Gratis­tests für alle

Gesund­heits­prä­ven­tion sollte nieder­schwellig sein – gerade bei infek­tiösen Krank­heiten. Das Stadt­zür­cher Pilot­pro­jekt, das ab Herbst 2022 Gratis­tests für sexuell über­trag­bare Krank­heiten vorsieht, ist ein guter Anfang. 
Kondome reichen für eine wirksame Gesundheitsprävention nicht aus (Foto: Pexels)

In Zürich, der Stadt, die welt­weit für ihre hohen Kosten und Preise bekannt ist, gibt es bald etwas gratis: Letzte Woche gab der Stadtrat bekannt, dass er ab Herbst 2022 ein Pilot­pro­jekt für Gratis­tests für sexuell über­trag­bare Krank­heiten lanciert. Zürich wäre damit die erste Stadt in der Schweiz mit einem solchen Angebot. 

Dieses richtet sich vorwie­gend an junge Menschen unter 25. Für sie fallen die Test­ko­sten beson­ders ins Gewicht, weil sie meistens eine hohe Fran­chise besitzen. Zudem schicken die Test­zen­tren die Kran­ken­kas­sen­ab­rech­nung bei Minder­jäh­rigen meistens direkt an die Eltern. Und ganz ehrlich, wer will schon mit den Eltern beim Sonn­tags­brunch über Chla­my­dien sprechen?

Die Frage, wie viel Gesund­heit kosten darf, hat während der Pandemie ein völlig neues Gewicht erhalten. Irgend­wann während der ersten Welle wurde das Fenster des diskursiv Mögli­chen so weit geöffnet, dass Menschen­leben öffent­lich gegen das Wirt­schafts­wachstum abge­wogen werden durften. 

Am unver­hoh­len­sten zeigte sich dieser radi­kale Neoli­be­ra­lismus in Form des Ökonomen Reiner Eichen­berger, der im Früh­ling 2020 eine „kontrol­lierte Durch­seu­chung“ der Bevöl­ke­rung forderte. Ein solch oppor­tu­ni­sti­sches Verhältnis zu Menschen­leben kannte die Schweiz bisher nur aus ihrer Asylpolitik.

Es ist bereits ein Klischee zu behaupten, die Pandemie habe ein bisher unsicht­bares Problem sichtbar gemacht. Aber manchmal helfen Klischees, das Denken zu struk­tu­rieren: Die Pandemie hat gezeigt, dass Kosten für medi­zi­ni­sche Leistungen die grösste Hürde für eine wirk­same Gesund­heits­prä­ven­tion sind. Am 9. Oktober, also am letzten Tag, an dem der Bund die Kosten für Antigen-Schnell­tests über­nahm, wurden schweiz­weit 22’593 Antigen-Schnell­tests durch­ge­führt; am 18. November – mitten in der sich auftür­menden vierten Welle – waren es deren noch 9’611. 

Der Reflex hinter der Abschaf­fung der Gratis­tests ist typisch schwei­ze­risch und unter­kom­plex. Die Gratis­tests kosteten den Bund wöchent­lich rund 50 Millionen Franken. Warum also sollte der „Steu­er­zahler“ die Minder­heit der hart­ge­sot­tenen Impfverweigerer:innen subven­tio­nieren? Dass sich mit dem erschwerten Zugang zu Antigen-Tests plötz­lich nur noch Gutver­die­nende ihre Impf­skepsis leisten konnten, während gleich­zeitig die Präven­tion vor Covid-19 unnötig erschwert wurde, inter­es­sierte die Bundes­rats­par­teien erst, nachdem der Entscheid bereits in Kraft getreten war. 

Dabei bewiesen sowohl die SVP als auch die SP Orien­tie­rungs­lo­sig­keit: Beide Parteien wech­selten mehr­fach ihre Meinung zu den Gratis­tests. Heute fordern sie zusammen mit den Grünen, die stets für eine Kosten­über­nahme des Bundes plädierten, die Wieder­ein­füh­rung der Gratis­tests. Wie das Infek­ti­ons­ge­schehen aktuell zeigt: wohl zu spät.

Der Zürcher Stadtrat scheint – Achtung Klischee – diese Lektion gelernt zu haben. Mit den ange­kün­digten Gratis­tests für sexuell über­trag­bare Krank­heiten aner­kennt er, dass die beste Gesund­heits­prä­ven­tion möglichst nieder­schwellig, heisst gratis, ist. Denn: Im Kampf gegen Tripper, Syphilis und Chla­my­dien ist ein biss­chen Aufklä­rung und viel Testen nötig. Infek­tionen mit diesen Krank­heiten treten immer häufiger auf, Zürich ist dabei beson­ders betroffen. 

Weit verbreitet ist der Irrglauben, dass ein Kondom als Schutz ausreicht. Das stimmt für HIV, aber für viele anderen sexuell über­trag­bare Krank­heiten eben nicht. Deswegen empfiehlt sich für alle, die wech­selnde Sexualpartner­:innen haben, das regel­mäs­sige Testen. 

Gemäss einer Studie des Forschungs­in­sti­tuts Sotomo aus dem Jahr 2016 hatte eine durch­schnitt­liche Frau in der Schweiz in ihrem bishe­rigen Leben mit sechs Personen Geschlechts­ver­kehr, der Durch­schnitts­mann mit sieben. Mit den bishe­rigen Test­ko­sten hätte er also rund 1’800 Franken gezahlt, sie immerhin 1’560 Franken. Viel Geld für die Einzel­person und zudem eine finanz­po­li­tisch sinn­lose Hürde: Ein HIV-Test kostet 60 Franken, eine HIV-Therapie rund eine Million Franken. 

Aber es gibt noch eine viel wich­ti­gere Dimen­sion. Geschlechts­krank­heiten wurden histo­risch auch immer dafür verwendet, Sexarbeiter:innen und Menschen mit abwei­chender Sexu­al­moral zu stig­ma­ti­sieren und zu unter­drücken. So wird der Körper von Sexarbeiter:innen – auch von Aktivist:innen, die sich selbst Feminist:innen schimpfen – als ein Vehikel konstru­iert, das Krank­heiten und mora­li­schen Zerfall in die klein­bür­ger­liche Kern­fa­milie bringt.

Mit dieser mora­li­sie­renden Logik werden allerlei Repres­sionen gegen Sexarbeiter:innen begründet. Kein Wunder haben etwa boli­via­ni­sche Sexarbeiter:innen 2007 die Verwei­ge­rung von obli­ga­to­ri­schen Tests auf Geschlechts­krank­heiten als Ins­trument verwendet, um bessere Arbeits­be­din­gungen zu erzwingen.

Auch die mora­li­sche Panik rund um die AIDS-Epidemie der 1980er-Jahre wurde dafür verwendet, Menschen aus der Mehr­heits­ge­sell­schaft auzu­schliessen. So war die ursprüng­liche Bezeich­nung von AIDS eigent­lich GRID („Gay-Related Immune Defi­ci­ency“), da die ersten nach­ge­wie­senen Fälle per Zufall bei homo­se­xu­ellen Männern gefunden wurden. Diese Konstruk­tion des „Aids­kör­pers“ als homo­se­xuell führte auch dazu, dass Mediziner:innen und Politiker:innen einen vermeint­lich „homo­se­xu­ellen Life­style“ und die sexu­elle Revo­lu­tion der 1970er-Jahre als Ursache für AIDS iden­ti­fi­zierten. Und was macht man gegen die Ursache einer Krank­heit? Man bekämpft sie.

Dass jetzt bald eine neue Gene­ra­tion in Zürich aufwächst, die sich kostenlos auf Geschlechts­krank­heiten testen lassen kann, macht deut­lich, was schon immer so war: Geschlechts­krank­heiten sind nicht das Problem der Anderen, sondern betreffen uns alle. 

Damit sich aber auch alle schützen können, reicht das heutige Angebot nicht. Die Gratis­tests sind ein wich­tiger Schritt vorwärts. Der Bund sollte den Ball der Stadt Zürich aufnehmen, die gesetz­liche Grund­lage hat er: Das Kran­ken­ver­si­che­rungs­ge­setz ermög­licht es, einzelne präven­tive Leistungen von der Fran­chise zu befreien. 

So kann auch gleich ein Fehler im Zürcher Projekt korri­giert werden. Denn vom Angebot sollen nicht alle profi­tieren können, sondern vorwie­gend junge Erwach­sene. Dabei zeigt die erwähnte Sotomo-Studie, dass in der Alters­ka­te­gorie 55 bis 64 fast die Hälfte der Befragten aufgrund ihres Sexu­al­ver­hal­tens ein hohes oder sehr hohes Risiko für eine Infek­tion mit einer Geschlechts­krank­heit aufweisen. Es ist der höchste Wert aller Altersgruppen.


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