaftsform nicht wirklich an, sondern bleiben symbolisch und inszeniert.
Immer öfters fokussieren solche Aktionen auf kurzfristiges Spektakel, anstatt auf eine nachhaltige inhaltlich-strategische Fundierung. Die Schwäche dieser Aktionsformen liegt darin, dass Medien schnell das Interesse verlieren und immer kürzer und knapper berichten. Auch der bürgerliche Rechtsstaat kann stets besser vorbeugend einschreiten und die Polizeistrategie ist mittlerweile gut auf die Demos und Aktionstage abgestimmt. Zudem nimmt die Repression gegen und Kriminalisierung von Klimaaktivist*innen fortwährend zu.
Von der Ereignispolitik hebt sich die Taktik der dauerhaften Besetzung ab. Lützerath, der Hambacher Forst oder die zones à défendre (ZAD) in Frankreich und der Schweiz sind Beispiele hierfür. Hier ist der ökologische Kampf mehr als symbolisch, denn sozial und ökologisch wichtige Orte werden ganz direkt gegen Umweltzerstörungen besetzt und verteidigt.
In Lützerath und Sainte-Soline konnte man direkt erleben, wie sich der Staat gegen die Etablierung alternativer Lebensformen stellt und ökologische und demokratisch verwaltete Klimacamps dem Erdboden gleichmacht, um Rohstoffe für und somit Profite von privaten Unternehmen zu sichern. Die Kämpfe um besetzte Orte haben also eine klar materielle Komponente.
Ihre Stärke liegt gerade in der Zuspitzung des Klimakampfes: Im Gegensatz zur Ereignispolitik suchen Aktivist*innen den Ort des Protests nicht nur für ein paar Fotos auf. Vielmehr versuchen sie hier das besetzte Stück Land direkt der Inwertsetzung zu entreissen und selbst zum Ort einer neuen, ökologischen und nachhaltigen Lebensweise zu machen. Dabei sieht der bürgerliche Staat diese Aktionsformen als Gefahr an und gerät in Zugzwang, denn sie können die imperiale Lebensweise eher infrage stellen.
Die Protestform von der Letzten Generation überschneidet sich schliesslich sowohl mit diesen beiden Taktiken der anderen Klimabewegungen, unterscheidet sich aber auch von ihnen. Eine Parallele zu anderen Bewegungen liegt besonders in der Taktik des zivilen Ungehorsams. Denn auch die Letzte Generation möchte mit ihren Blockaden primär Aufmerksamkeit erzielen.
Doch es gibt auch entscheidende Unterschiede zu der vordergründig symbolischen Ereignispolitik anderer Klimabewegungen, die sich in vier Charakteristika zeigen: Die Blockaden von LG sind häufig, dezentral, ressourcenarm und unvorhersehbar. Die Strassenblockaden in urbanen Zentren greifen kontinuierlich in die Infrastrukturen einer hoch mobilen Gesellschaft und damit in den Herzkreislauf der imperialen Produktions- und Lebensweise ein, die uns die Klimakrise überhaupt erst beschert hat.
Sie führen auch dazu, dass sich der Staat auf die Aktionen nicht präventiv vorbereiten, geschweige denn sie verhindern kann. Darum gerät er umso mehr in einen repressiven Handlungszwang, denn die Aktionen richten sich gegen die materiellen und ideologischen Pulsschlagadern des fossilen Kapitalismus: gegen die fragilen Strassen- und Verkehrsnetze der Automobilität.
Der Staat zeigt sein wahres Gesicht: Repression statt Klimapolitik
Hier zeigt sich der innere Widerspruch bei der Letzen Generation: Die eskalative Taktik – ihre Aktionen erzeugen effektiv den Hass von bürgerlicher Gesellschaft und Staat – passt strategisch nicht zu ihrem liberalen Politikverständnis und ihren reformistischen Forderungen wie ein Tempolimit 100 auf Autobahnen.
Obwohl die LG den bürgerlichen Rechtsstaat mit ihren realpolitischen Forderungen bekräftigt, wird sie ausgerechnet von ihm zum Feind erklärt. Die Verhaftungen und Hausdurchsuchungen von LG-Aktivist*innen im Dezember letztes Jahr haben dies nochmals unterstrichen. Die Letzte Generation hält also – abgesehen von den bewussten Übertretungen – die Spielregeln dieser Gesellschaft grundsätzlich ein und stellt Forderungen, die auch im Parteibuch der SP oder der Grünen stehen könnten – doch der Staat überzieht sie dennoch mit Repression.
So erfährt die LG nun am eigenen Leib, dass der Staat keine neutrale Instanz ist, sondern eine Hegemonie, die kapitalistische und imperiale Interessen durchsetzt. Der Marxist Antonio Gramsci bezeichnete mit Hegemonie nicht etwa eine Herrschaft, die nur auf autoritärer Gewalt basiert, sondern primär auf politischer und kultureller Führung der kapitalistischen Klasse. Diese zielt auf einen Konsens der Bevölkerung zu den gesellschaftlichen Verhältnissen.
Die Herstellung des Konsenses passiert durch Ideologie in den politischen und vor allem kulturellen Bereichen der Gesellschaft. Hier wird besonders der Alltagsverstand der Bevölkerung im Interesse der kapitalistischen Klasse geprägt. Dies führt dazu, dass Produktions- und Lebensverhältnisse, Normen und Werte als normal und natürlich angesehen und im Alltag selbstverständlich praktiziert und nicht hinterfragt werden.
Die LG ist – wie viele ökologische Bewegungen im Westen – blind für diese bestehenden hegemonialen Machtverhältnisse. Diese unterwerfen weiterhin andere Weltregionen für die eigenen wirtschaftlichen Interessen und sind patriarchal und rassistisch strukturiert. Wenn die Letzte Generation ihr Verhältnis zu Staat und Kapital nicht begreift und ihre Strategie nicht daran anpasst, wird sie früher oder später mit ihrer liberalen Ausrichtung an der staatlichen Repression scheitern.
Eskalativer Multiplikator und Verbindung der Taktiken und Kämpfe
Zwar ist die Strategie der LG widersprüchlich und ihr politisches Verständnis limitiert. Trotzdem können solche Strassenblockaden wirkungsvoller sein, als viele denken. Ihr Potenzial liegt darin, dass sie den routinierten Lebensalltag unterbrechen: Sie stören unvorhersehbar und effektiv eine imperiale Lebensweise, die im Angesicht der Klimakrise so nicht mehr tragbar ist, und scheuchen dadurch die bürgerliche Gesellschaft auf.
Weil erst die Ideologie die kapitalistische Hegemonie so stabil macht, muss der Kampf gegen diese auch auf ideologischer Ebene geführt werden, indem das westliche Selbstverständnis, dessen Lebensweisen und Privilegien infrage gestellt werden. Hierbei gibt es wohl nichts, dass die westliche Ideologie von weisser Überlegenheit, Patriarchat und Besitz-Individualismus so verkörpert wie die Automobilität.
Deshalb kann sich diese Aktionsform im Vergleich zu denen symbolischer Art eines Eskalationshebels gewiss sein. Doch um diesen Eskalationshebel zu betätigen, muss die Aktionsform der LG strategisch radikalisiert werden. Dann könnten sie als eskalativer Multiplikator funktionieren: Die Blockaden können direkt an Kämpfe gegen Produktionsstätten des fossilen Kapitals – wie z.B. gegen Kupferminen in Chile oder Bohrinseln im Nigerdelta – anknüpfen und sie räumlich und zeitlich ausweiten.
Zum einen durch Sabotage, Blockaden und Besetzungen entlang der Wertschöpfungsketten und Transportwege der Güter vom Globalen Süden in den Norden. Zum anderen durch Blockaden in den konsumierenden urbanen Zentren, die den zerstörerischen Luxus-Lifestyle der Reichen immer wieder zielgerichtet und nadelstichartig unterbrechen. Dadurch könnte klarer verbunden werden, wie der Lebensstil wesentlicher Gesellschaftsteilen hier mit der Ausbeutung, Unterdrückung und Zerstörung anderenorts zusammenhängt.
Dazu ein Beispiel: Seit dem russischen Angriffskrieg ist die europäische Versorgung mit fossilen Brennstoffen gefährdet. Europäische Länder und westliche Grosskonzerne suchen darum fiebrig nach Alternativen. Dies hat einen Gas-Boom und eine neoimperiale Neuaufteilung des afrikanischen Kontinents durch westliche Staaten und Konzerne in Gang gesetzt. Diese versuchen sich hier die Ressourcen zu sichern.
So werden in Ländern wie Mozambique oder Algerien Grossprojekte beschlossen, um Gasvorkommen auszubeuten. Dagegen regt sich vor Ort auch zivilgesellschaftlicher Widerstand. Genau diesen könnten Klimagerechtigkeitsbewegungen im globalen Norden entlang der Ausbeutungs- oder Wertschöpfungskette eskalativ multiplizieren.
So könnte beispielsweise der Betrieb oder der Bau von Pipelinenetzen von Afrika nach Europa oder LNG-Offshore-Terminals in der Nord- und Ostsee oder Barcelona gemeinsam mit lokalen Arbeiter*innen (wie Hafen- oder Bahnarbeiter*innen) angegriffen werden sowie durch Blockaden den exzessiven Verbrauch der Privilegierten in den westlichen Metropolen ins Stocken bringen.
Die Taktik der LG als eskalativer Multiplikator kann also mit ihren Stärken – häufig, dezentral, ressourcenarm und unvorhersehbar – die Kritik an kapitalistischen Produktions- und Konsumationsweisen in der Praxis verbinden. Den Konzernen kein ruhiges Ausbeuten im Hinterland, den Bonzen keinen ungestörten imperialen Lifestyle in den Metropolen!
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