Im Sommer hiessen sowohl der National- als auch der Bundesrat eine Motion der Grünen Nationalrätin Regula Rytz gut. Darin ging es um eine Kampagne gegen Sexismus. Geplant war eine breite Kampagne in Zusammenarbeit mit den Kantonen, die für das Thema Sexismus sensibilisieren sollte. Gedauert hätte sie mehrere Jahre, verbreitet worden wäre sie sowohl auf Social Media als auch auf Plakaten, via Inserate und Kino-Werbespots. Vorgesehen war auch eine entsprechende Umsetzung in Bildung, Kultur und Wirtschaft.
Doch dazu kam es nicht, denn: Dieses Land hasst Frauen*.
Der Ständerat lehnte die Motion letzte Woche mit 21 zu 20 Stimmen ab. Eine Minderheit wehrte sich gegen die vorberatende Kommission, die mit 7 zu 13 Stimmen empfohlen hatte, dem Vorhaben zu folgen. Gemäss Jakob Stark (SVP), Minderheitensprecher, sei eine derart „fette“ Kampagne angesichts der Corona-Pandemie unverhältnismässig – und zudem sei der Staat nicht „für alles zuständig“.
Der Staat fühlt sich also mit Leidenschaft für Dinge zuständig wie reduzierte Zölle für Bündnerfleisch oder den gesicherten Tourismus in Skigebieten und spricht Corona-Hilfe in Millionenhöhe für den Sport – den Kampf gegen Sexismus aber will er sich nicht leisten. Diese Entscheidung sendet ausserdem gefährliche Signale an die Täter: Euer Verhalten ist noch immer nicht schlimm genug, dass sich der Staat um euch kümmert, ein Hinterfragen wird von euch nicht verlangt. Aber: Wenn jede fünfte Frau von Übergriffen durch Männer betroffen ist, was bedeutet das im Umkehrschluss für unsere Väter, unsere Partner, Brüder, Kollegen, Mitbewohner? Mit wie vielen Tätern sind wir befreundet?
Um das wieder einmal in aller Deutlichkeit zu sagen: Es sind Frauen, die immer wieder durch die Gewalt von Männern sterben. Es sind Frauen, denen von Männern sexualisierte Gewalt angetan wird, Frauen, deren Leben zerstört werden. Es sind vor allem Frauen, die ganz konkret unter Alltagssexismen leiden – und wenn sogar politisch signalisiert wird, dass diesbezüglich keine Dringlichkeit zur Handlung besteht, ist es kein Wunder, dass Frauen selber dazu neigen, diese Erfahrungen herunterzuspielen. Und auch als Mann lernt man so einmal mehr, dass sexistisches Verhalten „nicht so schlimm“ ist.
Es sind vor allem Frauen, die nicht nur privat, sondern auch beruflich unter Sexismus leiden, wie beispielsweise die jüngst veröffentlichte Recherche über die Skandale beim Westschweizer Fernsehen RTS aufzeigte: Mehreren hochrangigen Angestellten, unter anderem dem Star-Moderator Darius Rochebin, wird sexuelle Belästigung von Mitarbeiter*innen vorgeworfen. Diese Recherche erwähnte übrigens auch die CVP-Ständerätin Marianne Maret, die sich gegen eine Ablehnung der Motion wehrte. Leider vergeblich. Die Schweiz kriecht also lieber weiterhin im Schneckentempo voran, wenn es um die Prävention von Gewalt gegen Frauen geht, wenn überhaupt: Noch immer gibt es keine national geregelte Strategie. Dabei müsste die Schweiz eine solche spätestens seit dem Inkrafttreten der Istanbul-Konvention 2018 vorweisen können.
Sexismus im Alltag und fehlende Unterstützung von Frauen gehören zur untersten Stufe einer Pyramide, an deren Spitze Femizide stehen. Eine entsprechende Sensibilisierung kann also Leben retten. Darauf angesichts einer Pandemie zu verzichten ist geradezu grotesk, denn diese fungiert als Katalysator für das Leiden der Frauen: Während und vor allem nach dem ersten Lockdown stiegen die Zahlen von Fällen häuslicher Gewalt an. Und nach den temporären Lockerungen im Sommer berichteten laut NGOs und Beratungsstellen verhältnismässig mehr Frauen von sexualisierten Übergriffen, etwa an privaten Partys oder nachts auf dem Heimweg.
Das Schweizer Sexualstrafrecht fungiert indes als eine der nächsten Stufen dieser Pyramide: Dass sich das Opfer merklich wehren muss, damit ein Übergriff überhaupt als Vergewaltigung angezeigt werden kann, gehört zum victim blaming. Dass bei der Polizei Wissen fehlt in Bezug auf Opferstarre oder vielfältige Verhaltensweisen von Opfern von sexualisierter Gewalt, verstärkt diese Systematik. Frauen wird also beigebracht, dass sie selber dafür verantwortlich sind, was ihnen angetan wird.
Und wenn sich Frauen trotzdem trauen, Hilfe zu holen, finden sie diese oft nicht niederschwellig genug. Das hat gerade die erste Hochphase der Pandemie gezeigt: Während Länder wie Italien und Spanien konkrete Hilfsangebote schufen – Betroffene von häuslicher Gewalt konnten sich etwa an der Apothekenkasse mit einer Art Geheimwort Hilfe holen – bleiben einem in der Schweiz ein paar Notfallnummern, die zu Bürozeiten bedient werden. Aber wie anrufen, wenn der Täter nebenan sitzt? Die einzige konkrete Strategie des Bundes gegen Gewalt an Frauen waren indes ein paar Flyer, die in Geschäften aushingen. Wenn sie die Besitzer*innen der Geschäfte denn selber ausdrucken mochten.
Die Schweiz leistet sich mitten in einer Krise also gerne neue Kampfjets, bezahlt fette Bundesratsrenten und rettet Banken und Airlines, während die Frauen alleine gelassen werden. Eigentlich nicht weiter überraschend für ein Land, in dem die meisten Frauen erst seit 30 Jahren wählen und abstimmen dürfen.
*Dieser Text arbeitet mit dem Wort „Frau“. Das liegt auch daran, dass der parlamentarische Diskurs sowie fast alle Studien der patriarchalen Gewalt auf einer binären Genderordnung basieren. Ein grosser Teil der täglich verübten und erfahrenen patriarchalen Gewalt bleibt damit unsichtbar. Denn: Nicht nur Frauen sind betroffen, sondern ebenso inter Menschen, nichtbinäre Menschen und trans Menschen.
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