Die Symbolik als letzter Kitt eines verei­nigten Europas?

Vieles wurde bereits gesagt und geschrieben zum Brand der Notre-Dame de Paris Anfang Woche. Doch nicht der Brand sollte im Zentrum der Debatte stehen, sondern die unver­hält­nis­mäs­sigen Reak­tionen darauf. Was ist los in Europa, dass eine Kathe­drale plötz­lich zum trans­na­tio­nalen Werte­symbol wird? Und warum ist es absolut gerecht­fer­tigt, sich über die über­ris­senen Kapi­tal­ver­spre­chen für den Wieder­aufbau zu echauf­fieren? Ein Kommentar. 

Wenige Tage nach dem verhee­renden Brand der Kathe­drale Notre-Dame in Paris ist fast eine Milli­arde Euro an Spenden für den Wieder­aufbau, der gemäss Präsi­dent Emma­nuel Macron inner­halb von nur fünf Jahren erfolgen soll, zusam­men­ge­kommen. Staats­männer und Staats­frauen von Angela Merkel bis Andrzej Duda bekun­deten öffent­lich ihr Mitge­fühl mit der fran­zö­si­schen Nation. Die Medien berich­teten und berichten immer noch im ganz grossen Stil. Ein Extra jagt das nächste, Analyse, Augenzeug*innenberichte, Bild­strecken und Rück­blenden füllen Seite um Seite in Quali­täts­me­dien. Der Glöckner von Notre-Dame ist wieder in den Best­sel­ler­li­sten von Amazon und auf Face­book und Co. werden massen­haft anrüh­rende Bilder der Kathe­drale, der Disney­ver­sion von Quasi­modo oder Selfies in Paris geteilt.

Die Empö­rung und Trauer um den Brand Notre-Dames gleicht einer poli­tisch insze­nierten, von den Medien aufge­peitschten Massenhysterie.

„Bei uns [in Polen] melden sich bereits Menschen mit der Bereit­schaft, für den Wieder­aufbau der Kathe­drale Notre-Dame zu spenden. Ich bedanke mich dafür, denn ich bin über­zeugt, dass der Wieder­aufbau der Notre-Dame zu einem Symbol des Wieder­auf­baus Europas werden kann. Einem Wieder­aufbau Europas auf ihrem wahren, judäo-christ­li­chen Funda­ment.” Andrzej Duda, Präsi­dent Polens via Twitter. (Screen­shot : https://twitter.com/AndrzejDuda/status/)

Iden­tität in Holz und Stein? Ach was.

Es ist natür­lich ein Leichtes, sich zu empören und ein noch viel, viel Leich­teres, sich über Empö­rung zu empören und die Trau­ernden aufs Korn zu nehmen oder gar zu verhöhnen. Doch es muss trotzdem möglich sein, sich kritisch zur Hysterie um den Brand der Notre-Dame zu äussern, ohne als herz­loser Kultur­ba­nause oder – schlimmer noch – als Verleum­derin der iden­ti­täts­stif­tenden Wirkung dieses christ­li­chen Monu­men­tal­baus zu gelten.

Menschen brau­chen Symbole und Monu­mente, um sich danach zu richten und sich ihrer Werte zu entsinnen, in Erin­ne­rungen zu schwelgen und zu wissen, wo das Herz der Nation liegt – so lautete in den letzten Tagen das domi­nante Narrativ. Es über­rascht nur wenig, dass die schnell­sten Mitleids­be­kun­dungen aus der popu­li­sti­schen Ecke von AfD, FPÖ und PiS kamen, welche seit je her mehr oder weniger offen für den Erhalt eines illu­so­ri­schen, weissen und christ­li­chen Europas einstehen und den Brand deshalb als direkten Angriff auf diese verschro­bene Iden­tität wahr­nehmen. Verschwö­rungs­theo­rien und Schuld­zu­wei­sungen mit eingeschlossen.

Die genaue Brandursache ist noch nicht abschliessend geklärt, AfD-Mann Björn Höcke hat aber schon eine Antwort parat. Fremdenhass und Anti-Islamismus lassen sich eben fast überall unterbringen. (Screenshot : https://twitter.com/BjoernHoecke)
Die genaue Brand­ur­sache ist noch nicht abschlies­send geklärt, AfD-Mann Björn Höcke hat aber schon eine Antwort parat. Frem­den­hass und Anti-Isla­mismus lassen sich eben fast überall unter­bringen. (Screen­shot : https://twitter.com/BjoernHoecke)

Dass die Reak­tio­nären mit ihrem Mitge­fühl keines­wegs allein dastanden und sich so manch säku­larer Staats­chef von der tränen­schweren Nost­algie um den Brand mitreissen lies, offen­bart letzt­end­lich, wie es um die euro­päi­sche Einheit und den euro­päi­schen Geist im Jahr 2019 steht: schlecht. Wer sich im und mit dem Land der grossen euro­päi­schen, laizi­sti­schen Revo­lu­tion auf christ­liche Bauten berufen muss, um Iden­tität zu finden und Zusam­men­halt zu stiften, der zeigt damit unwei­ger­lich auf, wie unfähig diese euro­päi­sche Einheit ist, ihre Posi­tion, ihre Bedeu­tung und ihren Zusam­men­halt mittels Real­po­litik zu beschwören. Und wie zerrissen sie im Innern tatsäch­lich ist. Wenn Bilder der Kathe­drale auf Social Media das Einzige zu sein scheinen, was grenz­über­grei­fend und in alle poli­ti­schen Spek­tren hinein geteilt wird, dann ist auch das sinn­bild­lich für den Zustand Europas. Je suis Notre-Dame – weil es leicht ist, positiv konno­tiert, Iden­tität stiftet, niemanden stört.

Dies ist deswegen sinn­bild­lich, weil sich die realen Folgen der Unfä­hig­keit und Spal­tung Europas tagein tagaus an anderer Stelle äussern: Die EU kämpft seit Jahren mit einer Eini­gung für die Finan­zie­rung der Seenot­ret­tung, der ehemals beschlos­sene Verteil­schlüssel für Geflüch­tete inner­halb Europas funk­tio­niert bis heute nicht, jede Woche ertrinken Menschen vor den Toren Europas im Mittelmeer.

Ist diese Paral­lele nicht ein Vergleich von Äpfeln mit Birnen? Richtig: Es sind Äpfel und Birnen, die hier vergli­chen werden. Oder genauer gesagt: Steine und Menschen­leben. Aber beides kann als Zeugnis Europas und euro­päi­scher Werte inter­pre­tiert und verstanden werden, und der direkte Vergleich dieser beiden Dinge entlarvt deswegen umso mehr die Doppel­moral der soge­nannten euro­päi­schen Einheit. Die Flücht­lings­krise stellt nebst der Euro-Krise und der Grie­chen­land­krise die wohl grösste Heraus­for­de­rung für Europa seit Grün­dung der euro­päi­schen Gemein­schaft dar. Europa versagt.

Auch der brasi­lia­ni­sche Fuss­ball­star Neymar trauert mit seinen Fans. Dasselbe Bild wurde auf Face­book und Insta­gram millio­nen­fach geteilt. (Screen­shot: https://www.instagram.com/p/BwSoRu3AqLW/)

Für die kommenden Euro­pa­wahlen wird ein enormer Rechts­rutsch erwartet. Kein euro­päi­sches Land befindet sich bisher auf dem rich­tigen Weg, um die Pariser Klima­ziele zu errei­chen. Die Schlamm­schlacht um den Brexit ist zu einer welt­weiten Blamage verkommen, während in Polen und Ungarn Stimmen laut werden, die eben­falls einen Austritt fordern, die Jugend­ar­beits­lo­sig­keit in den Südstaaten bleibt seit Jahren unver­än­dert hoch. Europa findet keine Lösungen, verstrickt sich dagegen immer weiter in einen perfiden Steu­er­wett­be­werb, der laufend neue Probleme und Finan­zie­rungs­eng­pässe schafft.

Hier die Super­rei­chen, da die sozial Abgehängten

Die Spal­tung Europas offen­bart sich auch im Kleinen. In Frank­reich selbst, wo seit letztem Jahr jede Woche zigtau­sende Menschen auf die Strassen gehen und etwas fordern, was doch nicht so abwegig ist: ein lebens­wertes Leben in einem reichen Land wie Frankreich.

Macrons Bemü­hungen, Fern­seh­an­spra­chen und rührenden Zuge­ständ­nisse hinsicht­lich des raschen Wieder­auf­baus der Notre-Dame wirken vor diesem Hinter­grund wie ein verzwei­felter Versuch, auch die gespal­tene Nation mittels kultu­rellen Kitts und verschro­bener Nost­algie wieder an die Regie­rungs­haupt­stadt zu binden. Doch Iden­ti­täts­stif­tung löst keine Sachprobleme.

Hier die Super­rei­chen, die innert weniger Stunden locker Hunderte von Millionen für den Wieder­aufbau springen lassen, da die anderen, die Abge­hängten und finan­ziell Preka­ri­sierten. An die gilets jaunes macht Macron letzt­end­lich doch noch Zuge­ständ­nisse, die er, mittels Auswer­tung der Grossen Debatte, eigent­lich schon am Montag hätte verkünden sollen. Keine Schule und kein Kran­ken­haus sollen mehr geschlossen werden. Mit der Einkom­mens­steuer, einem der Haupt­an­liegen der Bewe­gung, tut er sich jedoch weiterhin schwer. Die Gelb­we­sten werden sich davon wohl kaum beein­drucken lassen, ändern diese Vorschläge doch nichts an der sozialen Schere, die sich in Frank­reich und welt­weit immer weiter öffnet.

Entspre­chend wird momentan viel über die horrenden Geld­summen debat­tiert, die aus privater Hand für den Wieder­aufbau der Notre-Dame locker gemacht wurden. Hier der Jemen, da eine Kirche, hier hungernde Kinder, da goti­sche Archi­tektur, hier Malaria-Impfungen für Millionen, da ein Wahr­zei­chen und Tourismusmagnet.

What­a­bou­tismus, schimpfen die einen, Skandal die anderen, während die dritten, dem neoli­be­ralen Karrie­ret­raum getreu argu­men­tieren, diese Milli­ar­däre hätten das Geld ja selber verdient und seien deswegen frei damit zu walten, wie sie wollen. Und es sei ja ihre Entschei­dung, es in den Wieder­aufbau einer Stein­kirche zu inve­stieren statt in Seenot­ret­tung, Hunger­be­kämp­fung oder den Umweltschutz.

Wer so argu­men­tiert, der hat die Mecha­nismen des Kapi­ta­lismus nicht verstanden. Denn wir sollten uns nicht fragen, warum einzelne Personen ihre Millionen hier und nicht da inve­stieren. Wir sollten uns fragen, wie es kommt, dass einzelne Personen über diese Millionen, ja Milli­arden verfügen und dieses Kapital, oft mehr als das BIP so manchen Entwick­lungs­landes, nach Lust, Laune und Profi­lie­rungs­be­dürfnis hier oder da inve­stieren können. Warum Einzel­per­sonen über so viel Geld verfügen, dass sie locker in die Bresche springen können, wenn der Staat grad nicht zahlen kann oder will; warum Einzel­per­sonen mehr fiskale und somit direkte Entschei­dungs­macht haben als demo­kra­tisch gewählte Politiker*innen.

Kanzlerin Merkel hat ebenfalls angeboten, Frankreich beim Wiederaufbau zu unterstützen. Das „Wir schaffen das!“ überliess sie jedoch Amtskollege Macron. (Screenshot: https://twitter.com/tagesschau/status)
Kanz­lerin Merkel hat eben­falls ange­boten, Frank­reich beim Wieder­aufbau zu unter­stützen. Das „Wir schaffen das!“ über­liess sie jedoch Amts­kol­lege Macron. (Screen­shot: https://twitter.com/tagesschau/status)

Auch wenn die soziale Ände­rungs­macht von Geld­spenden, würden sie denn woan­ders landen als beim Wieder­aufbau der Kathe­drale, nicht über­schätzt werden soll: Die momen­tane Aufre­gung könnte sich als durchaus nütz­li­cher Steig­bü­gel­halter für eine neue Debatte über soziale Unge­rech­tig­keit und Kapi­tal­ver­tei­lung entpuppen – wenn die Symbol­po­litik nicht auch hier ihren besänf­ti­genden Schleier darüberlegt.

Aufbauen werden die anderen

Die euro­päi­sche Einheit ist ein Fanta­sie­kon­strukt. Eine mit Bedeu­tung, Mythen und Fiktion gefüllte Kathe­drale ist deswegen viel­leicht doch keine so schlechte Symbolik für den Zustand Europas. Dass sie abbrannte, eben­falls nicht. Mit Notre-Dame sind 800 Jahre Archi­tektur und Kultur­ge­schichte abge­brannt. Menschen kamen dabei zum Glück keine ums Leben. Die Notre-Dame wird wieder­auf­ge­baut werden, „schöner als sie es jemals war”, sagte Frank­reichs Präsi­dent Macron.

Die Hysterie und frap­pant beschwo­rene Brüder­lich­keit im Licht der Brand­ka­ta­strophe ist deswegen nicht nur direkt mit der euro­päi­schen Reak­tion auf eine gigan­ti­sche huma­ni­täre Kata­strophe vor unserer Haustür vergleichbar und verdeut­licht die Vertei­lungs­pro­bleme des reichen Konti­nents, sie wirkt auch entlar­vend: Europa erleidet gerade einen gefähr­li­chen Werte­kol­laps, weg von Mensch­lich­keit und Soli­da­rität, hin zu Symbol­po­litik und idea­li­sierten, exklu­die­renden Werten wie dem viel beschwo­renen Chri­stentum – und alle schauen dabei zu.


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