Zürich, 2027: Die Stadt­bäume sind tot, die Sonne scheint – und niemand ist draussen

Stellen Sie sich vor: Die Bedro­hung unserer Stadt­bäume wird unter den Tisch gekehrt, und sie mutieren zu Super­all­er­genen oder sterben ab. Was bleibt? Armse­lige Mittel­meer­bü­sche, Indoor-Sport­arten – und Ferien in Putin­grad. Eine Dystopie. 
Die Nastuch-Industrie verzeichnet Wachstum im dreistelligen Bereich: Der Anteil von AllergikerInnen an der Gesamtbevölkerung verdoppelte sich auf über 30%. (Illustration: Gaia Giacomelli)

Ich schreibe das Jahr 2027, es ist 15 Uhr und das Ther­mo­meter zeigt drückende 34° Celsius an. An das leise Surren der Klima­an­lage habe ich mich ebenso gewöhnt wie an die obli­gate Siesta über Mittag. Was ich aber noch immer vermisse, ist die sommer­liche Brise, die man früher hat durch die Wohnung ziehen lassen. Diese Zeiten sind vorbei. Zu gefähr­lich ist die Brise geworden. Fein­staub, Stick­oxide und Ozon haben den Pollen der Bäume so zuge­setzt, dass sie zu Super­all­er­genen mutiert sind. In den Städten war die Pollen­be­la­stung so hoch, dass man vor drei Jahren viele Bäume entfernt und durch Büsche ersetzt hat. Trotz dieser Mass­nahme will man sich ohne Schutz­masken nicht mehr draussen aufhalten.

Make Umwelt­ver­schmut­zung great again!

Dabei fing die ganze Geschichte so harmlos an: 2018 erliess der dama­lige US-Präsi­dent Donald Trump Abgaben auf auslän­di­sche Handels­güter. Die EU und China empörten sich zwar, reagierten aber nur langsam auf die US-ameri­ka­ni­schen „Straf­zölle”. Erst als die OPEC zwei Jahre später die Ölför­der­mengen drastisch redu­zierte, begann sich die Situa­tion zu verschärfen. Die Ölpreise explo­dierten innert kürze­ster Zeit. Als Reak­tion darauf verknappte Xi Jinping seltene Erden und die Preise für Lithi­um­bat­te­rien und Solar­an­lagen schnellten eben­falls in die Höhe.

Die Klima­rah­men­kon­ven­tion von Paris war Maku­latur. Anstelle von Wind­rä­dern und Solar­an­lagen wurden totge­glaubte Atom­meiler und ausran­gierte Kohle­kraft­werke ans Netz ange­schlossen. Quarz­sand wurde in die Erde gepumpt, um Erdgas aus dem Gestein zu pressen. Und die Öl- und Gasboh­rungen an den Polar­polen wurden inten­si­viert. Angela Merkel und Emma­nuel Macron riefen kurz vor den Bundes­tags­wahlen 2021 die Initia­tive „Euro­päi­sche Energie für Euro­päer” aus und setzten Energie-Autarkie auf die poli­ti­sche Agenda einer halben Milli­arde Menschen. Biotreib­stoff war die Losung, und innert der näch­sten Dekaden verwan­delte sich Mittel­eu­ropa in eine grosse land- und forst­wirt­schaft­liche Zone, wo im Sommer Sonnen­blumen, Mais und Raps um die Wette blühten und im Winter der Geruch von Fäulnis und unzäh­ligen Lager­feuern über den Städten hing. Hoch­ge­züch­tete Sonnenblumen‑, Mais- und Raps­sorten wurden gepresst, raffi­niert oder vergoren, um Treib­stoff, Gas und Schmier­mittel ersetzen zu können. Wälder wurden abge­holzt, um Holz­kohle und Biogas herzustellen.

Super­all­er­gene über­rollen die Städte

Die zuneh­mende Luft­ver­schmut­zung verwan­delte die Pollen der Bäume, Wiesen und Nutz­pflanzen in gefähr­liche Super­all­er­gene und der Anteil von Aller­gi­ke­rInnen an der Gesamt­be­völ­ke­rung verdop­pelte sich auf über 30%. Die heimi­sche Birke ist so gefähr­lich für den Menschen geworden, dass sie inzwi­schen verboten ist. Wer sie anbaut, riskiert eine hohe Busse. Hasel, Eiche, Erle und Esche sind mehr­heit­lich aus unserem Stadt- und Land­schafts­bild verschwunden. Nur die Sonnen­blume und der Mais werden noch ange­baut, obwohl die Pollen dieser Pflanzen sehr aggressiv sind und den Sommer hindurch die Luft der Städte verpe­sten. Aber die Menschen möchten lieber Auto fahren als im Freien joggen und deshalb muss fleissig Biodiesel und Bioethanol produ­ziert werden.

Die vielen Plätze, Wiesen und Frei­luft­ba­de­an­stalten in den Städten glei­chen japa­ni­schen Stein­gärten. Was auf Korsika schön aussieht, bringt mich in Zürich zum Weinen: die Macchia – anstatt massiver, schat­ten­spen­dender Bäume stehen überall nur noch armse­lige Mittel­meer­bü­sche. Auf den wenigen verblie­benen Spiel­plätzen spielen hustende Migran­ten­kinder. Die einhei­mi­schen Kinder spielen in der Shop­ping­mall, wo die Tempe­ra­turen ange­nehm kühl sind und die Luft gefil­tert wird. Indoor-Sport­arten haben dem Fuss­ball und dem Moun­tain­biken den Rang abge­laufen. Wer es sich leisten kann, hat seinen Keller zur Sport­an­lage umfunk­tio­niert und mit Vitamin-D-spen­denden Lampen ausgestattet.

Wer mal wieder durch­atmen will, braucht viel Geld und muss weit reisen. Saint Tropez und Sankt Moritz sind Geschichte, die crème de la crème trifft sich jetzt in der pollen­freien Stadt Putin­grad, nahe Norilsk in Nord­si­bi­rien. Der Rest der Bevöl­ke­rung tuckert in schwim­menden Shop­ping­malls übers Meer. Kreuz­fahrten auf dem Mittel­meer sind ange­sichts der ökono­mi­schen und poli­ti­schen Situa­tion des „autarken Europas“ alles, was noch drinliegt.


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