„Eigent­lich ist ein Prozent eine Frechheit“

Das Zürcher Projekt Social Income bezahlt Personen in Sierra Leone ein Grund­ein­kommen. Ist das die Zukunft der Armuts­be­kämp­fung? Ein Gespräch mit dem Gründer des Projekts über globale Ungleich­heit und die Möglich­keiten einer frei­wil­ligen Umver­tei­lung von Wohlstand. 
Kann globale Ungleichheit selbst zur Bekämpfung dieser beitragen? (Illustration: Stefanie Lechthaler @steffischtrub)

Das Lamm: Sandino Scheid­egger, Sie haben Folgendes ausge­rechnet: Wenn ein Viertel aller Schweizer*innen ein Prozent ihres Einkom­mens abgibt, könnte der ganzen Bevöl­ke­rung in Sierra Leone ein Grund­ein­kommen von 30 Dollar pro Monat finan­ziert werden. Das klingt surreal.

Sandino Scheid­egger: Die meisten Menschen sind bei dem Beispiel zuerst einmal über­rascht. Doch diese einfache Rech­nung hilft, sich die Dimen­sionen globaler Ungleich­heit besser vorzu­stellen, zumal in Sierra Leone und der Schweiz unge­fähr gleich viele Menschen leben.

Für 75 Personen in Sierra Leone finan­ziert das Projekt Social Income bereits ein Grund­ein­kommen. Wie kamen Sie zu dieser Idee? 

Ich erhielt eines Tages einen Brief von meinem Arbeit­geber mit dem Angebot, 1.5 Prozent meines Lohnes steu­er­frei in die zweite Säule einzu­zahlen. Ich hielt das im ersten Moment für eine gute Idee. Je länger ich aber darüber nach­dachte, desto absurder fand ich sie: Als Gutver­die­nender mit gesi­chertem Lohn würde ich einen ganz kleinen Betrag sparen, um in noch mehr Sicher­heit zu leben, als mir bereits durch die AHV, die zweite Säule und meine Erspar­nisse gewähr­lei­stet ist. In einem Land wie Sierra Leone hingegen kann ich mit 60 Schweizer Franken pro Monat direkt mehr bewirken. Und nicht erst in 35 Jahren, sondern bereits heute. 

Und wieso genau ein Prozent?

Ein Prozent steht exem­pla­risch für Ungleich­heit: Damit asso­zi­iert wird das eine Prozent von Super­rei­chen als Gegen­satz zu den rest­li­chen 99 Prozent.

Was dabei oft unter­geht: Die meisten von uns gehören zum einen Prozent der Reich­sten auf der Welt.

Das gilt beson­ders für die Schweiz, die mit ihrem Durch­schnitts­ein­kommen von 6’538 Franken pro Monat bereits deut­lich über der Ein-Prozent-Marke von 4’000 Franken pro Monat liegt. Schaut man sich die Löhne von Voll­zeit­ar­bei­tenden an, liegen in der Schweiz bereits 86 Prozent der Frauen und mehr als 95 Prozent der Männer über dieser Ein-Prozent-Marke.

Wie funk­tio­niert Social Income?

Social Income verbindet drei Ansätze: die Idee eines bedin­gungs­losen Grund­ein­kom­mens, direkte Bargeld­trans­fers für Menschen in Armut und die sich rasant ausbrei­tende Nutzung von Mobile Banking. 

In west­afri­ka­ni­schen Ländern hat ein Gross­teil der Bevöl­ke­rung zwar kein Bank­konto, aber 80 Prozent der Leute nutzen Mobile Money auf ihrem Handy. Man zahlt monat­lich auf das Schweizer Konto von Social Income, das Geld wird auf ein Konto in Sierra Leone und von dort direkt auf die Tele­fone der Empfänger*innen über­wiesen. 100 Prozent des gespen­deten Betrages kommt bei den Empfänger*innen an. Die Administrations‑, Trans­ak­tions- und Fremd­wäh­rungs­ko­sten bezahlen wir mit Stiftungsgeldern.

Was ist das Ziel?

Unser lang­fri­stiges Ziel für die Schweiz ist es, dass ein Prozent der Bevöl­ke­rung ein Prozent ihres Einkom­mens an Social Income spendet. Das sind 80’000 Schweizer*innen, die einen Betrag von unge­fähr fünf Millionen Franken pro Monat bereit­stellen könnten. Damit könnten wir mehr als 160’000 Personen in Sierra Leone ein Grund­ein­kommen finan­zieren. Das Ziel ist reali­stisch, weil ja bereits 500’000 Personen bei der Abstim­mung zum Grund­ein­kommen die Idee in Grund­zügen unter­stützt haben. All diesen Personen muss die Idee gar nicht gross erklärt werden. Spenden kann man jedoch von überall. Es sind bereits Menschen aus zehn verschie­denen Ländern, die bei Social Income mitmachen. 

Der Ansatz scheint sinn­voller als ein Gross­teil der tradi­tio­nel­leren Entwick­lungs­hil­fe­pro­jekte – er ist so einfach und günstig.

Sinn­voll ist, was wirkt. Wissen­schaft­liche Studien zeigen, dass der Direkt­transfer von Geld das effi­zi­en­teste Mittel für Armuts­be­kämp­fung ist. Die Forschung hat gezeigt, dass eben nicht nur dieje­nigen profi­tieren, die direkte finan­zi­elle Hilfe erhalten, sondern ein viel grös­serer Umkreis an Leuten, weil das Geld lokal inve­stiert wird. 

Und dann gibt es die Lang­zeit­wir­kung: Forschungs­er­geb­nisse zeigen, dass wer über eine längere Zeit Geld erhalten hat, auch später im Leben – ohne Geld­transfer – durch­schnitt­lich mehr verdient. Diese Lang­fri­stig­keit ist mass­geb­lich und immer mitzu­denken. Social Income garan­tiert das Grund­ein­kommen für drei Jahre. 

Wenn das so wirkungs­voll ist, weshalb wenden nicht mehr NGOs direkte Geld­trans­fers an?

Nicht alle Situa­tionen können mit Bargeld gelöst werden. Wenn ein lokaler Markt oder die nötige Infra­struktur fehlt, sind andere Formen der Hilfe sinn­voller. Und natür­lich ist es admi­ni­strativ viel aufwän­diger und teurer, etwa eine Schule zu bauen, als Geld auf Mobil­te­le­fone zu versenden.

Mitt­ler­weile werden aber bereits fast 20 Prozent des globalen huma­ni­tären Budgets mittels Cash-Projekten umge­setzt. Die Tendenz ist zum Glück stei­gend. Eine Pionier­rolle kommt gerade der Schweiz zu. Die Direk­tion für Entwick­lung und Zusam­men­ar­beit (DEZA) setzt seit 1998 Geld­trans­fers in der huma­ni­tären Hilfe ein, beispiels­weise nach den Erdbeben in Alba­nien oder den Über­schwem­mungen in Nicaragua.

Täte die Schweiz nicht besser daran, Geld­trans­fers auch in der Armuts­be­kämp­fung einzusetzen?

Die Schweiz setzt Cash-Programme vor allem in der huma­ni­tären Hilfe ein und kaum in der Entwick­lungs­zu­sam­men­ar­beit. Aber die Unter­schei­dung zwischen diesen Berei­chen ist gar nicht mehr so trenn­scharf wie früher. Wir wissen jetzt schon, welche Personen in Zukunft am stärk­sten von kommenden Kata­stro­phen betroffen sein werden, etwa Dürren oder dem stei­genden Meeres­spiegel. Personen, die bereits jetzt Geld erhalten, werden in einer besseren Lage sein, auf solche Kata­stro­phen zu reagieren. Die Verbes­se­rung der Resi­lienz rückt in der Entwick­lungs­zu­sam­men­ar­beit immer mehr in den Fokus, und Cash­trans­fers sind ein äusserst effi­zi­entes Mittel, um Resi­lienz zu stärken.

Aber trotzdem scheint in der Entwick­lungs­zu­sam­men­ar­beit die Akzep­tanz von Geld­trans­fers nicht sehr gross. Oft wird die soge­nannte Hilfe zur Selbst­hilfe bevor­zugt und Direkt­zah­lungen mit Abhän­gig­keit gleichgesetzt.

Viele denken, wenn die Leute in einem Programm regel­mässig Geld erhalten, seien sie enorm abhängig davon. Aber eigent­lich trifft das Gegen­teil zu: Sie können mit diesem Geld machen, was sie wollen, und wissen am besten, wie sie sich aus ihrer schwie­rigen Lage befreien können. Geld­trans­fers sind so gesehen die Hilfe zur Selbst­hilfe, um der Armuts­falle zu entkommen.

Besteht in diesem Projekt aber nicht die Gefahr von White Savio­rism, also dass weisse Menschen sich als Helfer*innen aufspielen, die mit ihrem verteilten Geld die Welt retten?

Die Idee unseres Projektes ist es ja genau, mit Geld Frei­räume zu schaffen, anstatt zu sagen: „Wir wissen, was du brauchst.“ Ich glaube also, diese Gefahr ist viel weniger gross als in anderen Projekten.

Wir haben auch bewusst kein Paten­schafts­mo­dell gewählt, bei dem du die Person, die du unter­stützt, kennen kannst. Damit fallen Erwar­tungen weg. Dazu kommt, dass auch Menschen aus Schwel­len­län­dern oder dem Globalen Süden ein Prozent ihres Einkom­mens für Social Income spenden.

Zudem ist ein Prozent ja so wenig. Eigent­lich ist es eine Frech­heit, dass es nur ein Prozent ist. Wegen des einen Prozents fühlt sich hoffent­lich niemand als Retter*in. 

Bei einem Einkommen von 4’000 Franken kann ein Prozent, also 40 Franken, aber bereits eine hohe monat­liche Bela­stung sein.

Sicher­lich gibt es in der Schweiz Situa­tionen, wo eine Spende von einem Prozent des Monats­lohns spürbar ist. Über­rascht hat mich, dass bei Social Income gerade viele Leute mitma­chen, die ein vergleichbar kleines Einkommen haben und teils auch noch in Ausbil­dung sind. Ich denke, es hat auch mit einem wach­senden Bewusst­sein zu tun, dass die aller­mei­sten Menschen in der Schweiz, auch bei einem gerin­geren Einkommen, syste­ma­tisch bessere Chancen auf ein gutes Leben haben als Menschen anderswo auf der Welt.

Bei der Auswahl der Empfänger*innen wenden Sie das Krite­rium an, dass sie aus Low-Income-Commu­ni­ties kommen müssen. Das wider­spricht doch dem Grund­ge­danken vom bedin­gungs­losen Grundeinkommen.

Das stimmt. Social Income ist inso­fern bedin­gungslos, weil die Personen das Geld ohne Bedin­gungen ausgeben können. Die Auswahl muss nach irgend­wel­chen Krite­rien erfolgen und diese müssen nach­voll­ziehbar und trans­pa­rent sein.

Entwick­lungs­zu­sam­men­ar­beit ist haupt­säch­lich eine staat­liche oder supra­na­tio­nale Aufgabe, wird also durch Steu­er­gelder finan­ziert. Welche Bedeu­tung hat das Projekt im Hinblick darauf?

Wir sagen eben gerade nicht, Armuts­be­kämp­fung sei nur Sache von staat­li­chen Insti­tu­tionen oder inter­na­tio­nalen Orga­ni­sa­tionen, sondern von uns allen. Globale Armut ist kein Schicksal, sondern ein menschen­ge­machtes Problem und wir alle parti­zi­pieren zumin­dest zu einem kleinen Teil daran. Da ist es nicht zu viel verlangt, einen kleinen Beitrag von einem Prozent zu leisten.

Im Gegen­satz zu staat­li­cher und supra­na­tio­naler Entwick­lungs­zu­sam­men­ar­beit können wir viel freier agieren. Die tradi­tio­nel­lere Entwick­lungs­zu­sam­men­ar­beit ist von grosser Bedeu­tung, aber diese Art der Hilfe ist sehr komplex und wird von unter­schied­li­chen Inter­essen oder diplo­ma­ti­schen Aspekten geleitet. Es ist kein Zufall, dass die Schweiz ihre Botschaft nicht in Free­town in Sierra Leone, sondern in Abidjan in der benach­barten Elfen­bein­küste hat. Diese verfügt über grosse Kakao­vor­kommen und die Schweiz betreibt dort viel Handel.

Das Grund­ein­kommen wird auch auf supra­na­tio­naler Ebene disku­tiert. Die Inter­na­tional Labour Orga­ni­sa­tion (ILO) etwa hat ausge­rechnet, dass mit 0.7 Prozent des globalen Brut­to­in­land­pro­dukts – das wären drei Prozent des Betrags, den die G20-Regie­rungen 2009 zur Rettung des Finanz­sek­tors ange­kün­digt hatten – das Grund­ein­kommen für alle Menschen in einkom­mens­schwa­chen Ländern mehr als 30 Mal bezahlt werden könnte. 

Es gibt auch in der huma­ni­tären Hilfe bereits konkre­tere Ideen – etwa, dass das World Food Programme (WFP) künftig viel gross­flä­chiger mit Geld­trans­fers arbeitet. Aber es passiert schluss­end­lich noch viel zu wenig. Auch neben der Finan­zie­rung eines Grund­ein­kom­mens gibt es noch sehr viele prak­ti­sche Hürden, gerade in Ländern, die keine funk­tio­nie­renden Sozi­al­sy­steme haben. Bis wirk­lich etwas passiert, wird es noch lange dauern. Und bis dahin sollten wir uns nicht vor der Verant­wor­tung drücken, auch indi­vi­duell einen Beitrag für eine gerech­tere Welt zu leisten.

Sie setzen dabei auf Frei­wil­lig­keit. Glauben Sie daran, dass die „frei­wil­lige Umver­tei­lung von Wohl­stand“, wie Sie schreiben, erreicht werden kann?

Wenn solche Projekte wachsen, können sie Aufmerk­sam­keit und poli­ti­schen Druck erzeugen. Und ich glaube daran, dass auch wirt­schaft­liche Akteur*innen, denen soziale Gerech­tig­keit etwas wert ist, bei unserem Projekt mitma­chen werden. Zum Beispiel als Firma, die ein Prozent der Löhne der Mitarbeiter*innen an Social Income bezahlt. Viel­leicht könnte dies in der Wirt­schaft zu einer Selbst­ver­ständ­lich­keit werden. 

Dies kann auch über einen finan­zi­ellen Beitrag hinaus­gehen. Wir sind als digi­tale Initia­tive auch immer ange­wiesen auf Entwickler*innen, die uns helfen, neue Ideen ins Digi­tale zu über­tragen. Wir haben bereits Web- und App-Entwickler, die beispiels­weise tags­über bei Google und Apple arbeiten und abends für Social Income neue Features coden. Diese Zusam­men­ar­beit möchten wir weiter ausbauen.

Kann es nicht proble­ma­tisch werden, wenn sich Firmen dadurch einen sozialen Anstrich verleihen, während sich an den poli­ti­schen Grund­be­din­gungen, die globale Ungleich­heiten immerzu verstärken, nichts ändert? 

Ich sehe hier kein Entweder-oder. Solche Entwick­lungen sollten parallel statt­finden. Viele Unter­nehmen sind sich der gesell­schaft­li­chen Verant­wor­tung bewusst und enga­gieren sich auf verschie­denste Weise. Klar, solche Enga­ge­ments lassen sich prima mit Unter­neh­mens­werten verbinden und werden entspre­chend kommu­ni­ziert. Dies hilft aber auch poten­ti­ellen Kund*innen und Arbeit­neh­menden bei der Orien­tie­rung. Sie sind es dann auch, die Erwar­tungen an die Firma stellen müssen, für bessere Grund­be­din­gungen einzu­stehen, damit den Worten auch Taten folgen.


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