Die „Nach­barn“ waren nicht nur Opfer

Am 10. Juli jährt sich der Pogrom von Jedw­abne zum 80. Mal. In nur einer Nacht ermor­dete die polnisch-katho­li­sche Hälfte der Bevöl­ke­rung die polnisch-jüdi­sche Hälfte. Der Histo­riker Jan Tomasz Gross über Geschichts­re­vi­sio­nismus, verges­sene Dissident:innen und die Rolle der katho­li­schen Kirche in Polen. 
In der polnischen Stadt Jedwabne wurden bei einem Pogrom 1941 schätzungsweise zwischen 1000 und 1600 Menschen ermordet (Illustration: Luca Mondgenas).

Das Lamm: Herr Gross, wenn einer ihrer Studie­renden fragen würde, was vor 80 Jahren in Jedw­abne geschah, was würden sie antworten?

Jan Tomasz Gross: Jedw­abne ist eine kleine Stadt im Osten Polens. Der ethni­sche Mix war damals vor 80 Jahren vergli­chen mit anderen Ortschaften in der Region nicht sehr komplex, das Städt­chen bestand zur einen Hälfte aus katho­li­schen Pol:innen und zur anderen aus polni­schen Jüd:innen. Am 10. Juli 1941 wurde die jüdi­sche Bevöl­ke­rung des kleinen ostpol­ni­schen Städt­chens Jedw­abne von der anderen, polnisch-katho­li­schen Hälfte der Bevöl­ke­rung ermordet.

Solche Pogrome trugen sich in den frühen Phasen des Vordrin­gens der Wehr­macht in den Osten in zahl­rei­chen Ortschaften zu. Nach allem, was wir wissen, wurden in Jedw­abne zwischen 1000 und 1600 Menschen ermordet.

Dennoch würde man gerade im heutigen Polen nicht von jeder Person dieselbe Antwort auf die Frage erhalten, was sich 1941 in Jedw­abne zuge­tragen hat.

Dieser Pogrom fand im Rahmen des deut­schen Angriffs auf die Sowjet­union statt, nachdem Nazi­deutsch­land den Hitler-Stalin-Pakt gebro­chen hatte und die Wehr­macht in Polen einmar­schiert war. Die Wehr­machts­sol­daten töteten auf ihrem Weg in den Osten zum einen die Jüd:innen in den Dörfern, die sie besetzten, zum anderen erlaubten sie aber auch der lokalen Bevöl­ke­rung als Besat­zungs­macht, die jüdi­schen Mitbürger:innen zu töten.

In den zwei Monaten nach Jedw­abne gab es mehrere solcher Pogrome. Jedw­abne hebt sich dadurch ab, dass dort so viele Menschen ermordet wurden.Jan Tomasz Gross ist ein polnisch-ameri­ka­ni­scher Histo­riker. Gross wurde 1947 in Warschau geboren. Seit 2003 ist er Professor für Geschichte an der Prin­ceton Univer­sity im US-Bundes­staat New Jersey. Gross war unter anderem Gast­pro­fessor an der Harvard- und der Stan­ford Univer­sity, sowie in Paris, Wien, Krakau und Tel-Aviv. Inter­na­tional bekannt wurde Gross durch sein Buch «Nach­barn» aus dem Jahr 2001. Darin beschreibt er die Ermor­dung der jüdi­schen Bewohner:innen der polni­schen Klein­stadt Jedw­abne durch einen Pogrom ihrer Mitbürger:innen


Jan Tomasz Gross ist ein polnisch-ameri­ka­ni­scher Histo­riker. Gross wurde 1947 in Warschau geboren. Seit 2003 ist er Professor für Geschichte an der Prin­ceton Univer­sity im US-Bundes­staat New Jersey. Gross war unter anderem Gast­pro­fessor an der Harvard- und der Stan­ford Univer­sity, sowie in Paris, Wien, Krakau und Tel-Aviv. Inter­na­tional bekannt wurde Gross durch sein Buch «Nach­barn» aus dem Jahr 2001. Darin beschreibt er die Ermor­dung der jüdi­schen Bewohner:innen der polni­schen Klein­stadt Jedw­abne durch einen Pogrom ihrer Mitbürger:innen


Vor der Veröf­fent­li­chung ihres Buches «Nach­barn» im Jahr 2001 war in Polen die Annahme verbreitet, wonach die Besatzer der Wehr­macht die Jüd:innen in Jedw­abne getötet haben. Was hat sich seither verändert?

Nach der Veröf­fent­li­chung des Buches wurde vom IPN (Instytut Pamięci Naro­dowej), dem Institut für Natio­nales Gedenken, eine umfang­reiche Ermitt­lung einge­leitet, um aufzu­decken, ob das, was ich schreibe, wirk­lich stimmt. 2002 erschien eine zwei­bän­dige histo­ri­sche Publi­ka­tion über 1’500 Seiten, die meine Erkennt­nisse anhand zahl­rei­cher Doku­mente stützte. Zeit­gleich wurde eine juri­sti­sche Ermitt­lung einge­leitet, um die Taten aus straf­recht­li­cher Sicht auszu­leuchten und die Verant­wort­li­chen zu benennen. Auch diese Unter­su­chung kam zu dem Schluss, dass die polni­schen «Nach­barn» ihre Mitbürger:innen ermordet haben. 

Der poli­tisch gewollte histo­ri­sche Revi­sio­nismus, der heute in Teilen der polni­schen Öffent­lich­keit vorherrscht, begann erst mit dem Erstarken der jetzt regie­renden PIS Ende der Nuller­jahre und fand seinen wich­tig­sten öffent­li­chen Ausdruck 2016 als der PIS-Gefolgs­mann Jarosław Szarek als neuer Direktor des IPN ernannt wurde. Als Szarek im Rahmen seiner Nomi­nie­rung im polni­schen Parla­ment zu Jedw­abne befragt wurde, sagte er: Die Deut­schen haben das getan, die Polen trifft keine Schuld. Er bekam den Posten.

Welches Geschichts­bild propa­giert Szarek seither im Auftrag der PIS?

Das Schlüs­sel­ele­ment dieser neuen poli­ti­schen Geschichts­schrei­bung ist eine Umdeu­tung des Holo­causts in eine Erzäh­lung, in der die Zusam­men­ar­beit, Kolla­bo­ra­tion und auch der  Oppor­tu­nismus mancher Pol:innen inner­halb der Juden­ver­fol­gung ausge­blendet wird. Es geht um nichts Gerin­geres als die symbo­li­sche Bedeu­tung des Zweiten Weltkriegs.

Natür­lich wurden Millionen von Pol:innen Opfer der Beset­zung und des Krieges, aber in einem natio­nalen Narrativ gilt es, Unein­deu­tig­keiten auszu­halten. Es gibt nicht immer nur Opfer und Täter. Es gilt anzu­er­kennen, dass Menschen, die schreck­lich unter der Besat­zung und später dem Krieg litten, selbst auch grau­same Täter:innen sein konnten.

Die Nach­barn in Jedw­abne etwa hatten auch von der Auflö­sung jüdi­scher Vermögen profi­tiert. In ganz Polen fanden Enteig­nungen, Plün­de­rungen und Dieb­stähle statt, die bis heute uner­forscht sind. Zuzu­ge­stehen, dass zahl­reiche Pol:innen an der Juden­ver­nich­tung betei­ligt waren, würde jedoch den Mythos, wonach Pol:innen Opfer und nur Opfer waren, stören.

Jan Tomasz Gross forscht zum Pogrom in Jedw­abne. (Foto: Wiki­media Commons)

In zahl­rei­chen Ländern Europas waren Teile der lokalen Bevöl­ke­rung aktiv an der Juden­ver­fol­gung betei­ligt. Welche Unter­schiede dazu erkennen Sie in Polen?

Dieser Aspekt des Holo­causts, die Bezie­hung zwischen jüdi­scher Popu­la­tion und nicht-jüdi­scher Popu­la­tion in besetzten Gebieten in Europa und das Invol­vement dieser nicht-jüdi­schen Bevöl­ke­rung in der Juden­ver­fol­gung, ist ein zentrales Element in der Histo­rio­gra­phie des Holo­causts in der heutigen Forschung.

Im Hinblick auf Polen exzep­tio­nell ist jedoch, dass vor dem Krieg sehr viele Jüd:innen dort lebten. Mehr als in jedem anderen euro­päi­schen Land.

Etwas mehr als drei Millionen, oder?

Schät­zungen gehen von 3.3 Millionen aus. Das mag in einem Land mit einer Bevöl­ke­rung von damals rund 36 Millionen nach wenig klingen. Aber die Jüd:innen stellten ein Drittel der urbanen Popu­la­tion in Polen. Im Westen des Landes gab es nicht so viele Jüd:innen, aber in der Mitte und im Osten Polens machten Jüd:innen mancher­orts 40%, 50% oder gar 75% der Bevöl­ke­rung in den städ­ti­schen Ballungs­zen­tren aus.

Was in diesen kleinen Dörfern geschah, ist der Beginn des Holo­causts. Bis im Sommer 1941 wurden Jüd:innen ausge­beutet und in Ghettos gesteckt. Natür­lich starben viele an Hunger, durch Gewalt oder an Krank­heiten. Aber die Massen­tö­tungen von Zivilist:innen begannen erst mit dem Über­fall auf Polen im Sommer 1941.

Sie haben gesagt, dass das, was in Jedw­abne geschehen ist – die Koope­ra­tion zwischen Lokal­be­völ­ke­rung und Wehr­macht – in vielen Dörfern in Ostpolen passierte. Das Motiv wird doch kaum einfach Gier gewesen sein.

Als die Deut­schen 1941 die Sowjet­union über­fielen, profi­tierten sie von einer bereits bestehenden Anti­pa­thie vieler Pol:innen gegen den jüdi­schen Teil der Bevöl­ke­rung. Ein wich­tiges Element des Anti­se­mi­tismus in Osteu­ropa ist die ange­nom­mene Fusion von Judentum und Kommu­nismus. Die Deut­schen marschierten ein, die Kommunist:innen wurden zurück­ge­trieben und die Jüd:innen ange­griffen als eine Art Substitut, als wären sie kommu­ni­sti­sche Agent:innen. Alles an dieser Wahr­neh­mung entbehrt jegli­cher Grund­lage, aber die Annahme, wonach Jüd:innen und Kommunist:innen in einer Allianz standen, besteht in vielen Köpfen bis heute fort.

Gab es in den betrof­fenen Ortschaften denn auch Wider­stand von Seiten der Bevölkerung?

Dass wir über die Massen­exe­ku­tionen in Jedw­abne so viel wissen, liegt daran, dass es Menschen gab, die diese Gräuel doku­men­tierten und sich ihnen entge­gen­stellten. In dem kleinen Dorf Janc­zewko nahe Jedw­abne etwa lebte eine Frau, welche sieben Jüd:innen bei sich aufnahm und versteckte. Einer von ihnen schrieb nach dem Krieg einen Augen­zeu­gen­be­richt zu Jedw­abne. Es ist dieser Bericht, der das Inter­esse für das, was in Jedw­abne geschehen war, über­haupt erst weckte. Auch meine Forschung geht in Teilen darauf zurück. Die Frau, die ihn und die anderen versteckt hatte, wurde nach dem Krieg fast totge­schlagen, über­lebte schwer verletzt und floh. Sie starb kurze Zeit nach der Veröf­fent­li­chung von «Nach­barn».

Gibt es in oder um Jedw­abne eine jüdi­sche Diaspora? Kamen die Menschen jemals zurück?

Nein. Der jüdi­sche Bevöl­ke­rungs­an­teil in Polen ist Stand heute minimal. Unge­fähr 8000–12’000 Personen. Die Jüd:innen, die heute noch in Polen leben, wohnen in den grös­seren Agglo­me­ra­tionen um Warschau, Krakau oder Breslau.

Waren sie jemals selbst in Jedwabne?

Ja, mehr­mals. Zum einen im Rahmen meiner Forschung und zum anderen zum 60. Jahrestag des Pogroms am 10. Juli 2001. Der dama­lige Präsi­dent Polens, Aleksander Kwaś­niewski, reiste an und Vertreter:innen des jüdi­schen Glau­bens und auch des Staates Israel waren einge­laden. Die Bevöl­ke­rung von Jedw­abne blieb jedoch zuhause. Das Dorf hatte einen anti­se­mi­ti­schen Prie­ster, der dazu aufge­rufen hatte, sich zu distanzieren.

Auf Bildern im Internet ist zu sehen, dass das Gedenk­mo­nu­ment in Jedw­abne immer wieder geschändet wurde – beschmiert mit Haken­kreuzen oder anti­se­mi­ti­schen Parolen…

Die lokale Bevöl­ke­rung, von einigen Ausnahmen abge­sehen, verleugnet das Geschehen. Nicht alle Fami­lien, die heute dort leben, sind die Nachfahr:innen der Täter:innen von damals, aber viele. Davon will man nichts wissen. Schuld daran ist nebst der revi­sio­ni­sti­schen Politik der natio­nal­kon­ser­va­tiven PIS vor allem die katho­li­sche Kirche in Polen.

Inwie­fern?

Nach der Veröf­fent­li­chung von «Nach­barn» erhielt ich unzäh­lige Nach­richten, Drohungen und Belei­di­gungen. Das Medium, das jedoch am meisten Hetze gegen mich und mein Buch betrieb, und dies entlang einer anti­se­mi­ti­schen Argu­men­ta­ti­ons­linie, war Radio Maria des Medi­en­un­ter­neh­mers und Prie­sters Tadeusz Rydzyk.

In einem Report, der dem US-Kongress zum Thema globaler Anti­se­mi­tismus vorge­legt wurde, wird auf Rydzyk und seine erzkon­ser­va­tiven Medien Bezug genommen: «Eines der am offen­sten anti­se­mi­ti­schen Medien Europas», steht da.

Natür­lich sind nicht alle Katholik:innen in Polen Antisemit:innen, wohl aber die Stimmungsmacher:innen und einfluss­reich­sten Kleriker.

Wird es für den 80. Jahrestag des Pogroms eine Gedenk­ver­an­stal­tung in Jedw­abne geben?

Einzelne Menschen werden bestimmt dorthin gehen. Pol:innen besu­chen die Gedenk­stätte genauso wie Jüd:innen aus dem Ausland oder inter­es­sierte Tourist:innen. Von der PIS-Regie­rung ist für den 80. Jahrestag jedoch keine Veran­stal­tung zu erwarten.


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