Seit knapp 100 Jahren braucht die Menschheit Plastik. 1930 betrug die weltweite Produktion von Kunststoff noch überschaubare 10‚000 Tonnen. Heute sind es laut Wikipedia 380‚000‚000 Tonnen (2017). Für die Schweiz liegen keine aktuellen Zahlen vor. Die letzten Erhebungen zum hiesigen Plastikverbrauch liegen schon fast 10 Jahre zurück. Bereits damals lag der Verbrauch laut dem Bundesamt für Umwelt (BAFU, 2010) bei einer Millionen Tonnen Plastik pro Jahr. Das sind 125kg oder etwa eine volle Badewanne pro Person und Jahr. Wenn sich der Verbrauch von Plastik in den Schweizer Haushalten parallel zum europäischen Verbrauch entwickelt hat, dürfte diese Zahl heute sogar noch leicht grösser sein.
Ein Drittel dieses ganzen Plastikmülls sind laut dem BAFU Verpackungen. Sie umhüllen unsere Gurken, das Sandwich, das wir in der Mittagspause verzehren, und unsere Waschmaschinen-Tabs. Plastik umhüllt beinahe alles, was bei uns in den Auslagen anzutreffen ist. Das ist bedenklich, sagen die Umweltschützer*innen. Die Detailhändler betonen jedoch, dass Plastikverpackungen auch gute Seiten haben.
Wir haben die Vor- und Nachteile des Plastikbooms zusammengetragen und präsentieren euch hier sowohl die drei häufigsten Pro- als auch die drei wichtigsten Kontra-Plastik-Argumente. Zuerst haben die Detailhändler das Wort.
Pro-Plastik-Argument 1: «Plastikverpackungen schützen die Produkte»
Bei vielen Dingen, die wir im Supermarkt kaufen, ist die Herstellung sehr viel umweltbelastender als ihre Verpackung. Es bringe deshalb wenig, bei der Verpackung etwas Erdöl einzusparen, wenn dafür bei Transport oder Lagerung ein Teil der Ware kaputtgehe, bringen die Detailhändler gern als Argument für ihre Verpackungen an. Und das ist natürlich nicht falsch. Foodwaste will niemand. Aber dieses Argument zieht bei weitem nicht bei allen Plastikverpackungen, die wir in den Läden antreffen.
Das zeigt sich vor allem daran, dass gewisse Produkte in unterschiedlichen Varianten unterschiedlich stark verpackt sind. Tomaten liegen zum Beispiel manchmal mit und manchmal ohne Plastikhülle im Gemüseregal. Chicoréesalat trifft man schwer- oder leichtverpackt an. Und Reiswaffeln sind in manchen Fällen einfach, in manchen Fällen doppelt in Plastik gehüllt. Wenn diese zusätzlichen Plastikschichten zum Schutz des Produkts wirklich unverzichtbar wären, dann würde das im Umkehrschluss heissen, dass die danebenliegende, weniger verpackte Variante ungenügend geschützt sein müsste. Nicht jede Plastikhülle lässt sich also mit dem Argument schönreden, sie diene dazu, das Produkt zu schützen.
Zudem kommt es sogar vor, dass Lebensmittel gerade wegen ihrer Plastikverpackung, die sie eigentlich schützen sollte, weggeschmissen werden. Etwa wenn in einem Dreierpack Peperoni eine der Früchte ein wenig schrumpelig ist. Oder wenn bei einem halben Kilo Cherry-Tomaten nur ein paar angefault sind. Dann landet bei vielen Läden gleich alles im Müll. Würden das Gemüse im Offenverkauf angeboten, könnte das Personal bloss die faulen Exemplare entsorgen.
Pro-Plastik-Argument 2: «Plastikverpackungen sind weniger umweltschädlich als solche aus Karton, Alu oder Glas»
Natürlich belaste ein Kilogramm Plastik die Umwelt stärker als ein Kilogramm Karton oder Glas. Aber Verpackungen aus Plastik seien meist deutlich weniger materialintensiv als Verpackungen aus Glas, Karton oder Papier, schreibt die Migros auf ihrer Website. Plastik ist unschlagbar leicht. Dies spare Ressourcen und reduziere die Belastung beim Transport. Denn je schwerer etwas ist, desto mehr Benzin braucht man, um es von A nach B zu bewegen. Deshalb seien leichte Plastikverpackungen umweltfreundlicher als solche aus Glas, Alu oder Karton. Und das ist auch richtig – unter gewissen Rahmenbedingungen.
Aber Plastikverpackungen schneiden nur deshalb besser ab, weil wir unsere Produkte erstens von weit weg ankarren und zweitens, weil wir das mit benzinbetrieben Lastwagen tun. Würde man die Lebensmittel jedoch mit einem mit Ökostrom betriebenen Elektrolaster bei den nächstgelegenen Bauernhöfen einsammeln, dann würden die positiven Aspekte von Glas, Alu, oder Karton überwiegen, auch wenn der Transport wegen ihres Gewichts ein wenig schädlicher wäre als mit einer dünneren Plastikverpackung. Denn anders als Plastik lassen sich die Alternativen fast ohne Qualitätsverlust rezyklieren – oder sie wachsen sogar in Form von Bäumen nach.
Wirklich umweltschädlich sind also nicht die zu schweren Verpackungen, sondern die Emissionen auf den zu weiten Transportwegen. Zwar lassen sich diese mit dem Einsatz von leichten Plastikverpackungen kaschieren, aber ob es sinnvoll ist, die Mängel eines erdölbetriebenen Systems mit einer erdölintensiven Lösung abfedern zu wollen, wenn uns gleichzeitig das Erdöl ausgeht, sei dahingestellt.
Pro-Plastik-Argument 3: Plastikverpackungen lassen sich hervorragend thermisch verwerten
Das Bundesamt für Umwelt schreibt: «Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern, werden in der Schweiz bereits seit 2000 keine brennbaren Abfälle mehr deponiert, d.h. die Kunststoffabfälle in der Schweiz werden alle umweltverträglich stofflich oder energetisch verwertet.» Naja, energetisch zu verwerten heisst eigentlich nichts anderes, als dass man den Plastik verbrennt, um daraus Wärme zu gewinnen. Dies ist aber in etwa gleich umweltverträglich, wie eine Ölheizung. Denn für das Klima spielt es keine Rolle, ob das Erdöl zuerst noch in Form einer Sandwichverpackung einen kleinen Umweg über ein Ladenlokal gemacht hat oder ob es direkt verbrannt wird.
Besser als das Verbrennen wäre eine stoffliche Verwertung, sprich das Rezyklieren des Kunststoffes. Leider machen wir das aber nur mit gerade einmal 10% unseres Plastikabfalls. Wieso? Plastik ist nicht gleich Plastik. Unser Kunststoffabfall besteht aus vielen verschiedenen Kunststoffsorten, die separat gesammelt und recycelt werden müssten. Ob es unter diesen Bedingungen überhaupt möglich ist, ein funktionstüchtiges Recyclingsystem aufzubauen, ist umstritten. Und laut eines Berichts des Beobachters versprechen auch die privaten Recyclingfirmen, welche vereinzelt bereits heute Recyclingabos für Plastik anbieten, zu hohe Recyclingquoten.
Soviel also zu den Pro-Plastik-Argumenten aus der Ecke der Detailhändler. Es scheint, als hätten Spar, Denner, Aldi und co. ihre Hausarbeiten zwar gemacht, aber leider nur bis zur Hälfte. Zwar ist es löblich, Foodwaste zu bekämpfen, auf weniger Emissionen beim Verkehr zu achten oder den anfallenden Plastik immerhin noch thermisch zu verwerten, anstatt ihn auf Deponien oder gar in die Umwelt zu kippen. Aber es macht wenig Sinn, zu Gunsten dieser Absichten alles, was man in die Regale stellt, mit einer Ressource zu umwickeln, die immer knapper wird und deren Entsorgung bis heute nicht klimaneutral bewerkstelligt werden kann.
Richtig nachhaltige Lösungen sehen anders aus. Hier die drei häufigsten Vorwürfe aus der Ecke der Ökologen.
Plastik-Vorwurf 1: Tiere sterben daran
Organisationen wie Greenpeace machen immer wieder darauf aufmerksam, dass der viele Plastikmüll in der Umwelt für viele Tiere ein Problem sei. Laut Wikipedia gelangen jedes Jahr mindestens sechs Millionen Tonnen Kunststoffabfälle in die Meere. Daran sterben Fische, Seevögel, Wale, Robben und Schildkröten. Sie verhungern mit einem Bauch voll mit unverdaulichem Plastik oder werden von herumschwimmenden Plastikteilen erdrosselt.
Jüngere Studien zeigen, dass es bei der Verschmutzung der Meere mit Kunststoff bei weitem nicht nur um die Plastikverpackungen geht. Auch der Abrieb von Autoreifen und die Mikropartikel, die beim Waschen von erdölbasierten Kleidern, wie Fleecejacken ins Wasser gelangen, machen einen erheblichen Teil des Plastiks aus, der in der Umwelt landet.
Das Argument ist wichtig, das Problem ist riesig. Auf die hiesigen Plastikverpackungen lässt es sich aber nur bedingt anwenden. Denn aus Europa und Nordamerika stammen nur 5% des in den Weltmeeren herumtreibenden Plastikabfalls. Weil in der Schweiz so gut wie alle Plastikverpackungen direkt verbrannt werden, landet kaum ein helvetisches Raschelsäckli im Meer, sondern sie landen in Form von Klimagasen in der Atmosphäre.
Ob sie so jedoch weniger Tiere bedrohen, sei dahingestellt. Denn auch der Klimawandel bedroht die Biodiversität. Sogar stärker, als man bis vor kurzem noch angenommen hat, wie diese Studie der Universität Zürich zeigt. Auch über ihren Weg durch die Kehrrichtverbrennungsanlage können unsere Plastikverpackungen also Tierarten ausrotten.
Plastik-Vorwurf 2: Die Additive im Kunststoff sind giftig
Plastik sei aber nicht nur für Tiere schlecht. Nein, auch uns Menschen könnten die Plastikverpackungen gesundheitlich schaden. Dieser Meinung sind verschiedene endokrinologische, also auf das menschliche Hormonsystem spezialisierte, Fachgesellschaften sowie das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) und die Weltgesundheitsorganisation (WHO). Denn in vielen Kunststoffen sind Additive drin. Sie werden dem Plastik als Weichmacher, Härtemittel oder als Farbstoffe beigemischt. Und diese Additive können giftig sein. Doch nicht wie ein «gewöhnliches» Gift, denn sie wirken hormonellen als sogenannte endokrine Disruptoren. Deshalb könnten laut ExpertInnen bereits geringe Mengen dieser Kunststoffadditive im menschlichen Körper einen schädlichen Einfluss auf das Hormonsystem ausüben. Bestimmte Additive seien an der Entstehung von Brust- und Prostatakrebs, Unfruchtbarkeit, Diabetes mellitus, kardiovaskuläre Erkrankungen, Schilddrüsenerkrankungen, kindlichen Entwicklungsstörungen sowie neurologischen, neurodegenerativen und psychischen Erkrankungen beim Menschen ursächlich beteiligt.
Die grösste und älteste endokrinologische Fachgesellschaft der Welt, die Endocrine Society, empfiehlt deshalb auf industriell produzierte Lebensmittel zu verzichten, Essen nicht in Kunststoffbehältern aufzubewahren und keine Kunststoffflaschen zu benutzen. Dinge, die wir jeden Tag machen.
Wie viele dieser Additive wir über Plastikverpackungen zu uns nehmen, weiss niemand so genau. Stefan Kunfermann, Mediensprecher vom Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen BLV meint dazu: «Grundsätzlich ist es derzeit […] nicht möglich zu sagen, ob überhaupt und falls ja welche Typen von Lebensmittelverpackung problematisch sind, da es noch nicht genügend toxikologische Daten über alle Endocrine Disruptors gibt.» Deshalb beschäftigt sich in der Schweiz gegenwärtig eine interdepartementale Arbeitsgruppe mit Vertreterinnen und Vertretern aus sechs Bundesinstitutionen mit dem Thema.
Das mittlerweile gewisse Additive für Kinderspielzeuge verboten wurden, sollte jedoch Grund genug sein, ein wenig Vorsicht walten zu lassen.
Plastik-Vorwurf 3: Erdöl ist wertvoll – wir sollten es nicht so verschwenden
Plastik wird aus Erdöl hergestellt. Und das ist eine limitierte Ressource. Irgendwann werden wir die Erdölreservoire in unseren Böden leergepumpt haben. Wann das genau sein wird, ist umstritten. Je nachdem welche Erdöllagerstätten als «abbaubar» kategorisiert werden, geht man davon aus, dass uns zwischen 20 und 50 Erdöl-Jahre bleiben. Freilich hat sich diese Deadline in der Vergangenheit schon mehrmals nach hinten verschoben. Beispielsweise, weil die Ölsandfelder in Kanada lange Zeit als für den Abbau unrentabel galten. Die steigenden Erdölpreise führten aber dazu, dass sich das Anzapfen dieser Erdölvorräte heute lohnt. Das hat massive Folgen für das Klima und Kanadas Natur, wie diese GEO-Reportage zeigt. Früher oder später werden wir aber auch diese Vorräte aufgebraucht haben, und die Plastikindustrie wird ihren wichtigsten Rohstoff verlieren.
Das ist aber auch für Feinde der Plastikverpackung kein Anlass zur Freude. Denn eines ist klar: Plastik ist eigentlich nichts «böses» – sondern eine geniale Erfindung und ein wertvoller Rohstoff. Aus ihm werden nicht nur sehr praktische Dinge wie Matratzen oder Prothesen hergestellt, sondern auch lebensrettende Gegenstände, wie medizinische Beatmungsschläuche, Infusionsbeutel oder Katheter.
Diese sehr nützlichen Kunststoffprodukte werden genau gleich wie die Plastikverpackungen, die wir uns bei Aldi, Spar und Migros in den Einkaufskorb legen, aus der begrenzten Ressource Erdöl hergestellt. Ich möchte meiner Urenkelin nicht erklären müssen, dass wir leider kein Erdöl mehr haben für ihre Zahnprothese, nur weil wir unsere Lebensmittel früher nutzlos doppelt in Plastik eingepackt haben.
Deshalb wäre es sinnvoll, wenn wir unseren Umgang mit Plastik und Verpackungen überdenken würden. Sogenannte unverpackt Läden können hierzu einen Beitrag leisten. Neuerdings interessiert man sich auch bei der Migros, dem grössten Detailhändler der Schweiz, für das Konzept. Laut der Projektleiterin Nachhaltigkeitskommunikation Alexandra Kurz werde in der Genossenschaft Migros Genf der Offenverkauf von Reis und Hülsenfrüchten getestet. Und vor kurzem lies die Migros auf der firmeneigenen Facebook-Seite verlauten, dass man neu in den meisten Migros-Filialen an den bedienten Käse- und Fleischtheken auch eigenes Mehrweggeschirr befüllen lassen könne.
Die Migros hat das Problem mit den Plastikverpackungen also auf dem Schirm. Umso mehr erstaunt es, dass man beim orangen Riesen Produkte findet, die sehr verschwenderisch verpackt sind, wie zum Beispiel die Bio-Reis-Mais-Waffeln.
Die sind nämlich immer, nicht nur wenn sie gerade Aktion sind, doppelt in Plastik eingeschweisst. Wir haben die Migros gefragt, wieso sie das macht. Was die Migros dazu gesagt hat, erfährst du hier. Aber die Reis-Mais-Waffel ist natürlich nicht das einzige, übermässig verpackte Produkt, das im Schweizer Detailhandel angeboten wird, wie unsere Foto-Reportage zeigt. Wir fanden auch in Plastik eingepackte Bananen, Leimstifte im Cellophankleid, plastikverschweisste Abwaschbürsten und Abfallsäcke im Plastiksack.
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