Hört auf, uns zu belästigen!

Frauen bekamen jüngst wieder einmal Tipps, wie sie sich vor Über­griffen schützen können. Bloss: Die gut gemeinten Ratschläge setzen am völlig falschen Punkt an. 
Symbolbild (Foto: Elijah O'Donnell/ Pexels)

Die Sonn­tags­zei­tung gab am vergan­genen Wochen­ende Tipps, wie sich Frauen vor Über­griffen schützen können. Ein „Spezia­list“ fürs Thema, der 64-jährige Präven­ti­ons­be­rater und Sicher­heits­trainer Markus Atzen­weiler, deckte im Artikel von Chris Winteler auf, dass sich Frauen davor fürchten, abends alleine unter­wegs zu sein. Und er schlug gleich noch verschie­dene Formen vor, wie Frauen Über­griffe vermeiden könnten.

Laut Atzen­weiler gelingt ihnen das am besten, indem sie etwa keine hohen Schuhe tragen. Denn mit hohen Absätzen lasse sich nun mal schlecht flüchten. Er rät Frauen ausserdem, Angreifer wenn möglich zu igno­rieren und einfach „ener­gisch“ weiter­zu­gehen. Man solle stets „einen Plan haben und für alles gewappnet sein“ und es „dem Täter so schwer wie möglich machen“. Etwa indem man den Schlüs­sel­bund auf dem Nach­hau­seweg bereits in der Hand hält, um wenn nötig damit anzugreifen.

No Shit Sher­lock. Diese Tipps müssen die Frauen nicht in der Zeitung lesen. Die aller­mei­sten von uns machen das alles schon lange auto­ma­tisch, dieses Verhalten gehört quasi zu unserer DNA. Bloss: Es nützt nichts.

Wir igno­rieren den Typen im Zug, der uns aus dem anderen Abteil anstarrt und sich dabei zwischen die Beine fasst. Wir igno­rieren die sexi­sti­schen Zurufe von Männer­gruppen auf dem Nach­hau­seweg. Wir igno­rieren sie so lange, bis wir begrabscht werden. Wir laufen schneller. So lange, bis wir rennen müssen. Wir tragen Kopf­hörer, ohne wirk­lich Musik zu hören, damit wir trotzdem alles um uns herum wahr­nehmen können. Wir wählen beleuch­tete Plätze für den Heimweg. Und wir werden dort trotzdem vergewaltigt.

Diese Woche bestä­tigte eine neue Studie zu sexua­li­sierten Über­griffen, dass in Zürich neun von zehn jungen Frauen belä­stigt werden. Die Studie erschien im Rahmen der Kampagne „Zürich schaut hin – gemeinsam gegen Sexismus, Homo- und Trans­phobie“ zur Sensi­bi­li­sie­rung bezüg­lich Belä­sti­gungen im öffent­li­chen Raum, die auch der Artikel in der Sonn­tags­zei­tung erwähnt. Es ist offenbar nötig, es wieder einmal in aller Deut­lich­keit zu sagen: Wer uns angreifen will, wird uns angreifen – früher oder später. Und es ist nicht die Aufgabe der poten­zi­ellen Opfer, sich davor zu schützen.

Die Studie zeigt auch: Prak­tisch alle Angriffe auf Frauen gehen von Männern aus. Bei ihnen sollten Tipps von Präven­ti­ons­be­ra­tern ansetzen, bei ihnen muss der gesell­schaft­liche Wandel anfangen. Der Artikel in der Sonn­tags­zei­tung geht zwar kurz darauf ein, was Männer tun können – im Text, der sich über eine Doppel­seite erstreckt, nimmt dieses Thema mit ein paar wenigen Sätzen aber viel zu wenig Platz ein.

Die „Tipps“ an Frauen führen dazu, dass es weiterhin in Ordnung ist, dem Opfer die Schuld zu geben. Hätte sie halt keine hohen Schuhe getragen! Hätte sie halt mit ihrem Schlüssel dem Typen das Gesicht zerkratzt! Wäre sie halt schneller gegangen, hätte sie ihn halt einfach ignoriert!

Damit muss endlich Schluss sein. Und hier sind die Männer gefor­dert: Nicht Frauen müssen sich vor Angriffen schützen, Männer müssen aufhören, anzu­greifen. Denn von ihnen gehen die Über­griffe aus. Vor allem im öffent­li­chen Raum, weil dort die meisten Reiz­fak­toren zusam­men­kommen: Alkohol und Drogen, aufge­heizte Stim­mung, vermeint­liche Anony­mität. Gerade in der Pandemie stellten Opfer­be­ra­tungs­stellen aber immer wieder fest, dass die Über­griffe auch dort zunehmen, wo man sich eigent­lich wohl­fühlen sollte: bei Freund:innen zuhause, an WG-Partys, beim gemein­samen Trinken in Parks.

Frauen zu belä­stigen muss endlich richtig, richtig uncool werden. Dazu gehört, nicht mehr zu tole­rieren, wenn Freunde sexi­stisch über Frauen spre­chen und ihnen im Ausgang etwas Dummes hinter­her­rufen. Etwas zu sagen, wenn der Arbeits­kol­lege meint, die Frau habe ihre Verge­wal­ti­gung doch einfach erfunden. Immer wieder zu betonen, dass ein kurzer Rock absolut nichts mit einem Über­griff zu tun hat. Dass es nicht darum geht, dass sich das Opfer nicht genug gewehrt hat. Sondern darum, was der Täter getan hat.

Und dazu gehört auch, dass die Schweiz endlich eine natio­nale Stra­tegie gegen die Gewalt an Frauen verfolgt. Immerhin: Derzeit werden im Parla­ment verschie­dene Vorstösse für eine tele­fo­ni­sche 24-Stunden-Bera­tung für Betrof­fene von häus­li­cher Gewalt disku­tiert (kurzer Reminder für die näch­sten Wahlen: Gegen die Motionen war die über­wie­gende Mehr­heit der SVP-Fraktion).

Und übri­gens: Atzen­weiler bildet unter anderem Polizist:innen aus. Man kann sich unge­fähr vorstellen, welche Grund­hal­tung von jemandem trans­por­tiert wird, der Frauen solche „Tipps“ gibt. Gegen­vor­schlag: Diese Aufgabe wird in Zukunft über­nommen von einem Kollektiv aus Queers, People of Colour und Flint*-Personen. Von Menschen, die wissen, wie es ist, Meilen in unseren Schuhen zu laufen. Egal mit welchen Absätzen.


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