Ein Liebes­brief ans Zugreisen

Wir Schweizer*innen fliegen gerne und viel – doch das muss sich ändern. Zum Glück steht uns eine geniale, nach­hal­tige Alter­na­tive zur Verfü­gung. Eine Abrech­nung mit dem Flug- bzw. ein Liebes­brief ans Zugreisen. 
Reisen soll Zeit nehmen dürfen. (Foto: Albin Berlin/Pexels)

Ich habe Züge schon immer gemocht. Nicht so sehr, dass ich Plüsch­züge und Modell­ei­sen­bahnen zu Hause hatte. Aber neben Trams – die für mich einfach kleine Züge sind – waren Züge von klein auf mein lieb­stes Fortbewegungsmittel.

Trotzdem bin ich bis vor einem Jahr regel­mässig bis zu 4’000 Kilo­meter geflogen, um meine Verwandten in Schweden zu besu­chen. Und das neben den gele­gent­li­chen Kurz­fe­rien in Lissabon, London oder Málaga. Da habe ich schnell mal ein bis zwei Tonnen CO2 ausge­stossen – und das pro Jahr! Ich war an meine Privi­le­gien gewöhnt. Auf Easyjet den näch­sten Schnäpp­chen­flug zu finden, fühlte sich span­nend an. Der Zug hingegen? Langsam, teuer und kompliziert.

Meine Teenie-Obses­sion mit dem Flug­reisen hat darum etwas länger ange­dauert, als mir lieb ist. Mit 22 bin ich endlich aufge­wacht. Dank Greta Thun­berg, die mich wie so viele andere mit der Realität der Klima­krise konfron­tiert hat. Sie hat mir die lang bekannten und eigent­lich gut zugäng­li­chen Fakten mitten ins Gesicht geknallt; ihr habe ich endlich zuge­hört. Wie konnte ich die krasse Realität nur so lange verdrängen?

Na, weil diese Fakten in meiner privi­le­gierten Bubble gnadenlos und struk­tu­riert igno­riert werden. Die Klima­krise ist halt auch in linken Kreisen kein sexy Thema. Insbe­son­dere, weil wir doch die Mobi­lität als sozialen und kultu­rellen Fort­schritt feiern: Durch das Reisen lernen wir andere Kulturen kennen und tauschen uns aus. Das soll doch niemandem vorent­halten werden durch über­teu­erte Flug­preise. Wir sind ja sozial.

Und genau diese Einstel­lung wird von den spitz­fin­digen Flug­an­bie­tern unauf­hör­lich befeuert: Fliegen wird uns als bezahl­barer Luxus verkauft, den wir uns nach dem vielen Arbeiten verdient haben. Fliegen ist ein Lebens­ge­fühl. Ein Lebens­ge­fühl, das die Gene­ra­tion Easyjet (ich inklu­sive) nur zu gut kennt.

Als ich dann aber verstand, wie viel CO2 wir für dieses Lebens­ge­fühl tatsäch­lich ausstossen, hat’s Klick gemacht. Mir wurde bewusst, dass ich all die Jahre doch eigent­lich nur aus reiner Faul­heit, Gewohn­heit und Arro­ganz geflogen bin. Doch weiterhin herum­zu­fliegen, als wäre nichts, als hätte ich nicht gewich­tige neue Infor­ma­tionen erhalten, war keine Option. In einem Sekun­den­bruch­teil entschied ich mich, möglichst nie wieder zu fliegen.

Ich sage „möglichst“, weil ich finde, dass es Unter­schiede gibt beim Fliegen – und beson­ders bei der Recht­fer­ti­gung des Flie­gens. Es ist ein Unter­schied, ob jemand Familie in Austra­lien hat und darum alle paar Jahre dahin fliegt, oder ob jemand für zwei Wochen Strand­ur­laub Tausende von Kilo­me­tern auf sich nimmt. Eine lange Flug­reise anzu­treten, um die eigene Familie zu besu­chen, ist viel eher vertretbar als ein Strand­ur­laub, den man genauso gut an der nächst­ge­le­genen Küste verbringen könnte – denn Strände gibt es im Gegen­satz zu der eigenen Familie auf jedem Konti­nent. Und wer hat denn gesagt, dass wir jeden schönen Ort dieser Welt mit eigenen Augen sehen müssen? Ah ja, stimmt: die Fluggesellschaften.

Es geht nicht an, dass privi­le­gierte Schweizer*innen auf Kosten anderer herum­fliegen und so Unmengen von CO2 in die Atmo­sphäre ausstossen. Denn genau die, die regel­mässig zum Spass hin- und herfliegen, hätten die Ressourcen, um auf den Zug umzu­steigen. Das gilt sowohl für gutver­die­nende Banker*innen, die in Bali in einem Luxus­res­sort entspannen, als auch für party­wü­tige Student*innen, die sich eine Woche am Baller­mann gönnen.

Wenn wir vom Durch­schnitts­preis eines Fluges inner­halb von Europa ausgehen, ist der Zug meistens billiger – die verflixten Billig­flüge und Super-Spar­preis-Ange­bote verzerren aber leider das Bild. Dank des Chica­goer Abkom­mens ist der Flug­ver­kehr nämlich weiterhin steu­er­lich bevor­teilt. Mit etwas Planung und Flexi­bi­lität bezüg­lich des Datums lässt sich aber sogar dieser Preis­un­ter­schied etwas kompensieren.

Bei der Zeit sieht es natür­lich anders aus – teil­weise dauert eine Reise mit dem Zug doppelt oder dreimal so lang. An gewisse Orte kommen wir mit dem Zug auch gar nicht erst hin. Trotzdem ist das kein Argu­ment für das Flug­zeug. Insbe­son­dere, wenn mehr als 80 Prozent der Flüge aus der Schweiz ein Ziel in Europa ansteuern!

Leute! Wir wohnen wort­wört­lich in der Mitte von Europa! Selbst ich als Studentin habe so viel Geld, dass ich es gewohnt bin, regel­mässig zu verreisen. Und Zeit habe ich wirk­lich mehr als genug. Wieso also die Sommer­fe­rien nicht schon im Winter planen und beispiels­weise eine Zugreise nach Kroa­tien buchen? Glaubt mir: Es ist befreiend.

Nach meiner Entschei­dung, nicht mehr zu fliegen, fühlte ich mich erleich­tert. Ich war noch nie ausser­halb von Europa und durch meine Vielflieger-Kolleg*innen hatte sich schon ein FOMO-Gefühl (fear of missing out) einge­schli­chen. Trotzdem wehrte ich mich inner­lich gegen das, was alle um mich herum mach(t)en. Ich nenne es „aggressiv reisen“: hin und her jetten, um in den zwei Wochen Ferien möglichst viele Städte oder Orte zu sehen. Ein Insta­gram-Foto von der lokalen Sehens­wür­dig­keit machen, ein Häkchen auf die Liste setzen und weiter geht’s! Das gilt als „gute“ Ferien, denn man ist ja herum­ge­reist und hat viel gesehen. Bullshit!

Was Reisen wirk­lich ist – oder sein sollte –, ist etwas, das wir verlernt haben. Reisen soll Zeit nehmen dürfen. Reisen soll teuer sein. Reisen soll schmerz­haft sein. Reisen ist nichts, was uns einfach zusteht, sondern etwas, das wir uns verdienen müssen. Und dessen Bedeu­tung wir uns wieder bewusst werden müssen. Eine Möglich­keit, genau dieses Reisen wieder für uns zu entdecken, ist, in den Zug zu steigen.

Erst diesen Sommer bin ich mit dem Zug von Zürich nach Umeå gefahren – von Bahnhof zu Bahnhof brauchte ich 34 Stunden. Mein Fazit nach zwei Nächten und einem Tag im Zug? Genial. Anstren­gend. Intensiv. Richtig.

Als ich um sechs Uhr morgens am Ankunfts­bahnhof stand, war ich zwar müde und hungrig, aber trotzdem glück­lich. Ich spürte die 34-stün­dige Reise in meinen Knochen, und das fühlte sich gut an! Und obwohl der Weg ja nicht mein Ziel war, und ich möglichst schnell in Umeå ankommen wollte, hatte ich auf der Zugreise schon etliche span­nende Erin­ne­rungen gesammelt.

Ich habe im Nachtzug Rich­tung Hamburg mit zwei fremden Frauen eine Flasche Weiss­wein geleert und dann auf meiner Liege gelesen, bis ich einge­schlafen bin. Zwischen Deutsch­land und Däne­mark bin ich aus dem Zug ausge­stiegen und aus den Tiefen der Fähre hinauf­ge­klet­tert, um auf dem Deck etwas frische Luft zu schnappen. In Südschweden hat die Zeit genau gereicht, um mir eine Zimt­schnecke zu kaufen und meinen näch­sten Zug zu erwi­schen – wo ich dann das WLAN genutzt und Netflix geschaut habe. Ein Zugwechsel und eine Nacht später bin ich in Nachtzug Nr. 2 aufge­wacht und habe durch das Fenster die mir so bekannte nord­schwe­di­sche Natur bestaunt.

Was Flug­an­bieter mit ihren Reisen anzu­bieten versu­chen, reicht dem Lebens­ge­fühl meiner 34-stün­digen Zugreise nicht annä­hernd das Wasser. Wenn ich also daran denke, dass ich künftig alle meine Reise­ziele, wenn nur irgendwie möglich, mit dem Zug ansteuern werde, fühle ich mich nicht einge­schränkt. Im Gegen­teil. Der Zug ist nicht das kleine lästige Übel der Klima­krise – sondern ein vergessen gegan­genes Reiseerlebnis.

Coole euro­päi­sche Städte, die einfach mit dem Zug erreichbar sind:

Amsterdam – ICE ab Basel, umsteigen in Frank­furt (7h)
Barce­lona – TGV ab Zürich, umsteigen in Paris (11h)
Berlin – Nachtzug ab Zürich (11:30h)
Biar­ritz – TGV ab Zürich, umsteigen in Paris (10:30h)
Buda­pest – Nachtzug ab Zürich (12h)
London – TGV ab Zürich, umsteigen auf Euro­star in Paris (9h)
Mailand – EC ab Zürich (3:40h)
Paris – TGV ab Zürich (4h)
Prag – Nachtzug ab Zürich (13h)
Rom – EC ab Zürich, umsteigen in Mailand (7:30h)
Venedig – EC ab Zürich (6:30h)
Wien – Nachtzug ab Zürich (10h)
Zagreb – Nachtzug ab Zürich (14h)


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