Hunger­streiks im Schweizer Asyl­wesen: Niemand zählt mit

Immer wieder treten in diesem Land Asyl­su­chende in den Hunger­streik. Es sind verzwei­felte Versuche, sich Gehör zu verschaffen. Aber die Schweiz ist taub dafür. 

Im Auftrag der Scot­tish National Party hat das briti­sche Innen­mi­ni­ste­rium vergan­genen Sommer eine Stati­stik zu Hunger­streiks in den Asyl­un­ter­künften des Verei­nigten König­reichs erhoben. Das Ergebnis: Zwischen 2015 und 2019 gab es mehr als 3’000 Fälle. Eine Zahl, die Aktivist*innen als schockie­rend, aber wohl immer noch zu tief beurteilen.

Das Lamm wollte wissen: Wie sieht es in der Schweiz aus?

2344 beson­dere Vorkommnisse

Wer sich in der Schweiz für Zahlen inter­es­siert, schreibt ans Bundesamt für Stati­stik (BFS). 814 Mitarbeiter*innen erfassen dort alles, was sich irgendwie in Zahlen ausdrücken lässt. Naja, fast alles: Zum Thema Hunger­streik erhebe das BFS keine Stati­stik, heisst es auf Anfrage.

Auch das Staats­se­kre­ta­riat für Migra­tion (SEM), zuständig für die Bereit­stel­lung der rund 5’000 Unter­brin­gungs­plätze in den Bundes­asyl­zen­tren, zählt nicht mit. Es würden dazu keine Zahlen erhoben, schreibt das SEM, schiebt aber nach: „Im letzten Jahr gab es verein­zelte Fälle: Schweiz­weit liegt die Zahl im tiefen einstel­ligen Bereich.”

Das klingt erstmal nach wenig. Auf Nach­frage wird aber klar, dass die Zahlen eher eine grobe Schät­zung als ein genauer Wert sind. In den Unter­ka­te­go­rien seien Hunger­streiks schlicht nicht erkennbar. „Sie könnten in der Stati­stik unter ‚Betreuung‘ oder ‚Gesund­heit‘ aufge­führt werden, es kommt auf die Form an.“ Hunger­streiks könnten aber auch in der Rubrik „beson­dere Vorkomm­nisse“ auftau­chen. Dort werden etwa alle Dieb­stähle und das uner­laubte Verlassen einer Unter­kunft erhoben, aber auch jeder Einsatz von Zwangs­mit­teln wie Pfef­fer­spray bzw.  Pfef­fergel gegen Inter­nierte. Und auch Aufstände und Proteste gegen die repres­siven Lager­be­din­gungen in Bundes­asyl­zen­tren, wie etwa letztes Jahr auf dem Dutt­wei­ler­areal in Zürich, werden dort aufge­li­stet, heisst es vom SEM.

Beson­dere Vorkomm­nisse gibt es über­ra­schend oft: Wie das Lamm heraus­ge­funden hat, wurde 2019 durch­schnitt­lich sechs Mal pro Tag in den Bundes­asyl­zen­tren ein solches Vorkommnis fest­ge­stellt. Im ganzen Jahr waren es somit deren 2‘344.

Spitz­fin­dige Kommu­ni­ka­tion bei den Kantonen

Bei den kanto­nalen Asyl­un­ter­künften gestaltet sich die Suche nach belast­baren Zahlen gar noch schwie­riger. Das Lamm hat bei vier Deutsch­schweizer Kantonen nach­ge­fragt: Aargau, Basel-Stadt, Luzern und Zürich. Der Kanton Zürich hat auf die Fragen von das Lamm nicht reagiert. In den Einrich­tungen des Kantons Luzern soll es in den letzten Jahren zu keinen Hunger­streiks gekommen sein.

Und auch die Kantone Aargau und Basel-Stadt lassen verlauten, dass es bei ihnen in den letzten Jahr­zehnten keinen einzigen Fall gegeben hat.

Das über­rascht. 2013 traten in einer Liegen­schaft im aargaui­schen Baden unter­ge­brachte Asyl­su­chende in den Hunger­streik. Und die Aufstände im Ausschaf­fungs­ge­fängnis Bäss­lergut in Basel-Stadt sind gerade mal zwei Monate her.

Wie kann es sein, dass diese Fälle bei den zustän­digen Stellen beider Kantone nicht erwähnt werden? Beide machen auf Anfrage unter­schied­liche Zustän­dig­keiten geltend. Bei der Liegen­schaft in Baden handle es sich um eine kommu­nale Asyl­un­ter­kunft. Zudem sei der Kanto­nale Sozi­al­dienst nur im Auftrag der Gemeinde für die Betreuung zuständig gewesen, schreibt das Depar­te­ment für Gesund­heit und Soziales. Ähnlich klingt es aus dem Kanton Basel-Stadt: Das Gefängnis Bäss­lergut sei zwar eine kanto­nale Struktur, dort würden jedoch auch Personen aus anderen Kantonen in Ausschaf­fungs­haft genommen. Deswegen zähle das Ausschaf­fungs­ge­fängnis Bäss­lergut nicht zur kanto­nalen Asyl­struktur des Kantons Basel-Stadt, heisst es vom Depar­te­ment für Wirt­schaft, Soziales und Umwelt.

Fakt ist: Neben dem erwähnten Aufstand im Bäss­lergut gelangte im letzten Jahr auch der zwei­tä­gige Hunger­streik in der kanto­nalen Asyl­un­ter­kunft im Tessiner Dorf Camo­rino an die Öffent­lich­keit. Das sind zwei grosse Hunger­streiks in einem Jahr. Wer mit Aktivist*innen spricht, hört zudem immer wieder von Fällen, die nicht an die Öffent­lich­keit gelangen. Sie finden in Spitä­lern, Ausschaf­fungs­ge­fäng­nissen oder soge­nannten „Rück­kehr­zen­tren” statt. Und sie sind immer ein verzwei­felter Akt derje­nigen, die ausweglos in den Lager­struk­turen des Schweizer Asyl­we­sens feststecken.

Es gibt noch viel zu zählen

Die fehlenden Zahlen zu Hunger­streiks reihen sich in eine lange Liste von klaf­fenden Lücken in den stati­sti­schen Erhe­bungen zum Asyl­wesen ein. Das ist kein Zufall. Stati­stik ist immer auch Politik, und wer in der Stati­stik nicht auftaucht, bleibt unsichtbar. Die stati­sti­sche Erhe­bung ist ein mäch­tiges Instru­ment. Stati­stiken können Sach­ver­halte mit Objek­ti­vität erhellen, bei entspre­chender Zurü­stung aber auch als Grund­lage für poli­ti­sche Hetze dienen. Zum Beispiel, wenn Ausgaben bei der Sozi­al­hilfe mit der Natio­na­lität von Empfänger*innen erklärt werden. Wenn die Stati­stik hingegen etwas ganz igno­riert, wie eben die Anzahl Hunger­streiks im Asyl­wesen, verhin­dert das, dass ein Thema über­haupt auf der poli­ti­schen Bild­fläche erscheint.

Das Beispiel Gross­bri­tan­nien zeigt: Um in dieser Frage stati­stisch Fakten zu schaffen, braucht es poli­ti­schen Willen. Briti­sche Politiker*innen waren nach der Publi­ka­tion der Zahlen schockiert. Würden die Zahlen in der Schweiz denselben Effekt haben? Eine Inter­pel­la­tion im Bundes­par­la­ment könnte Antworten liefern.


Jour­na­lismus kostet

Die Produk­tion dieses Arti­kels nahm 14 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 988 einnehmen.

Als Leser*in von das Lamm konsu­mierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demo­kratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produk­tion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rech­nung sieht so aus:

Soli­da­ri­sches Abo

Nur durch Abos erhalten wir finan­zi­elle Sicher­heit. Mit deinem Soli-Abo ab 60 CHF im Jahr oder 5 CHF im Monat unter­stützt du uns nach­haltig und machst Jour­na­lismus demo­kra­tisch zugäng­lich. Wer kann, darf auch gerne einen höheren Beitrag zahlen.

Ihr unter­stützt mit eurem Abo das, was ihr ohnehin von uns erhaltet: sorg­fältig recher­chierte Infor­ma­tionen, kritisch aufbe­reitet. So haltet ihr unser Magazin am Leben und stellt sicher, dass alle Menschen – unab­hängig von ihren finan­zi­ellen Ressourcen – Zugang zu fundiertem Jour­na­lismus abseits von schnellen News und Click­bait erhalten.

In der kriselnden Medi­en­welt ist es ohnehin fast unmög­lich, schwarze Zahlen zu schreiben. Da das Lamm unkom­mer­ziell ausge­richtet ist, keine Werbung schaltet und für alle frei zugäng­lich bleiben will, sind wir um so mehr auf eure soli­da­ri­schen Abos ange­wiesen. Unser Lohn ist unmit­telbar an eure Abos und Spenden geknüpft. Je weniger Abos, desto weniger Lohn haben wir – und somit weniger Ressourcen für das, was wir tun: Kriti­schen Jour­na­lismus für alle.

Ähnliche Artikel

Flucht als Katastrophe

In Europa wird Migration oft als Katastrophe dargestellt, die das Leben der Europäer*innen betrifft, während das tatsächliche Leid der Geflüchteten nebensächlich bleibt. Rohullah Suroosh, geflüchteter Journalist aus Kabul, berichtet von den wahren Katastrophen der Flucht.

Europas Krise der Grausamkeit

Zwischen den Verantwortlichen der Migrationspolitik und den Menschen, die sie unmittelbar trifft, liegt eine tiefe Kluft. Johanna Lier schreibt über Entfremdung, unsichtbare Gewalt und fragt, welche sogenannte Katastrophe sich in Europa tatsächlich abspielt.