„Rassismus tötet“ – das steht auf einem Transparent, das Demonstrant*innen hochhalten, während sich nach und nach mehr Personen vor dem Zürcher Landesmuseum einfinden. Auf einem anderen Transparent sind die Gesichter von Lamine Fatty, Mike Ben Peter, Hervé Mandundu und Roger „Nzoy“ Wilhelm abgebildet. Sie alle starben in den vergangenen fünf Jahren bei Polizeieinsätzen oder in Polizeigewahrsam im Kanton Waadt. Und noch etwas ist den vier Männern gemeinsam: Sie alle waren Schwarz.
Um sie alle geht es an der Demonstration, die an einem Samstagnachmittag im Oktober stattfindet. Im Besonderen aber geht es um Nzoy.
Etwas mehr als zwei Jahre sind vergangen, seit der 37-Jährige von einem Polizisten erschossen wurde. Was damals passierte, hat das Onlinemagazin Republik detailliert rekonstruiert: Roger Wilhelm, den seine Bekannten Nzoy nannten, war am 30. August 2021 mit dem Zug von Zürich nach Genf unterwegs. Wie seine Angehörigen später berichteten, ging es Nzoy zu dieser Zeit psychisch nicht gut. In Morges im Kanton Waadt stieg er aus dem Zug und begab sich auf die Gleise, wo er betete. Ein Bahnarbeiter wählte den Notruf, kurz darauf erschienen vier Polizeibeamte. Die Situation eskalierte.
Als Nzoy gemäss Angaben der Polizei ein Messer zückte und auf einen der Beamten zu rannte, schoss dieser dreimal auf ihn. Mindestens vier, nach neuen Angaben des Bündnisses Justice4Nzoy sogar sechs Minuten lang liessen die Polizisten Nzoy liegen, bevor sie einen Passanten dabei unterstützten, den am Boden Liegenden zu reanimieren. Nzoy verstarb noch vor Ort.
Der zuständige Waadtländer Staatsanwalt sollte die genauen Umstände, die zum Tod von Nzoy führten, aufdecken. Nun hat er vor kurzem aber bekannt gegeben, die Untersuchungen einstellen zu wollen. Laut des Bündnisses beruft er sich dabei ohne Angabe weiterer Gründe auf Artikel 319ff der Strafprozessordnung (StPO). Darin ist festgehalten, dass ein Staatsanwalt ein Verfahren unter anderem dann einstellen kann, wenn etwa „kein Straftatbestand erfüllt ist“ oder auch wenn „Rechtfertigungsgründe einen Straftatbestand unanwendbar machen“.
Es ist derselbe Staatsanwalt, der auch im Todesfall von Mike Ben Peter, der nach einer Drogenkontrolle starb, ermittelte. Im Laufe des Prozesses gegen die beteiligten Beamten liess der Staatsanwalt die Anklage auf fahrlässige Körperverletzung plötzlich fallen und plädierte nur noch auf Verletzung der Sorgfaltspflicht.
Struktureller Rassismus
„Wir hoffen, dass wir mit dieser Demo den Druck auf die Staatsanwaltschaft erhöhen können“, sagt Diego* vom Bündnis Justice4Nzoy. Anderthalb Stunden vor Versammlungsbeginn steht er in einem Innenhof im Zürcher Langstrassenquartier, wo die letzten Vorbereitungen laufen. Ein paar Leute sitzen drinnen an einem Tisch und besprechen Detailfragen, Transparente liegen zum Trocknen auf dem Boden ausgelegt, eine Frau testet im Untergeschoss die zwei Megafone, die gleich zum Einsatz kommen werden.
Mit der Kundgebung wolle man an den Tod von Nzoy erinnern, den Fall in der Deutschschweiz bekannter machen und auf seine strukturellen Ursachen und Zusammenhänge zu anderen Fällen hinweisen. „Wir wollen das Einzelfall-Narrativ durchbrechen“, so Diego. Damit meint er die Vorstellung, Todesfälle von Schwarzen Personen und People of Color (PoC), die durch die Hand der Polizei erfolgen, seien lediglich Einzelfälle. Tatsächlich liege ihnen aber ein struktureller Rassismus zu Grunde, meint Diego. Darum wird auch an die anderen Verstorbenen erinnert und darum werden vor dem Landesmuseum während knapp sechs Minuten die Namen von PoC verlesen, die in der Schweiz seit den 90ern bei Polizeieinsätzen oder im Gefängnis starben.
Das Bündnis, das die Demonstration organisierte, hat in den letzten zwei Jahren unermüdlich Kundgebungen, Infoanlässe und Treffen veranstaltet. Stets mit dem Ziel, Gerechtigkeit für Nzoy zu erwirken. Es besteht aus Angehörigen von Nzoy sowie aus Aktivist*innen und Kollektiven, die sich mit unterschiedlichen Themen befassen, jedoch alle in irgendeiner Form gegen Rassismus kämpfen. „Wir sehen uns als Teil einer Bewegung“, meint Diego. Obwohl das Bündnis politische Ziele verfolgt, die über den Fall Nzoy hinausgehen, stünden die Angehörigen im Zentrum. Ihre politische Ermächtigung sei zentral, so der Aktivist. „Sie haben das letzte Wort.“
Gleichzeitig sei die Vernetzung der Angehörigen von Getöteten untereinander sehr wichtig. Denn sie würden im Austausch mit den Familien anderer Opfer jeweils dieselben Muster wiedererkennen, wie etwa die weitgehende Straffreiheit der Täter*innen, die auch im aktuellen Fall droht.
Die Frist läuft bald ab
Vor einigen Wochen teilte der zuständige Staatsanwalt der Familie von Nzoy mit, dass er vorhabe, das Verfahren gegen die im Todesfall involvierten Polizisten einzustellen – sehr zum Schock aller Angehörigen und Verbündeten. Im Zuge dieser Ankündigung hat der Staatsanwalt eine Frist gesetzt, innerhalb der neue Beweisanträge gestellt werden können.
„Bis am 10. November haben wir noch Zeit“, erzählt Diego. Es bleiben also nur noch wenige Tage. Gemeinsam mit einem Anwalt und den Angehörigen versuche man nun nochmal mit aller Kraft, neue Informationen und Beweise zu finden, mit denen festgestellt werden kann, was beim Tod von Nzoy genau passierte und wer dafür verantwortlich ist.
Bei diesem Vorhaben hat das Bündnis seit neuestem Unterstützung. Am 31. Mai dieses Jahres schloss sich auf Initiative der Allianz gegen Racial Profiling eine Gruppe von Wissenschaftler*innen zusammen, um eine “Unabhängige Kommission zur Aufklärung der Wahrheit über den Tod von Nzoy” zu gründen. Als Vorbild diente dabei die Kommission zur Aufklärung des Todes von Oury Jalloh, der 2005 in einer deutschen Gefängniszelle verbrannte, erzählt Claudia Wilopo. Die Schweizer Kulturwissenschaftlerin, die derzeit an der San Francisco State University weilt, hat unter anderem zu Racial Profiling und dessen Auswirkungen auf Betroffene geforscht und ist sowohl in der Koordinationsgruppe als auch in der Kommission selbst. Diese besteht aus Expert*innen verschiedener Disziplinen, etwa der Medizin, der Rechts- und Sozialwissenschaften.
„Wir verfolgen ähnliche Ziele wie das Bündnis“, erklärt Wilopo. Jedoch sei einerseits die Herangehensweise klar wissenschaftlich, andererseits läge ihr Fokus darauf, den genauen Tathergang lückenlos aufzudecken. Dazu wertet die noch junge Kommission einen langen Katalog von Fragen aus. „Wie ist der Waffengebrauch des Polizisten rechtlich einzuschätzen? Wieso dauerte es so lange, bis Hilfe geleistet wurde?“ Aber auch: „Wie hängen die verschiedenen Fälle von Polizeigewalt gegenüber Schwarzen Personen und PoC zusammen?“, um nur einige davon zu nennen.
Dass es sich bei Nzoy nicht um einen Einzelfall handle, ist für Claudia Wilopo klar. „Wir konzentrieren uns zwar auf den Fall von Nzoy, wollen mit diesem Beispiel aber auch grössere Themen verhandeln“, so die Wissenschaftlerin.
Die Kommissionsmitglieder arbeiten alle ehrenamtlich, was ein grosses Commitment sei, findet Wilopo. Sie fragt sich laut: „Wieso müssen wir das machen und warum ist es so schwierig, diesen Fall lückenlos aufzudecken?“ Durch die Ankündigung des Staatsanwalts, die Untersuchungen einstellen zu wollen, ist die Kommission unter Druck geraten. „Wir dachten, wir hätten für unsere Untersuchungen sicher bis im Frühjahr Zeit“, sagt Wilopo. Nun bleiben den Kommissionsmitgliedern plötzlich nur noch wenige Tage, um ihre Arbeit zu machen und dabei auch externe Gutachten einzuholen. Das braucht Zeit, und auch Geld.
Externe Gutachten, Anwaltskosten – nicht nur die Kommission, auch das Bündnis sammelt derzeit Geld, um die Kosten decken zu können, die für die Angehörigen bisher entstanden sind. Dass diese so hoch ausfallen, sei kein Zufall, meinen die Aktivist*innen. „Wir schätzen dies als Teil einer Strategie ein“, sagt Diego und meint damit auch die Bürokratie und die Tatsache, dass die Erhebung der Beweise in erster Linie bei den Geschädigten liege. Und schliesslich die Straffreiheit für die Beamten. All das lasse sich immer wieder in Fällen von Polizeigewalt gegenüber Schwarzen Personen und PoC beobachten.
Immerhin sind die Angehörigen im Fall von Nzoy nicht alleine, denn: Es gibt eine Bewegung. Das ist spätestens dann klar, als sich der aus etwa 1’000 Personen bestehende Demonstrationszug am Samstag in Bewegung setzt. Mit der Kommission hat diese nun auch eine wissenschaftliche Stimme, die entschlossen ist, die Wahrheit ans Licht zu bringen. „Wenn es sein muss, unterstützen wir diesen Fall bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte“, sagt Claudia Wilopo bestimmt.
*Name von der Redaktion geändert
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