Flucht­wege: Eine Fotoreportage

Der Foto­jour­na­list und Reporter Klaus Petrus doku­men­tiert seit 2016 die Flucht­wege von der türkisch-griechischen Grenze über den Balkan in die EU-Länder. 
Flucht­wege (Foto: Klaus Petrus / www.klauspetrus.ch)

Im Herbst 2015 sprach die deut­sche Bundes­kanz­lerin Angela Merkel ange­sichts des „Flüchtlingsstroms“ in Rich­tung Europa die Worte: „Wir schaffen das!“ Das rief nicht bloss eine Art Will­kom­mens­kultur ins Leben, sondern bestärkte auch rechte Strömungen und Parteien in ihrer Überzeugung, Geflüch­tete seien eine Gefahr für die Identität Europas. Gut fünf Jahre danach haben sich die poli­ti­schen Fronten verhärtet, die Verhand­lungen über eine gemein­same Flüchtlingspolitik kommen kaum voran und die Lage der Geflüch­teten ist nach wie vor prekär – nicht bloss in den Lagern an den Aussen­grenzen, sondern auch auf dem Balkan, wo viele der Vertrie­benen stecken­ge­blieben sind.

Grenze Alba­nien Monte­negro, Januar 2017 (Foto: Klaus Petrus / www.klauspetrus.ch)

Auf Tausenden Kilo­me­tern Flucht­wegen sind die Spuren der Vertrie­benen allgegenwärtig: Kleider, Spiel­zeug, Essens­reste, Decken, SIM-Karten, Zahnbürsten – sie zeugen von einer verlo­renen Heimat. Es gibt angeb­lich Menschen, die kennen kein Heimweh, sie sagen: „Unsere Heimat ist da, wo wir gerne gesehen werden.“ Doch was, wenn niemand sie will­kommen heisst?

Subo­tica, Serbien, September 2016 (Foto: Klaus Petrus / www.klauspetrus.ch)

Im Frühjahr 2016 floh Feroz A. aus Paki­stan, schon zwei Monate später war er in Serbien, nie hätte er gedacht, dass alles so flott gehen würde. Doch dann kamen sie, die langen Monate. Zuerst war Feroz in einem Lager in Šid an der kroa­ti­schen Grenze, dann in Obre­novac, später in den Baracken von Belgrad, in Sombor im Norden Serbiens und schliess­lich in einer verfal­lenen Ziegelei bei Subo­tica nahe der unga­ri­schen Grenze. Im Sommer 2018 gelang ihm die Flucht, er kam nach Italien und liess sich regi­strieren. Ein halbes Jahr verbrachte er in einem Inter­nie­rungs­lager bei Padua, dann arbei­tete er als Ernte­helfer, zehn Stunden am Tag. Heute lebt der 27-Jährige in Verona und macht Schichten in einer Scho­ko­la­den­fa­brik. Und er will weiter. Viel­leicht nach Kanada, so Gott will. Und das Geld reicht.

Horgoš, Serbien, Februar 2018 (Foto: Klaus Petrus / www.klauspetrus.ch)

Als der Paki­stani Amar Z. Belgrad erreichte, war es Februar 2016 und kalt und eisig, er nahm den Bus an die unga­ri­sche Grenze. „Jetzt“, so dachte sich Amar, „bin ich fast am Ziel.“ Zwei Jahre später sass der 18-Jährige noch immer dort fest. Er klagte über Müdigkeit und eine Schwere auf seiner Brust und dass er nichts mehr behalten kann in seinem Kopf, keine Namen, keine Bilder, keine Gebete. Aufgeben? „Niemals“, sagte Amar damals. Im Herbst 2018 schaffte er es über die Grenze nach Ungarn und Slowe­nien, wo er aber­mals stecken­blieb. Mitte März 2019 nahm sich Amar Z. in einem kleinen Dorf unweit der italie­ni­schen Grenze das Leben.

Horgoš, Serbien, Februar 2019 (Foto: Klaus Petrus / www.klauspetrus.ch)

„Bei Gott, hier gleicht ein Tag dem anderen, das Licht, die Wolken, die Farben, alles eins. Wir hängen rum, kochen, reden, wir spielen Cricket – ich bin der Beste auf dem Platz –, wir schneiden uns die Haare, chatten, schlafen. Die Nächte werden immer länger, und die Tage auch, leere, kümmerliche Tage sind das.“ Hassan J., 19, blickt über das leere Feld, drei­hun­dert Meter von der unga­ri­schen Grenze entfernt. Irgend­wann, davon ist er überzeugt, wird er es schaffen. Weil es so sein muss. Als wäre es ein Natur­ge­setz: Auf die Vertrei­bung aus der Hölle folgt die Flucht ins gelobte Land.

Šturlić, Bosnien, August 2019 (Foto: Klaus Petrus / www.klauspetrus.ch)

Seit sich 2018 die Balkan­route nach Westen verschob, wird Bosnien für viele zur Hoff­nung, zum Tor in die EU. Doch auf der anderen Seite stehen 6’000 kroa­ti­sche Grenzwächter bereit. Wer das nötige Geld für die Schleuser nicht hat – 3’000 Euro pro Person –, überquert die Grenze auf eigene Faust. Wie ein irani­sches Paar mit ihren drei Kindern im Alter von fünf, sieben und elf Jahren, der Mutter des Ehemannes und ihrem jüngsten Sohn, alle voll­be­packt mit Rucksäcken und Taschen. Die Route führt an Mais­fel­dern vorbei zu einem Fluss, der die Grenze zu Kroa­tien markiert. Drüben ange­kommen, nehmen sie einen Pfad durch den Wald, stapfen durchs Unter­holz. Bis vier Männer vor ihnen stehen, unifor­miert und bewaffnet. Einer sagt: „Go back to Bosnia, you are not welcome!“ Dann bringen die kroa­ti­schen Grenz­po­li­zi­sten die Geflüch­teten an die Grenze zurück, lassen sie dort stehen. Das war im August 2019. Heute lebt die Familie in Deutschland.

Velika Kladuša, Bosnien, Oktober 2019 (Foto: Klaus Petrus / www.klauspetrus.ch)

„Sie leben mit den Hunden, denn sie leben wie die Hunde“, sagt Marina A., 57, eine Einwoh­nerin des bosnisch-kroa­ti­schen Grenz­ortes Velika Kladuša. Anfänglich hiess die mehr­heit­lich musli­mi­sche Gesell­schaft die Vertrie­benen will­kommen, inzwi­schen klagen viele über den Dreck, den die Geflüch­teten hinter­lassen, sie haben Angst vor diesen „Streu­nern“. Auch die Polizei redet von „Stras­sen­hunden“, die sie einfangen müssen, und meint damit die Migranten. Sind die Geflüchteten dann weg oder werden sie vertrieben, bleiben, ironi­scher­weise, die Stras­sen­hunde zurück.

Velika Kladuša, Bosnien, August 2019 (Foto: Klaus Petrus / www.klauspetrus.ch)

„Ich will ihm keine Last sein, nur das nicht.“ 2016 verliess die heute 73-jährige Samira S. mit ihrem Enkel Abdullah aus Angst vor den Taliban ihr Dorf unweit von Karat­schi, im Herbst 2018 gelangten sie in zwei Monaten über Alba­nien und Monte­negro nach Bosnien, 600 Kilo­meter insge­samt, fast immer zu Fuss. Fast zwei­ein­halb Jahre später sind die beiden noch immer im Norden Bosniens, sie leben bei einem Ehepaar im Keller, für 85 Euro im Monat, was viel Geld ist. Samira weiss, ihr Enkel würde es allein schneller über die Grenze schaffen, früher oder später. Doch Abdullah will nicht: „Entweder gehen wir beide, oder es geht niemand von uns.“

Bihać, Bosnien, Januar 2020 (Foto: Klaus Petrus / www.klauspetrus.ch)

Unzählige Male schon versuchte Adil, 17, unbe­merkt über die Grenze zu gelangen. Und immer spürten kroa­ti­sche Grenz­po­li­zi­sten ihn auf. Machten sein Handy kaputt. Drückten sein Gesicht in den Matsch. Verdrehten dem Afghanen die Arme, brachen ihm die Finger. Stopften seinen Mund mit faulem Obst, liessen ihn halb­nackt im Kreis laufen, fassten ihm zwischen die Beine, grölten und spuckten – und schickten ihn nach Bosnien zurück.

Horgoš, Serbien, Februar 2018 (Klaus Petrus / www.klauspetrus.ch)

Joes Haus, so wird die kleine Hütte in einem Obst­hain nahe der serbisch-unga­ri­schen Grenze genannt. Bewohnt wurde sie von José C., einem Kubaner, der 2014 sein Land verliess und im Jahr darauf auf verschlun­genen Wegen nach Serbien gelangte. Weiter wollte er nicht, er war zu müde, brachte sich mit Gele­gen­heits­ar­beiten durch, blätterte viel in Büchern und verbrachte seine Zeit mit Dino, dem weissen Stras­sen­hund. „Wir bleiben zusammen, egal was kommt“, sagte José damals im kalten Winter 2018. Zwei Jahre später war die Hütte verlassen. José habe sich im Sommer umge­bracht, hiess es. Und der weisse Hund sei mit ihm gegangen.

Paris, Frank­reich, September 2019 (Foto: Klaus Petrus / www.klauspetrus.ch)

Wie von Geflüchteten erzählen? Sultan H., Jour­na­list aus Kabul und seit 2016 auf der Flucht, hat sich diese Frage viele Male gestellt. Auch seine Geschichte, sagt er, würde vom Kummer eines Vertrie­benen handeln. Doch sie würde auch davon erzählen, dass er, ein Afghane, am lieb­sten Spaghetti isst. Oder davon, wie er als Junge eine Plastik­ka­mera fand und den Reporter mimte. Wie er die Flucht manchmal als Aben­teuer erlebte und wie er zugleich Scham empfindet, wenn er an seine Familie denkt, an seine Kinder, die so weit weg sind. Wie er von diesem Europa träumt und wie er, auch das, immer öfter daran denkt, seinem Leben ein Ende zu setzen. Eine Geschichte wäre das, sagt Sultan, die nicht darauf hinaus ist, Widersprüche, Brüche und Kratzer der Wirk­lich­keit auszubügeln. Sondern eine, die uns mitfühlen lässt, wie es ist: das Leben als Mensch, der vertrieben wurde. Auf dem Bild: Sultan H., 27, nach gelun­gener Flucht, in der Pariser Metro.

Velika Kladuša, Bosnien, Januar 2020 (Klaus Petrus / www.klauspetrus.ch)

– „Schreibst du manchmal nach Hause, erzählst ihnen vom Leben hier?“, frage ich Adil, 17, den Berber aus Alge­rien, der seit zwei Jahren in Bosnien fest­sitzt.
– „Von welchem Leben denn? Ich schreibe Verse“, sagt Adil beiläufig.
– „Ein Gedicht für Lara, deine Freundin?“
– „Sicher nicht. Schau: ‚Par les abîmes et à travers les basses terres, mon long chemin m’a mené.‘ Na, was sagst du? Kannst du das schön übersetzen?“
– „Hast du je daran gedacht, nach Hause zurückzukehren?“, frage ich.
– „Eher würde ich mich umbringen.“
– „Sag das nicht.“
– „Sie würden mich ausla­chen.“
– „Wer denn, deine Mutter?“
– „Nein, aber schämen würde ich mich. Sie glaubt fest daran, dass ich es schaffen werde.“
– „Und wenn du es geschafft hast? Ihr seid nicht will­kommen, du weisst es.“ Adil wiegt den Kopf, als würde er sagen: „Das sind wir sowieso nirgendwo.“ Doch er sagt es nicht.

Horgoš, Serbien, September 2020 (Foto: Klaus Petrus / www.klauspetrus.ch)

In der Türkei haben sie sich getroffen, Baran N., 18, und Milad R., 20, beide auf der Flucht seit zwei Jahren. Seitdem sind sie beisammen, leben in Wäldern oder Baracken, versu­chen Grenze um Grenze zu überwinden. Erst waren sie in Bosnien, dort wurden sie von kroa­ti­schen Poli­zi­sten vertrieben, jetzt sind sie in den Norden Serbiens zurückgekehrt, wo der unga­ri­sche Ministerpräsident Viktor Orban schon vor Jahren eine Absper­rung errichten liess, 175 Kilo­meter lang, drei Meter hoch. Hoff­nung haben sie kaum noch: „Erst müssen wir den Winter überstehen, dann sehen wir weiter.“

Horgoš, Serbien, Februar 2019 (Foto: Klaus Petrus / www.klauspetrus.ch)

Soya, das Reh, und Riaz, der Geflüch­tete: zwei Vertrie­bene, Verwund­bare, Sorgende, beide ohne Familie, beide ohne ein Daheim. Am Fuss verletzt, in einem Stachel­draht zuckend, wurde Soya nahe der serbisch-unga­ri­schen Grenze gefunden – dort, wo auch Riaz lebte, in einem der verfal­lenen Getrei­de­lager bei Horgoš. Er trug das Reh in seine Hütte, gab ihm den Schoppen, hüllte es in Decken. Von da an beglei­tete das Tier ihn auf Schritt und Tritt, es hüpfte mit ihm, schlief bei ihm, ass mit ihm, fast zwei Jahre lang. So könnte diese rührende Geschichte noch endlos weiter­gehen. Doch dann, im Sommer 2019, setzte sich Riaz mit Schlep­pern nach Dänemark ab. Das Reh blieb allein zurück.

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