Der Kulturkampf hat es an die Urne geschafft: Am 24. November stimmt die Stadt Zürich darüber ab, ob die Stadtverwaltung den Genderstern in offiziellen Texten verwenden darf. Über Sonderzeichen abstimmen: eine Weltpremiere!
Als moralisch von oben aufgezwungenes „Sprachdiktat“ bezeichnet die Initiantin und SVPlerin Susanne Brunner die geschlechtergerechte Sprachverwendung der Stadt und möchte das Sternchen ironischerweise gesetzlich verbieten lassen. Ironisch ist auch, dass sich die Initiantin besorgt über die Leserlichkeit von behördlichem Schreiben gibt, das auch ohne gendergerechte Sprache nicht gerade für seine Zugänglichkeit bekannt ist.
Brunner selbst ist bisher dafür bekannt, dass sie sich gegen den bezahlten Vaterschaftsurlaub und gegen gratis Badis einsetzt. Das Initiativkomittee setzt sich – bis auf einen Quoten-SPler – aus Politiker*innen von der Mitte bis zum rechten Rand zusammen.
Im Unterstützungskomitee der Genderstern-Initiative versammeln sich krude Gestalten wie Dominik Wermuth, ein Mitglied des Vorstandes von „Keine Heimat“ – eine Organisation, die die völkische und rassistische Verschwörungserzählung des grossen „Bevölkerungsaustauschs“ durch „Umvolkung“ propagiert. Im Frühling dieses Jahres wurde Wermuth, der vermutlich anders heisst, auf dem antifaschistischen Portal barrikade.info als Betreiber unzähliger rechtsextremer Schweizer Websites geoutet. Auch Michael Straumann, Vorstand vom Verein Massvoll ist mit von der Partie. Der impfskeptische Verein hat es sich schon lange im braunen Lager gemütlich gemacht und propagiert „Remigration“, eine faschistische Idee eines „reinen Volkes“ und der Aufruf zur Deportation aller, die nicht in diese Ideologie passen.
Um den Anschein zu bewahren, es ginge hier irgendwie doch um Sprache und nicht um Politik, gibt es in der Liste des Unterstützungskomitees unter „Funktion/Amt“ auch eine Person in der Rolle der „Transfrau“, eine „Ex-Journalistin (Übersetzerin)“ und einen „Typographen im Ruhestand“. Dass die Verwendung des Sonderzeichens polarisiert, ist keine Neuheit. Es ist auch kein Geheimnis, dass die Gewalt gegen nonbinäre und trans Personen in der Schweiz stetig zunimmt. Und es ist auch keine Überraschung, dass Rechte mit dieser Initiative zum kulturkämpferischen Schlag ausholen und sowohl die Debatte als auch das Ergebnis der Initiative hochpolitisch sind.
„Klima-Kleber, Gender- und Woke-Aktivisten“ bedrohten unsere Demokratie, beginnt der Text zur Initiative auf der SVP-Website. Die Genderstern-Gegner*innen erhoffen sich mit ihrer Initaitive offensichtlich nicht, endlich grammatikalisch-ästhetische Fragen bezüglich zugänglicher Sprache zu klären, sondern die Debatte um die Frage nach Geschlechterrollen vom Tisch zu räumen. Ein für alle Mal soll vermeintlich demokratisch festgelegt werden, wie erst die Zürcher*innen, dann der Rest der Schweizer Gemeinschaft zum Thema Gender steht – und wie wir schreiben und leben dürfen. Hier geht es nicht um Sonderzeichen, sondern um unser gesellschaftliches Zusammenleben. Ähnlich wie Elon Musk dieses Jahr die Begriffe „cis gender“ und „cis“ als Beleidigung deklariert und deren Verwendung auf X eingeschränkt hat, beabsichtigen sich die Befürworter*innen der Genderstern-Initiative das binäre Verständnis der Geschlechter zu zementieren.
Trotzdem: Niemand braucht den Genderstern. Nestlé und Google verwenden ihn und sind deshalb keine grossen Queer-Menschenrechtler. Es ist nicht die Verwendung des Gendersterns, der Menschen schützt oder sichtbar macht, sondern alle Facetten der Gesellschaft. Sprache ist Teil davon, aber kein Sonderzeichen kann genderqueeren Personen das geben, was sie eigentlich brauchen: physische, psychische und ökonomische Sicherheit, die rechtliche Anerkennung ihrer Existenz – und ihre verdammte Ruhe vor der rechten Kulturhetze wie dieser Abstimmung, die ihre Unversehrtheit weiter bedroht.
Und dennoch ist das Resultat dieser Abstimmung relevant: Weil auch Zeichen relevant sind; weil die ganze Welt aus Zeichen besteht, die wir ständig interpretieren. Momentan sieht es so aus, als würde der Grossteil der Zürcher Gesellschaft mit der Version der SVP mitgehen. „Wer nicht gendert, ist ein schlechter, ignoranter Mensch“, behauptet sie klaghaft und empört sich: „Diese moralische Aufteilung ist nicht zu akzeptieren!“ Nein, ist sie wirklich nicht. Fick den Genderstern! Aber fick zuerst eure menschenverachtende und queerfeindliche Politik! Dann klammert sich auch niemand an Sonderzeichen fest, um gesehen zu werden und ein sicheres Leben führen zu können.
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