In Zürich, der Stadt, die weltweit für ihre hohen Kosten und Preise bekannt ist, gibt es bald etwas gratis: Letzte Woche gab der Stadtrat bekannt, dass er ab Herbst 2022 ein Pilotprojekt für Gratistests für sexuell übertragbare Krankheiten lanciert. Zürich wäre damit die erste Stadt in der Schweiz mit einem solchen Angebot.
Dieses richtet sich vorwiegend an junge Menschen unter 25. Für sie fallen die Testkosten besonders ins Gewicht, weil sie meistens eine hohe Franchise besitzen. Zudem schicken die Testzentren die Krankenkassenabrechnung bei Minderjährigen meistens direkt an die Eltern. Und ganz ehrlich, wer will schon mit den Eltern beim Sonntagsbrunch über Chlamydien sprechen?
Die Frage, wie viel Gesundheit kosten darf, hat während der Pandemie ein völlig neues Gewicht erhalten. Irgendwann während der ersten Welle wurde das Fenster des diskursiv Möglichen so weit geöffnet, dass Menschenleben öffentlich gegen das Wirtschaftswachstum abgewogen werden durften.
Am unverhohlensten zeigte sich dieser radikale Neoliberalismus in Form des Ökonomen Reiner Eichenberger, der im Frühling 2020 eine „kontrollierte Durchseuchung“ der Bevölkerung forderte. Ein solch opportunistisches Verhältnis zu Menschenleben kannte die Schweiz bisher nur aus ihrer Asylpolitik.
Es ist bereits ein Klischee zu behaupten, die Pandemie habe ein bisher unsichtbares Problem sichtbar gemacht. Aber manchmal helfen Klischees, das Denken zu strukturieren: Die Pandemie hat gezeigt, dass Kosten für medizinische Leistungen die grösste Hürde für eine wirksame Gesundheitsprävention sind. Am 9. Oktober, also am letzten Tag, an dem der Bund die Kosten für Antigen-Schnelltests übernahm, wurden schweizweit 22’593 Antigen-Schnelltests durchgeführt; am 18. November – mitten in der sich auftürmenden vierten Welle – waren es deren noch 9’611.
Der Reflex hinter der Abschaffung der Gratistests ist typisch schweizerisch und unterkomplex. Die Gratistests kosteten den Bund wöchentlich rund 50 Millionen Franken. Warum also sollte der „Steuerzahler“ die Minderheit der hartgesottenen Impfverweigerer:innen subventionieren? Dass sich mit dem erschwerten Zugang zu Antigen-Tests plötzlich nur noch Gutverdienende ihre Impfskepsis leisten konnten, während gleichzeitig die Prävention vor Covid-19 unnötig erschwert wurde, interessierte die Bundesratsparteien erst, nachdem der Entscheid bereits in Kraft getreten war.
Dabei bewiesen sowohl die SVP als auch die SP Orientierungslosigkeit: Beide Parteien wechselten mehrfach ihre Meinung zu den Gratistests. Heute fordern sie zusammen mit den Grünen, die stets für eine Kostenübernahme des Bundes plädierten, die Wiedereinführung der Gratistests. Wie das Infektionsgeschehen aktuell zeigt: wohl zu spät.
Der Zürcher Stadtrat scheint – Achtung Klischee – diese Lektion gelernt zu haben. Mit den angekündigten Gratistests für sexuell übertragbare Krankheiten anerkennt er, dass die beste Gesundheitsprävention möglichst niederschwellig, heisst gratis, ist. Denn: Im Kampf gegen Tripper, Syphilis und Chlamydien ist ein bisschen Aufklärung und viel Testen nötig. Infektionen mit diesen Krankheiten treten immer häufiger auf, Zürich ist dabei besonders betroffen.
Weit verbreitet ist der Irrglauben, dass ein Kondom als Schutz ausreicht. Das stimmt für HIV, aber für viele anderen sexuell übertragbare Krankheiten eben nicht. Deswegen empfiehlt sich für alle, die wechselnde Sexualpartner:innen haben, das regelmässige Testen.
Gemäss einer Studie des Forschungsinstituts Sotomo aus dem Jahr 2016 hatte eine durchschnittliche Frau in der Schweiz in ihrem bisherigen Leben mit sechs Personen Geschlechtsverkehr, der Durchschnittsmann mit sieben. Mit den bisherigen Testkosten hätte er also rund 1’800 Franken gezahlt, sie immerhin 1’560 Franken. Viel Geld für die Einzelperson und zudem eine finanzpolitisch sinnlose Hürde: Ein HIV-Test kostet 60 Franken, eine HIV-Therapie rund eine Million Franken.
Aber es gibt noch eine viel wichtigere Dimension. Geschlechtskrankheiten wurden historisch auch immer dafür verwendet, Sexarbeiter:innen und Menschen mit abweichender Sexualmoral zu stigmatisieren und zu unterdrücken. So wird der Körper von Sexarbeiter:innen – auch von Aktivist:innen, die sich selbst Feminist:innen schimpfen – als ein Vehikel konstruiert, das Krankheiten und moralischen Zerfall in die kleinbürgerliche Kernfamilie bringt.
Mit dieser moralisierenden Logik werden allerlei Repressionen gegen Sexarbeiter:innen begründet. Kein Wunder haben etwa bolivianische Sexarbeiter:innen 2007 die Verweigerung von obligatorischen Tests auf Geschlechtskrankheiten als Instrument verwendet, um bessere Arbeitsbedingungen zu erzwingen.
Auch die moralische Panik rund um die AIDS-Epidemie der 1980er-Jahre wurde dafür verwendet, Menschen aus der Mehrheitsgesellschaft auzuschliessen. So war die ursprüngliche Bezeichnung von AIDS eigentlich GRID („Gay-Related Immune Deficiency“), da die ersten nachgewiesenen Fälle per Zufall bei homosexuellen Männern gefunden wurden. Diese Konstruktion des „Aidskörpers“ als homosexuell führte auch dazu, dass Mediziner:innen und Politiker:innen einen vermeintlich „homosexuellen Lifestyle“ und die sexuelle Revolution der 1970er-Jahre als Ursache für AIDS identifizierten. Und was macht man gegen die Ursache einer Krankheit? Man bekämpft sie.
Dass jetzt bald eine neue Generation in Zürich aufwächst, die sich kostenlos auf Geschlechtskrankheiten testen lassen kann, macht deutlich, was schon immer so war: Geschlechtskrankheiten sind nicht das Problem der Anderen, sondern betreffen uns alle.
Damit sich aber auch alle schützen können, reicht das heutige Angebot nicht. Die Gratistests sind ein wichtiger Schritt vorwärts. Der Bund sollte den Ball der Stadt Zürich aufnehmen, die gesetzliche Grundlage hat er: Das Krankenversicherungsgesetz ermöglicht es, einzelne präventive Leistungen von der Franchise zu befreien.
So kann auch gleich ein Fehler im Zürcher Projekt korrigiert werden. Denn vom Angebot sollen nicht alle profitieren können, sondern vorwiegend junge Erwachsene. Dabei zeigt die erwähnte Sotomo-Studie, dass in der Alterskategorie 55 bis 64 fast die Hälfte der Befragten aufgrund ihres Sexualverhaltens ein hohes oder sehr hohes Risiko für eine Infektion mit einer Geschlechtskrankheit aufweisen. Es ist der höchste Wert aller Altersgruppen.
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