Das Lamm: Herr Gross, wenn einer ihrer Studierenden fragen würde, was vor 80 Jahren in Jedwabne geschah, was würden sie antworten?
Jan Tomasz Gross: Jedwabne ist eine kleine Stadt im Osten Polens. Der ethnische Mix war damals vor 80 Jahren verglichen mit anderen Ortschaften in der Region nicht sehr komplex, das Städtchen bestand zur einen Hälfte aus katholischen Pol:innen und zur anderen aus polnischen Jüd:innen. Am 10. Juli 1941 wurde die jüdische Bevölkerung des kleinen ostpolnischen Städtchens Jedwabne von der anderen, polnisch-katholischen Hälfte der Bevölkerung ermordet.
Solche Pogrome trugen sich in den frühen Phasen des Vordringens der Wehrmacht in den Osten in zahlreichen Ortschaften zu. Nach allem, was wir wissen, wurden in Jedwabne zwischen 1000 und 1600 Menschen ermordet.
Dennoch würde man gerade im heutigen Polen nicht von jeder Person dieselbe Antwort auf die Frage erhalten, was sich 1941 in Jedwabne zugetragen hat.
Dieser Pogrom fand im Rahmen des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion statt, nachdem Nazideutschland den Hitler-Stalin-Pakt gebrochen hatte und die Wehrmacht in Polen einmarschiert war. Die Wehrmachtssoldaten töteten auf ihrem Weg in den Osten zum einen die Jüd:innen in den Dörfern, die sie besetzten, zum anderen erlaubten sie aber auch der lokalen Bevölkerung als Besatzungsmacht, die jüdischen Mitbürger:innen zu töten.
In den zwei Monaten nach Jedwabne gab es mehrere solcher Pogrome. Jedwabne hebt sich dadurch ab, dass dort so viele Menschen ermordet wurden.Jan Tomasz Gross ist ein polnisch-amerikanischer Historiker. Gross wurde 1947 in Warschau geboren. Seit 2003 ist er Professor für Geschichte an der Princeton University im US-Bundesstaat New Jersey. Gross war unter anderem Gastprofessor an der Harvard- und der Stanford University, sowie in Paris, Wien, Krakau und Tel-Aviv. International bekannt wurde Gross durch sein Buch «Nachbarn» aus dem Jahr 2001. Darin beschreibt er die Ermordung der jüdischen Bewohner:innen der polnischen Kleinstadt Jedwabne durch einen Pogrom ihrer Mitbürger:innen
Jan Tomasz Gross ist ein polnisch-amerikanischer Historiker. Gross wurde 1947 in Warschau geboren. Seit 2003 ist er Professor für Geschichte an der Princeton University im US-Bundesstaat New Jersey. Gross war unter anderem Gastprofessor an der Harvard- und der Stanford University, sowie in Paris, Wien, Krakau und Tel-Aviv. International bekannt wurde Gross durch sein Buch «Nachbarn» aus dem Jahr 2001. Darin beschreibt er die Ermordung der jüdischen Bewohner:innen der polnischen Kleinstadt Jedwabne durch einen Pogrom ihrer Mitbürger:innen
Vor der Veröffentlichung ihres Buches «Nachbarn» im Jahr 2001 war in Polen die Annahme verbreitet, wonach die Besatzer der Wehrmacht die Jüd:innen in Jedwabne getötet haben. Was hat sich seither verändert?
Nach der Veröffentlichung des Buches wurde vom IPN (Instytut Pamięci Narodowej), dem Institut für Nationales Gedenken, eine umfangreiche Ermittlung eingeleitet, um aufzudecken, ob das, was ich schreibe, wirklich stimmt. 2002 erschien eine zweibändige historische Publikation über 1’500 Seiten, die meine Erkenntnisse anhand zahlreicher Dokumente stützte. Zeitgleich wurde eine juristische Ermittlung eingeleitet, um die Taten aus strafrechtlicher Sicht auszuleuchten und die Verantwortlichen zu benennen. Auch diese Untersuchung kam zu dem Schluss, dass die polnischen «Nachbarn» ihre Mitbürger:innen ermordet haben.
Der politisch gewollte historische Revisionismus, der heute in Teilen der polnischen Öffentlichkeit vorherrscht, begann erst mit dem Erstarken der jetzt regierenden PIS Ende der Nullerjahre und fand seinen wichtigsten öffentlichen Ausdruck 2016 als der PIS-Gefolgsmann Jarosław Szarek als neuer Direktor des IPN ernannt wurde. Als Szarek im Rahmen seiner Nominierung im polnischen Parlament zu Jedwabne befragt wurde, sagte er: Die Deutschen haben das getan, die Polen trifft keine Schuld. Er bekam den Posten.
Welches Geschichtsbild propagiert Szarek seither im Auftrag der PIS?
Das Schlüsselelement dieser neuen politischen Geschichtsschreibung ist eine Umdeutung des Holocausts in eine Erzählung, in der die Zusammenarbeit, Kollaboration und auch der Opportunismus mancher Pol:innen innerhalb der Judenverfolgung ausgeblendet wird. Es geht um nichts Geringeres als die symbolische Bedeutung des Zweiten Weltkriegs.
Natürlich wurden Millionen von Pol:innen Opfer der Besetzung und des Krieges, aber in einem nationalen Narrativ gilt es, Uneindeutigkeiten auszuhalten. Es gibt nicht immer nur Opfer und Täter. Es gilt anzuerkennen, dass Menschen, die schrecklich unter der Besatzung und später dem Krieg litten, selbst auch grausame Täter:innen sein konnten.
Die Nachbarn in Jedwabne etwa hatten auch von der Auflösung jüdischer Vermögen profitiert. In ganz Polen fanden Enteignungen, Plünderungen und Diebstähle statt, die bis heute unerforscht sind. Zuzugestehen, dass zahlreiche Pol:innen an der Judenvernichtung beteiligt waren, würde jedoch den Mythos, wonach Pol:innen Opfer und nur Opfer waren, stören.
In zahlreichen Ländern Europas waren Teile der lokalen Bevölkerung aktiv an der Judenverfolgung beteiligt. Welche Unterschiede dazu erkennen Sie in Polen?
Dieser Aspekt des Holocausts, die Beziehung zwischen jüdischer Population und nicht-jüdischer Population in besetzten Gebieten in Europa und das Involvement dieser nicht-jüdischen Bevölkerung in der Judenverfolgung, ist ein zentrales Element in der Historiographie des Holocausts in der heutigen Forschung.
Im Hinblick auf Polen exzeptionell ist jedoch, dass vor dem Krieg sehr viele Jüd:innen dort lebten. Mehr als in jedem anderen europäischen Land.
Etwas mehr als drei Millionen, oder?
Schätzungen gehen von 3.3 Millionen aus. Das mag in einem Land mit einer Bevölkerung von damals rund 36 Millionen nach wenig klingen. Aber die Jüd:innen stellten ein Drittel der urbanen Population in Polen. Im Westen des Landes gab es nicht so viele Jüd:innen, aber in der Mitte und im Osten Polens machten Jüd:innen mancherorts 40%, 50% oder gar 75% der Bevölkerung in den städtischen Ballungszentren aus.
Was in diesen kleinen Dörfern geschah, ist der Beginn des Holocausts. Bis im Sommer 1941 wurden Jüd:innen ausgebeutet und in Ghettos gesteckt. Natürlich starben viele an Hunger, durch Gewalt oder an Krankheiten. Aber die Massentötungen von Zivilist:innen begannen erst mit dem Überfall auf Polen im Sommer 1941.
Sie haben gesagt, dass das, was in Jedwabne geschehen ist – die Kooperation zwischen Lokalbevölkerung und Wehrmacht – in vielen Dörfern in Ostpolen passierte. Das Motiv wird doch kaum einfach Gier gewesen sein.
Als die Deutschen 1941 die Sowjetunion überfielen, profitierten sie von einer bereits bestehenden Antipathie vieler Pol:innen gegen den jüdischen Teil der Bevölkerung. Ein wichtiges Element des Antisemitismus in Osteuropa ist die angenommene Fusion von Judentum und Kommunismus. Die Deutschen marschierten ein, die Kommunist:innen wurden zurückgetrieben und die Jüd:innen angegriffen als eine Art Substitut, als wären sie kommunistische Agent:innen. Alles an dieser Wahrnehmung entbehrt jeglicher Grundlage, aber die Annahme, wonach Jüd:innen und Kommunist:innen in einer Allianz standen, besteht in vielen Köpfen bis heute fort.
Gab es in den betroffenen Ortschaften denn auch Widerstand von Seiten der Bevölkerung?
Dass wir über die Massenexekutionen in Jedwabne so viel wissen, liegt daran, dass es Menschen gab, die diese Gräuel dokumentierten und sich ihnen entgegenstellten. In dem kleinen Dorf Janczewko nahe Jedwabne etwa lebte eine Frau, welche sieben Jüd:innen bei sich aufnahm und versteckte. Einer von ihnen schrieb nach dem Krieg einen Augenzeugenbericht zu Jedwabne. Es ist dieser Bericht, der das Interesse für das, was in Jedwabne geschehen war, überhaupt erst weckte. Auch meine Forschung geht in Teilen darauf zurück. Die Frau, die ihn und die anderen versteckt hatte, wurde nach dem Krieg fast totgeschlagen, überlebte schwer verletzt und floh. Sie starb kurze Zeit nach der Veröffentlichung von «Nachbarn».
Gibt es in oder um Jedwabne eine jüdische Diaspora? Kamen die Menschen jemals zurück?
Nein. Der jüdische Bevölkerungsanteil in Polen ist Stand heute minimal. Ungefähr 8000–12’000 Personen. Die Jüd:innen, die heute noch in Polen leben, wohnen in den grösseren Agglomerationen um Warschau, Krakau oder Breslau.
Waren sie jemals selbst in Jedwabne?
Ja, mehrmals. Zum einen im Rahmen meiner Forschung und zum anderen zum 60. Jahrestag des Pogroms am 10. Juli 2001. Der damalige Präsident Polens, Aleksander Kwaśniewski, reiste an und Vertreter:innen des jüdischen Glaubens und auch des Staates Israel waren eingeladen. Die Bevölkerung von Jedwabne blieb jedoch zuhause. Das Dorf hatte einen antisemitischen Priester, der dazu aufgerufen hatte, sich zu distanzieren.
Auf Bildern im Internet ist zu sehen, dass das Gedenkmonument in Jedwabne immer wieder geschändet wurde – beschmiert mit Hakenkreuzen oder antisemitischen Parolen…
Die lokale Bevölkerung, von einigen Ausnahmen abgesehen, verleugnet das Geschehen. Nicht alle Familien, die heute dort leben, sind die Nachfahr:innen der Täter:innen von damals, aber viele. Davon will man nichts wissen. Schuld daran ist nebst der revisionistischen Politik der nationalkonservativen PIS vor allem die katholische Kirche in Polen.
Inwiefern?
Nach der Veröffentlichung von «Nachbarn» erhielt ich unzählige Nachrichten, Drohungen und Beleidigungen. Das Medium, das jedoch am meisten Hetze gegen mich und mein Buch betrieb, und dies entlang einer antisemitischen Argumentationslinie, war Radio Maria des Medienunternehmers und Priesters Tadeusz Rydzyk.
In einem Report, der dem US-Kongress zum Thema globaler Antisemitismus vorgelegt wurde, wird auf Rydzyk und seine erzkonservativen Medien Bezug genommen: «Eines der am offensten antisemitischen Medien Europas», steht da.
Natürlich sind nicht alle Katholik:innen in Polen Antisemit:innen, wohl aber die Stimmungsmacher:innen und einflussreichsten Kleriker.
Wird es für den 80. Jahrestag des Pogroms eine Gedenkveranstaltung in Jedwabne geben?
Einzelne Menschen werden bestimmt dorthin gehen. Pol:innen besuchen die Gedenkstätte genauso wie Jüd:innen aus dem Ausland oder interessierte Tourist:innen. Von der PIS-Regierung ist für den 80. Jahrestag jedoch keine Veranstaltung zu erwarten.
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