„Jetzt können wir uns nicht mehr als Schüler*innen bezeichnen. Vorerst gelten wir wohl als arbeitslos“, sage ich und wir lachen irgendwie erleichtert. Es ist der letzte Tag im Juni und ich geniesse nachts in einem Park die letzten Stunden mit meinen Schulkolleg*innen.
Dafür, dass es der erste Abend eines neuen Lebensabschnittes sein sollte, fühlt er sich nervig bekannt an. Wir trinken billigen Wein, reden miteinander und zögern den ultimativen Abschied um einige Stunden hinaus. Trotzdem können wir es kaum fassen: Die Schulzeit geht endlich zu Ende.
Da wir in verschiedenen Ecken landen würden, wollen wir herausfinden, was unsere Mitschüler*innen nächstes Jahr vorhaben – in der Hoffnung, dass wir uns vielleicht doch noch das eine oder andere Mal kreuzen. Während einige ein Studium oder eine Ausbildung beginnen, antworten die allermeisten: „Ich mache ein Zwischenjahr“.
Die Idee des Weltfriedens
Das Zwischenjahr – auch Gap Year genannt – ist unter jungen Menschen sehr beliebt. Viele brauchen nach der Schule oder nach dem Studium eine Auszeit und nehmen sich ein Jahr dafür frei.
Dieses Phänomen ist nicht neu. Bereits in den 60er Jahren fingen junge Menschen in Grossbritannien an, ein Zwischenjahr nach der Schule und vor dem Studium zu machen. Die Absicht dahinter war scheinbar der Weltfrieden: Im Grossbritannien der Nachkriegszeit erhoffte man sich eine Jugend, die durch das Reisen in ferne Gebiete und das Kennenlernen von anderen Kulturen für den Frieden sensibilisiert würde. „Geht, schaut euch die Menschen und Ortschaften an und hoffentlich tut ihr denen in Zukunft nichts“, schien die Devise.
Diese Industrie ist so profitreich, dass viele Agenturen die freiwillige Arbeit auf ihren eigenen Gewinn ausrichten.
Seither hat sich das Gap Year fast zu einer Norm entwickelt – zumindest nach meiner Erfahrung. Diese Norm bedeutet, sich eine Auszeit zu nehmen für Selbstfindung und um den eigenen Horizont zu erweitern. Gerade nach dem strukturierten Alltag in der Schule ist die Idee von Ferne und Neuem verlockend.
Die Beliebtheit des Zwischenjahrs im Globalen Norden liess zudem eine riesige Industrie entstehen. Wer etwa mit der Sprachreiseorganisation Education First (EF) in Sydney Englisch lernen möchte, muss bereit und in der Lage sein, knapp 1’000 Franken pro Woche auszugeben. Je nach Unterkunft und Sprachkurs kann die Zahl steigen.
Eine profitable Industrie
Neben den vielen Sprachschulangeboten gibt es etliche Agenturen, die jungen Menschen Stellen als Freiwillige in ärmeren Ländern vermitteln. Die Nachfrage dafür ist gross, denn oft wollen junge Menschen in ihrem Zwischenjahr auch sinnstiftende Arbeit leisten. Die Agenturen versprechen exotische Landschaften, eine unvergessliche Reise und die Möglichkeit, nebenbei zu helfen. Im Englischen nennt man das „voluntourism“.
Diese Industrie ist so profitreich, dass viele Agenturen die freiwillige Arbeit auf ihren eigenen Gewinn ausrichten. Freiwillige müssen je nach Organisation ordentlich viel zahlen, um an einem solchen Programm teilzunehmen. Diese Kosten beinhalten einerseits Verpflegung und Unterkunft der Freiwilligen – aber oft zu einem überrissenen Preis.
Mit der Agentur Travelworks zahlen Freiwillige etwa weit über 2’000 Franken im Monat, um an einer Schule in Ghana freiwillig zu unterrichten. Lokale Schulen seien ausgelastet und es gäbe für Interessierte „viel zu tun“, so ihre Website. Zwar können solche Angebote die Situation kurzfristig erleichtern, sie erzeugen aber gleichzeitig eine langfristige Abhängigkeit. Die betroffene Region kann nicht mehr ohne die Freiwilligen leben: Sind sie nicht da, gibt es schlichtweg zu wenig Lehrpersonen an den Schulen.
Was vielleicht mit einer positiven Absicht anfing, endet schlussendlich in einer Form von white saviour complex.
Auch gibt es beispielsweise Waisenhäuser, die in armen Regionen Kinder von ihren Eltern mit dem Versprechen trennen, dass sie nun ein besseres Leben mit finanzieller Sicherheit geniessen werden. Dabei geht es an erster Stelle darum, das Angebot für die Freiwilligen attraktiver zu machen, die sich natürlich gerne um die „Waisenkinder“ kümmern. Bauen die Kinder eine Verbindung zu den Freiwilligen auf, müssen sie sich einige Wochen später unvermeidlich wieder verabschieden.
Kritisch an diesen Angeboten ist zudem, dass man in einem Zwischenjahr nur begrenzt Zeit hat. Das führt dazu, dass Freiwillige oft Aufgaben übernehmen, für die sie weder eine Ausbildung noch die nötigen Skills haben. Was vielleicht mit einer positiven Absicht anfing, endet schlussendlich in einer Form von white saviour complex – ein Phänomen, nach dem sich weisse Menschen aus dem Globalen Norden dazu berufen fühlen, in Ländern des Globalen Südens Entwicklungs‑, Aufklärungs- oder Hilfsarbeit zu leisten. Im Vordergrund dieser Berufung steht üblicherweise das eigene Befinden: Das gute Gewissen, jemanden geholfen zu haben. Ob man dabei wahrhaftig geholfen hat, gerät in den Hintergrund oder in Vergessenheit.
Eine grosse Ausnahme
Während viele Schulabgänger*innen in der Schweiz die Wahl haben, ein solches Zwischenjahr zu machen, ist es bei weitem nicht in allen Ländern so. Im Austausch wird mir klar: Von meinen Kolleg*innen aus der Schweiz geht kaum jemand direkt studieren. Von jenen aus meiner Heimat Brasilien hingegen kenne ich keine Person, die freiwillig ein Zwischenjahr macht. Wird man nach der Schule nicht direkt an einer Universität aufgenommen, so verbringt man das nächste Jahr in einem Vorbereitungskurs – eine Auszeit, wie wir das hier kennen, erlaubt das strenge Schulsystem nicht.
Eine Auszeit vom schnellen und profitorientierten Alltag, der uns die kapitalistische Gesellschaft aufdrängt, ist nur möglich, weil wir an deren Spitze stehen.
Noch wichtiger: Nebenjobs, die gute Löhne zahlen und die Möglichkeit, das Geld überhaupt sparen zu können, sind in Brasilien seltene Ausnahmen. Auch gehen viele junge Menschen aus finanziellen Gründen gar nicht erst an eine Hochschule. Es wurde mir einmal mehr klar: Eine Auszeit vom schnellen und profitorientierten Alltag, der uns die kapitalistische Gesellschaft aufdrängt, ist nur möglich, weil wir an deren Spitze stehen.
Wenn ich an die nächsten Monate denke oder mit meinen Kolleg*innen über unsere Reisepläne spreche, könnte ich vor Freude platzen. Ich bin dankbar, dass ich in einer Position stecke, in der das überhaupt möglich ist. Die Welt zu erkunden ist spannend, aufregend und wunderbar. Auf der Suche nach Sinn und Erfüllung müssen wir uns aber dazu verpflichten, diese nicht auf Kosten anderer zu machen. Es liegt an uns, Angebote gründlich zu recherchieren und ihre Wirkungen zu hinterfragen.
Diese Welt gehört nicht nur uns. Auch, wenn sich das an der Maturafeier ein bisschen so anfühlt.
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