Im Theater Toffen im Kanton Bern spielte bis Mitte Mai 2022 das Theaterstück Verdingbueb. Darin geht es um Max, ein Waisenkind, das zuerst im Heim untergebracht und anschliessend zu der Familie Bösiger auf den „Schattehoger“ geschickt wird. Dort beginnt für ihn eine Odyssee, welche den Zuschauer*innen eindrücklich vermittelt, welche Erlebnisse Verdingkinder durchmachen mussten.
Eine von ihnen ist Hedwig*. In einem Pflegeheim für Demenzkranke in Bern sitzt sie auf ihrem Bett. Ihr Blick ist leer. Ihr Gesicht gezeichnet von der Vergangenheit. Sie erinnert sich noch gut. Die Vormundschaftsbehörde entreisst die 10-Jährige ihren Eltern und bringt sie im Rahmen einer sogenannten fürsorgerischen Zwangsmassnahme auf einem Bauernhof unter.
„Ich weiss noch genau, wie ich behandelt wurde. Schlafen musste ich in der Scheune. Jeden Tag hat mich der Bauer erniedrigt und geschlagen“, meint sie im Gespräch. Im Jahr 1940 ändert sich ihr Leben drastisch. Es besteht fortan aus Arbeit, Misshandlung und Demütigung. Essen gibt es nicht viel, und wenn, dann nur altes oder verschimmeltes, wie sie erzählt. Die Arbeit auf dem Bauernhof, als Magd, ist hart. „Ich musste jeden Tag arbeiten und die Bauernfamilie zufriedenstellen“, erzählt sie. Heute rede sie nur ungern über das Erlebte.
Fremdplatzierungen unter dem Deckmantel des Kindeswohls
Ihr Schicksal ist in der Schweiz kein Einzelfall. Von 1800 bis in die 1960er-Jahre (vereinzelt bis in die 1970er) lagen fürsorgerische Zwangsmassnahmen, in der Schweizer Geschichte bezeichnet als Verdingung, an der Tagesordnung. Zehntausende Kinder unterschiedlichen Alters – meist unehelich geboren, in armen oder Scheidungsfamilien lebend oder verwaist – fielen ihr zum Opfer. Eine der bedeutendsten Studien zum Thema verfassten 2015 die beiden Historiker*innen Marco Leuenberger und Loretta Seglias.
In ihrem Buch mit dem Titel Geprägt fürs Leben: Lebenswelten fremdplatzierter Kinder in der Schweiz im 20. Jahrhundert versuchen sie einerseits die Lebenswelten der fremdplatzierten Kinder nachzubilden, andererseits deren Wechselwirkung mit den dafür verantwortlichen Strukturen aufzuzeigen.
Anhand von Interviews mit Zeitzeug*innen und schriftlichen Quellen zwischen 1912 und 1978 zeichnen die beiden Autor*innen nach, wie sich arme Familien jedes Jahr bei der Gemeinde melden mussten, um sich einer sogenannten Etat-Aufnahme zu unterziehen. Dabei wurde festgestellt, wie viel Geld eine Familie besass und ob sie sich selbst versorgen konnte.
Konnte sich die Familie nicht selbst versorgen, entschied die Gemeinde meist, ein oder zwei Kinder zu verdingen, um die Ausgaben der Sozialhilfe zu reduzieren. Indem der Staat das Problem der Armut auf das Fehlverhalten der Familie überstülpte – so Leuenberger und Seglias – wurden die Kinder unter dem Deckmantel des Kindeswohls von der Vormundschaftsbehörde abgeholt und auf Bauernhöfen oder in Heimen platziert.
Anhand der Schilderungen der Betroffenen zeigen Leuenberger und Seglias auf, wie jene, die auf einen Bauernhof geschickt wurden, von Gesellschaft und staatlicher Fürsorge isoliert wurden, nur selten die Schule besuchen konnten und stattdessen auf dem Hof arbeiten mussten. Auch das gesellschaftliche und mediale Interesse sei laut Leuenberger und Seglias die meiste Zeit gering gewesen.
Schon im 19. Jahrhundert wurde prominente Kritik an der Verdingung laut, wie jene des Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi oder des Schriftstellers Jeremias Gotthelf. Die erste Kontrollinstanz über das System der Verdingung wurde jedoch erst mit dem 1978 in Kraft getretenen Gesetz über die Aufnahme von Pflegekindern geschaffen. Dieses führte eine Bewilligungspflicht zur Aufnahme von Pflegekindern und regelmässige Kontrollen der Pflegeeltern ein.
Mit der Revision des Zivilgesetzbuches 1981 wurden diese Bestimmungen auf alle Kantone übertragen.
Sklavenmärkte im Herzen der Schweiz
Das Gesetz von 1978 markierte einen Meilenstein, den viele der neueren Studien zum Thema – so auch jene von Leuenberger und Seglias – als Ende des untersuchten Zeitrahmens verwenden.
Teil der historischen Aufarbeitung der Verdingung in der Schweiz ist aber auch ein Blick zurück ins 19. Jahrhundert. Wie das Historische Lexikon der Schweiz (HLS) im Übersichtseintrag zur Verdingung schreibt, wurden Kinder im 19. Jahrhundert bis in die 1920er-Jahre hinein oft auf Verdingmärkten feilgeboten. Wer am wenigsten Kostgeld verlangte, bekam den Zuschlag und durfte das Pflegekind, so die offizielle Bezeichnung, gleich mitnehmen.
Doch nicht nur auf Verdingmärkten wurde mit Kindern gehandelt: Manchmal wurden sie von der Vormundschaftsbehörde auch unter reichen Familien verlost. Sobald die Kinder vermittelt waren, war die Arbeit für die Behörde erledigt. Ihrer Aufsichtspflicht kam die Behörde nur in den seltensten Fällen nach. Die Stimmen in der Bevölkerung, die dagegen protestierten, verhallten meist ungehört.
Fehlende Kinderrechte und Armut seien die treibenden Faktoren für solche Sklavenmärkte gewesen, wie Historiker Marco Leuenberger 2005 in einem Interview mit Swissinfo erzählt. Begriffe wie Kinderrechte oder das Recht auf Schulbildung fehlten im 19. Jahrhundert in der Verfassung. Erst im Jahr 1924 mit der Verabschiedung der Genfer Erklärung wurden Kindern erste Rechte eingeräumt.
Die Politik blieb lange untätig
Als im Oktober 2011 der Film Der Verdingbub in den Schweizer Kinos erschien, schwappte erstmals der Schrecken, der die Verdingung mit sich brachte, in eine breite Öffentlichkeit.
Im Jahr 2013 entschuldigte sich die damalige Justizministerin Simonetta Sommaruga öffentlich bei ehemaligen Verdingkindern. Die Guido-Fluri-Stiftung eröffnete im Mai 2014 in einem ehemaligen Kinderheim die Gedenkstätte für Heim- und Verdingkinder in Mümliswil (SO). Mit ihrer Ausstellung ist sie bis heute eine Anlaufstelle zum Gedenken und Erinnern an das den ehemaligen Verdingkindern zugefügte Leid.
Ebenfalls im Jahr 2014 wurde im Parlament das Bundesgesetz über die Rehabilitierung administrativ versorgter Menschen verabschiedet und die Wiedergutmachungsinitiative wurde eingereicht. Zu den administrativ versorgten Menschen zählen auch die Verdingkinder. Die Initiative verlangte, dass ein Fond mit 500 Millionen Franken eingerichtet wird. Daraus sollten Entschädigungszahlungen entrichtet werden.
Die Politik war sich parteiübergreifend einig, dass etwas zur Aufarbeitung der Verdingung getan werden müsse. Der Bundesrat unterbreitete daraufhin einen Gegenvorschlag. Es sollte ein Fond mit 300 Millionen Franken eingerichtet werden. Die Wiedergutmachungsinitiative wurde unter der Bedingung zurückgezogen, dass der Gegenvorschlag umgesetzt wird. Dies geschah 2016, als National- und Ständerat dem Gegenvorschlag zustimmten. Der Weg für Entschädigungszahlungen war somit frei.
Schätzungen zufolge lebt heute noch eine fünfstellige Anzahl ehemaliger Verdingkinder in der Schweiz. Über 9’000 Gesuche für Entschädigungszahlungen gingen nach Annahme des Gegenvorschlags bei den Behörden ein. Teils schwer gezeichnet und immer noch mit den Folgen der Vergangenheit kämpfend, sorgen sie dafür, dass ihr Leid nicht vergessen wird.
Als Hedwig volljährig wurde, war die Vormundschaftsbehörde nicht mehr für sie verantwortlich. Endlich frei, dachte sie sich − frei zu gehen und sich eine Arbeit zu suchen. Bald darauf heiratete sie und bekam drei Kinder. Die Vergangenheit auf dem Bauernhof liess sie jedoch nicht mehr los. Anderen Menschen zu vertrauen fällt ihr noch immer schwer.
„Damit hatte ich nicht mehr gerechnet, aber besser spät als nie“, meint Hedwig, als sie von den Entschädigungszahlungen spricht. „Die ganzen Formulare ausfüllen und Unterlagen einreichen, das war mir zu viel in meinem Alter.“ Nur dank der Unterstützung von Freund*innen und Verwandten habe sie ihre Entschädigung erhalten. Zur Bewältigung des Traumas hilft ihr das Geld nicht. Denn vergessen wird sie diesen Abschnitt ihres Lebens, trotz Demenz, nie.
Um bei den Anträgen für Entschädigungszahlungen unterstützt zu werden, können sich Betroffene bei der kantonalen Opferberatungsstelle melden, die ausserdem versucht, individuelle Biographien aufzuarbeiten. Die Perspektiven und Lebenswelten der Betroffenen sichtbarer zu machen, darin besteht auch die Aufgabe von Politik, Gesellschaft, Wissenschaft und Kultur. Denn die Veröffentlichung von Der Verdingbub vor über zehn Jahren zeigt, dass genau dies zu politischem Handeln beitragen kann.
*Der Nachname der betroffenen Person wird auf ihren Wunsch hin nicht genannt (Anm. d. Red.)
**In einer früheren Version dieses Artikels wurde behauptet, dass sich die Politik nach der öffentlichen Entschuldigung Simonetta Sommarugas 2013 vorläufig nicht mehr mit dem Thema beschäftigte. Das stimmte nicht. Wir haben die entsprechende Stelle geändert. Ausserdem wurde darauf hingewiesen, dass Betroffene sich bis heute oft selbst organisieren müssen, um Entschädigungszahlungen zu erhalten. Jedoch können sie sich kostenlos bei der kantonalen Opferberatungsstelle melden, die sie beim Ausfüllen der Anträge unterstützen und ihre Biographien aufarbeiten.
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