„Ich habe mich selbst lange nicht als poli­ti­sches Subjekt wahrgenommen“

Anna Rosen­wasser kandi­diert auf dem zweiten Listen­platz der Juso Zürich für den Natio­nalrat. Dabei geht es der 29-Jährigen gar nicht darum, gewählt zu werden. Die Jour­na­li­stin und Geschäfts­füh­rerin der Lesben­or­ga­ni­saton Schweiz (LOS) will mit ihrer extro­ver­tierten Art Junge dazu moti­vieren, über­haupt an die Urne zu gehen – und zeigen, dass das Private eben doch poli­tisch ist. Ein Porträt zwischen Mille­nial-Wahl­kampf und Kapitalismuskritik. 
Politikerin? Nein, aber ein durch und durch politischer Mensch! Anna Rosenwasser an einem „Kiss-in“, organisiert vom LGBT-Jugendtreff „Andersh“. (c) David Rosenthal

„Ich habe immer schon so geheissen, das ist kein Künstlername!“

Anna Rosen­wasser lacht laut und schal­lend, Zurück­hal­tung liegt der 29-Jährigen nicht. Rosen­wasser weiss sich zu insze­nieren, sie weiss, was sie wie sagen muss, wann es besser ist zu schweigen, wo rheto­ri­sche Pausen ange­bracht sind. Die über 10 Jahre im Jour­na­lismus merkt man ihr auch bei der Wort­wahl an, so präzise wie nötig, so verständ­lich wie möglich. Manchmal klingt das alles fast nach Werbe­bro­schüre, druck­reifes Zitat reiht sich an druck­reifes Zitat („Wir können nicht einfach anrufen, so, wie es die SP macht. Junge Menschen hassen das Tele­fo­nieren. Deswegen schreiben wir Whats­Apps-Nach­richten“). Manchmal, etwa wenn sie von Katzen oder ihrem Privat­leben spricht („Ich habe wirk­lich gerne Katzen, ich trinke wirk­lich gerne Tee und ich tanze wirk­lich gerne zu schlechtem Pop“), schlägt ihre Stimme ins Kind­liche um, ehrliche Begei­ste­rung äussert sie in beiden Bereichen.

An den Natio­nal­rats­wahlen vom 20. Oktober kandi­diert die gebür­tige Schaff­haus­erin auf dem Listen­platz 2 der Juso Zürich. Es sei ein gutes Jahr, um zu kandi­dieren: „Ich finde es fanta­stisch, dass die Parla­ments­wahlen in diesem Jahr statt­finden, in dem der Frau­en­streik eine halbe Million Menschen auf die Strasse gelockt und die Klima­be­we­gung viele Junge poli­ti­siert hat.“ Wichtig sei es nun für die frisch poli­ti­sierten Jungen zu merken, dass Indi­vi­du­al­lö­sungen nicht ausrei­chen. „Es braucht einen System­wandel.“ Das klingt radikal, könnte jedoch laut Rosen­wasser auf frucht­baren Boden treffen. „In diesem Jahr wurde wieder deut­lich, dass es konser­va­tive Poli­tiker gibt, die denken, dass der Klima­wandel nicht existiert. Der Frau­en­streik hat dem ganzen Land spürbar gemacht, wie sexi­stisch die Schweiz heute noch ist. Das ist ein verdammt gutes Timing für die Parlamentswahlen.“

Keine Spur von Politblues

Im Gespräch macht Anna Rosen­wasser deut­lich, worum es ihr bei ihrer Kandi­datur geht: nicht darum, gewählt zu werden – als Kandi­die­rende der Juso wäre das ohnehin ein Novum –, sondern darum, neue Wähler*innen zu mobi­li­sieren: „Mein Fokus liegt auf Erstwähler*innen und Menschen, bei denen die Wahl­un­ter­lagen bisher im Altpa­pier gelandet sind. Leute, die femi­ni­stisch sind, Menschen, die queere Rechte und Themen im Parla­ment sehen wollen.“ Rosen­wasser, jahre­lang aktives Mitglied der Milch­ju­gend sowie Mitbe­grün­derin des queeren Schaff­hauser Treffs „Andersh“ kämpft in erster Linie gegen die Lethargie und Poli­tik­ver­dros­sen­heit vieler Jungen. Wer der 29-Jährigen mit ihren kurzen farbigen Haaren und rot geschminkten Lippen zuhört, ihrer aufge­stellten und moti­vie­renden Art, spürt aller­dings wenig vom viel­be­schwo­renen Politblues.

Worauf führt sie also diese Lethargie bei jungen Menschen zurück? „Ich würde die Schuld auch dem Kapi­ta­lismus geben“, sagt Rosen­wasser. „Er führt dazu, dass wir für vieles, was schief­läuft, unser indi­vi­du­elles Versagen verant­wort­lich machen.“ Selbst­op­ti­mie­rung und Konsum würden auf Dauer apoli­tisch machen, ist sie über­zeugt. „Das sehe ich auch ganz oft bei Queers: Viele denken, dass die Diskri­mi­nie­rungen und Ausgren­zungen, die sie erleben, im Endef­fekt ihr persön­li­ches Versagen seien und mit etwas mehr Selbst­si­cher­heit lösbar wären.“ Anna Rosen­wasser will den Fokus auf die grös­seren Zusam­men­hänge lenken; struk­tu­relle Diskri­mi­nie­rung, fehlende Bildung und Aufklä­rung, eine oft untä­tige Politik. Junge Menschen dürften nicht dem Eindruck verfallen, alles immer selbst ausfechten zu müssen und an allem selbst schuld zu sein. Wer alle Fehler bei sich sucht und das grös­sere Bild aus den Augen verliert, der werde nicht nur apoli­tisch und lethar­gisch, sondern auch frustriert.

„Politik klingt oft nach Im-Anzug-im-Bundeshaus-sitzen“

Anna Rosen­wasser spricht aus Erfah­rung: „Ich habe mich selbst lange nicht als poli­ti­sches Subjekt wahr­ge­nommen.“ Der grös­sere Kontext ihrer Diskri­mi­nie­rung habe sich ihr vergleichs­weise spät erschlossen: „Ich habe mir unter Politik oft das vorge­stellt, was ich jetzt mache: über Dinge zu reden wie Konkor­danz oder Stimm­be­tei­li­gung. Dabei ist Politik auch sehr viel anderes. Vieles, was uns passiert im Leben, fühlt sich sehr indi­vi­duell an, ist aber hoch­po­li­tisch und Teil von etwas Grös­serem, das eben von alten Männern im Bundes­haus bestimmt wird.“

Will aufzeigen, dass das Private oftmals eben doch poli­tisch ist: Juso-Zürich-Kandi­datin Anna Rosen­wasser. © NW

Es sind diese alten Männer im Anzug, die gemäss Rosen­wasser Ende letzte Session einen „massiv lesben­feind­li­chen“ Entscheid gefällt haben, indem sie einen Antrag über Samen­spende für lesbi­sche Paare aus dem Geset­zes­paket der Ehe für alle ausschlossen. So sehr dies Rosen­wasser auch frustriert: Diese Wut ist poli­tisch verwertbar: „Das nächste Mal, wenn das Parla­ment über die Ehe für alle disku­tieren wird, wird es das Parla­ment sein, das wir gewählt haben. Diese Message möchte ich auch in meinem Wahl­kampf vermitteln.“

Queer, femi­ni­stisch und gleich­be­rech­tigt – das ist Rosen­was­sers poli­ti­sches Programm in drei Worten. In Themen hiesse das dann: Ehe für alle, Diskri­mi­nie­rungs­schutz, Repräsentation.

Das ist mono­the­ma­tisch – und wenig syste­misch: Keines dieser Themen handelt von Umver­tei­lung, Steu­er­ge­rech­tig­keit oder inter­na­tio­nalen Bezie­hungen. Und obwohl Rosen­wasser in gekonnter Juso-Manier oft und viel den Kapi­ta­lismus als Übel kriti­siert, scheint sie ihm thema­tisch wenig entge­gen­setzen zu können.

„Der Grund, weswegen ich keine ökono­mi­sche Revo­lu­tion erwähne, ist, dass ökono­mi­sche Revo­lu­tionen nicht mein Fach­ge­biet sind.“ So orien­tiere sie sich bei ökono­mi­schen Themen lieber an der Partei­linie. Sie sei deswegen aber keine Ein-Thema-Poli­ti­kerin: „Ich habe auch Haltungen zu Themen, die nicht LGBTQ sind.“ Etwa bei der Migra­tions-und Asyl­po­litik, wo sie sich unter anderem aktiv dafür einsetze, dass sexu­elle Orien­tie­rung und Geschlechts­iden­tität als Flucht­grund aner­kannt werden. „Ich verstehe aber, dass ich unin­ter­es­sant bin für Menschen, die andere Prio­ri­täten haben. Aber das macht mich nicht unwählbar, sondern zu einer Fach­person“, ist Rosen­wasser überzeugt.

„Es kann andere Gründe haben, sich auf 18 zu freuen, als das Saufen“

Der Juso ist Rosen­wasser, die mit ihren 29 Jahren auch in die SP gepasst hätte, vor nicht einmal einem Jahr beigetreten. Nun steht sie auf dem zweiten Listen­platz. Hätten das andere nicht mehr verdient? „Ich stehe weit oben, weil wir uns davon eine starke Mobi­li­sie­rung erhoffen, mit meinen Akti­vi­täten und meiner Person kann ich sehr viele Menschen errei­chen.“ Sie will aufzeigen, dass es andere Gründe geben kann, sich auf 18 zu freuen, als zu saufen und vermit­teln, dass Femi­nismus mehr ist als ein cooler Spruch unter einem Instagram-Foto.

„Aber wenn man mir sagt, ich hätte es nicht verdient, dann streite ich das nicht ab.“ Anna Rosen­wasser war noch nie Unter­schriften sammeln oder Plakate kleben, statt­dessen nimmt sie an Podien teil und gibt interne Workshops.

„Es ist nicht mein Ziel, die Meinung von Rechten zu ändern“

Aber auch wenn Rosen­wasser im Wahkampf viel auf Social Media aktiv ist und inner­halb ihrer Bubble zu den Bekehrten predigt: Sie scheut hand­fe­stere poli­ti­sche Graben­kämpfe nicht. So disku­tierte sie etwa für einen Video­bei­trag mit dem erzkon­ser­va­tiven SVPler und Vereins­prä­si­denten des Marschs fürs Läbe Daniel Regli oder stritt sich für einen Beitrag mit dem Präsi­denten der JSVP Benjamin Fischer. Das Schwie­rige an solchen Diskus­sionen sei jeweils, dass zwei Posi­tionen medial als gleich­wer­tige Optionen ausge­legt werden – und oft auch als gleich extrem. „Ich sagte, dass Homo­se­xu­elle ein Recht auf Leben haben und Regli sagte, dass ‚solches Fehl­ver­halten korri­giert werden sollte‘. Das sind nicht einfach zwei legi­time Pole einer Debatte.“ Anna Rosen­wasser schüt­telt fragend den Kopf.

„Soll ich mich solchen Unter­hal­tungen verwei­gern und sie boykot­tieren? Momentan entscheide ich mich aber dafür, gehört zu werden, was auch dazu führen kann, dass die Norma­li­sie­rung von faschi­sto­iden Haltungen nicht gebremst wird.“ Und schliess­lich liege ihr Fokus auch nicht darauf, rechte Menschen zu über­zeugen: „Ich kann inner­halb einer einstün­digen Diskus­sion nicht errei­chen, dass mich ein einge­ses­sener Rechter ernst nimmt – aber ich kann errei­chen, dass mich die Zuhörer*innen ernst nehmen.“

Das zieht sich durch das ganze poli­ti­sche Wirken von Rosen­wasser: mobi­li­sieren, agitieren, an die Urne bringen. Das klingt viel­ver­spre­chend. Doch was kann sie den eigent­lich bezwecken, die Juso? „Die Juso hat keinen Sitz im Parla­ment. Aber sie kann Menschen heraus­bringen, die dann ins Parla­ment gehen. Menschen wie Funi­ciello, Lempert, Marti, Molina, Wermuth.“

Wird sie die Nächste sein? Anna Rosen­wasser winkt ab: Sie arbeite während des Wahl­kampfs im glei­chen Pensum für die LOS weiter. „Ich bin von Herzen immer noch viel mehr Jour­na­li­stin als Poli­ti­kerin – aber poli­ti­sche Jour­na­li­stin.“ Am Tag des Gesprächs erscheint ein Text von Rosen­wasser auf Vice Alps: über die Samen­spende. Bei Anna Rosen­wasser sind die Grenzen flies­send. Sie sei eben ein durch und durch poli­ti­scher Mensch, nicht bloss eine Politikerin.


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