Im Traum der Revolte

Der chile­nisch-fran­zö­si­sche Doku­men­tar­filmer Patricio Guzmán drehte mit „Mi país imagi­nario“ einen Film über die chile­ni­sche Revolte und sein Heimat­land im Umbruch. Das Ergebnis ist die Wunsch­vor­stel­lung von einem Land, das in Wirk­lich­keit nie existiert hat. 
„Mit der Revolte bin ich aufgeblüht“, sagt eine Demonstrantin noch voller Hoffnung auf Wandel. (Foto: Patricio Guzmán/Trigon-Film)

Aufmär­sche von Arbeiter*innen auf schwarz-weissem Film, der sozia­li­sti­sche Salvador Allende läuft an jubelnden Massen vorbei. Dann ein Zeit­sprung, die Bilder sind nun in Farbe. Die Kamera blickt zuerst auf nasse Steine auf dem Asphalt, Menschen brechen Zement­brocken zu kleinen hand­grossen Steinen und tragen sie bis an die Front, an der Vermummte die Steine auf die gegen­über stehende Polizei werfen. 

Eine Stimme aus dem Off beginnt zu erzählen. Sie beschreibt das schein­bare Ende eines langen Weges, den das chile­ni­sche „Volk“ einge­schlagen habe und der über Jahr­zehnte von einer brutalen Mili­tär­dik­tatur unter­bro­chen wurde. Heute beginne mit der chile­ni­schen Revolte und der neuen Verfas­sung eine neue Epoche.

Patricio Guzmán, der Autor der Doku­men­tar­serie „La Batalla de Chile“ über die sozia­li­sti­sche Regie­rung von Salvador Allende und die darauf folgende Mili­tär­dik­tatur, hat seinem Lebens­werk ein weiteres revo­lu­ti­ons­ro­man­ti­sches Kapitel hinzu­ge­fügt. Das derzeit auch in Schweizer Kinos gezeigt wird.

Der Doku­men­tar­film „Mi país imagi­nario“, zu Deutsch etwa „Mein imagi­näres Land“, begleitet Frauen seit dem Beginn des soge­nannten „Estallido Social“ im Oktober 2019 bis Dezember 2021, als der linke Präsi­dent Gabriel Boric in Chile die Wahl gewonnen hat. Gleich­zeitig schrieb ein Verfas­sungs­kon­vent die vermut­lich progres­sivste Verfas­sung, die sich ein Land je gegeben hätte.

Guzmán selbst hielt sich im Oktober 2019 in seiner neuen Heimat Frank­reich auf und greift darum für die ersten Szenen auf Film­ma­te­rial anderer zurück. Im Gespräch mit dem chile­ni­schen Kultur­ma­gazin Cultur­i­z­arte beteuert er seinen ersten Gedanken, als die Revolte ausbrach: „Das muss gefilmt werden“. Doch die bald einset­zende Pandemie habe eine Reise lange verunmöglicht.

Selbst­re­fle­xionen des Autors wech­seln sich im Film mit Inter­views von Frauen ab, die gemeinsam das Bild eines Chiles zeichnen, das neu erwacht. „Aus einer Lethargie“, wie eine Inter­view­part­nerin findet. Im Gegen­satz zu „La Batalla de Chile“ aus den 70er-Jahren sind es im neuen Film Frauen und nicht arbei­tende oder studen­ti­sche Männer, die den sozialen Wandel vorantreiben.

Guzmán verknüpft die Inter­views mit Aufnahmen von Prote­sten auf dem zentralen Versamm­lungs­platz der Haupt­stadt Sant­iago. Der Film lässt in seiner wider­spruchs­losen Darstel­lung keinen Zweifel: Die Bewe­gung hat das Erbe der neoli­be­ralen Mili­tär­dik­tatur von 1973 bis 1990 endgültig über­wunden. Der chile­ni­sche Neoli­be­ra­lismus befindet sich im Totenbett.

Heute würde vermut­lich auch Guzmán keine so eupho­ri­sche Darstel­lung mehr wagen. Denn am 4. September 2022 stimmten 62 Prozent der Bevöl­ke­rung gegen den neuen Verfas­sungs­ent­wurf – nur wenige Tage nach der ersten Auffüh­rung des Doku­men­tar­films von Patricio Guzmán in Chile. Der Film, der den Aufbruch eines neuen Chile doku­men­tieren sollte, wurde zum Zeit­do­ku­ment einer Gesell­schaft im Umbruch, die bis auf Weiteres scheiterte.

Warum?

Das Abstim­mungs­re­sultat vom 4. September war das „Ende einer Illu­sion“, schrieb der Sozio­loge Enrique Gomáriz Moraga in einem Kommentar. Die chile­ni­sche Linke glaubte, die Mehr­heit der Bevöl­ke­rung stehe hinter ihrem Gesell­schafts­pro­jekt, wobei sie übersah, wie schnell sich die Unter­stüt­zung verflüchtigte.

Guzmán half mit, diese Illu­sion aufrecht­zu­er­halten. Er schuf ein zu eupho­ri­sches Bild einer Bewe­gung ohne Gegen­sätze, Erschöp­fung oder ernst­hafte Widersacher*innen. Für das Bild von einer angeb­lich partei­losen Bewe­gung igno­rierte er aktiv die Partei­zu­ge­hö­rig­keit mancher Inter­viewter und konzen­trierte sich gänz­lich auf die Proteste in der Haupt­stadt Sant­iago de Chile.

Doch während er sich nur im Zentrum aufhielt, orga­ni­sierten sich im ganzen Land die Demonstrant*innen in basis­de­mo­kra­ti­schen Räten. Auch wenn dort nur ein sehr geringer Bevöl­ke­rungs­teil mitwirkte und die Räte nie wirk­lich Macht besassen, konnten sich die Menschen in ihnen mitein­ander vernetzen und poli­ti­sche Diskus­sionen führen. Dadurch waren die Räte beson­ders wichtig, um die Proteste aufrecht zu erhalten. Bis sie an vielen Orten aufgrund von Erschöp­fung und inneren Strei­te­reien aufge­löst wurden.

Guzmán hat diesen Erschöp­fungs­mo­ment nicht doku­men­tiert. Für ihn befand sich Chile im poli­ti­schen Wandel, der abge­sehen von der brutalen Repres­sion durch Polizei und Militär in einem wider­stands­losen Raum vonstattenging.

Und so fehlt in seinem Film der eigent­liche poli­ti­sche Feind fast gänz­lich: die chile­ni­schen Wirt­schafts­eliten, die im Jahr 1973 den Mili­tär­putsch unter­stützten. Wenn über­haupt, könnte man in Droh­nen­flügen über das Sant­ia­goer Banken- und Unter­neh­mens­viertel einen Versuch von Guzmán erkennen, die Eliten darzustellen.

Der Doku­men­tar­film verwan­delt sich dadurch in eine Bestands­auf­nahme im Leeren. Denn während Guzmán die linken Mitglieder des Konvents inter­viewt, fand auf den Strassen und in den sozialen Medien bereits die Gegen­kam­pagne statt, die es schaffte, den Konvent und die Arbeit der Konvents­ab­ge­ord­neten zu verun­glimpfen. Die wirt­schaft­liche und konser­va­tive Elite war alles andere als geschlagen, doch das mochten die wenig­sten Linken zu jener Zeit beachten.

Während in Guzmáns Film noch glor­reiche Stras­sen­schlachten gezeigt werden, verwen­dete die poli­ti­sche Rechte ähnliche Bilder, um die Menschen von einem Nein zur neuen Verfas­sung zu über­zeugen. Stras­sen­bar­ri­kaden und Pfla­ster­steine wurden zu Symbolen des Chaos und der Angst, linke „Demagog*innen“ würden den hart erkämpften und geringen Wohl­stand der „einfa­chen Menschen“ gefährden.

Die Analyse von Karl Marx über die Revo­lu­tion von 1848 und den Putsch von Luis Bona­parte im Januar 1852 lassen grüssen: Die Revolte brachte Hoff­nung, aber auch fehlende Sicher­heit und Zukunfts­per­spek­tiven. Je länger sie dauerte, desto lauter wurde der Ruf nach der altbe­kannten Ordnung.

Guzmán ist mit seinem Doku­men­tar­film in jene Falle getappt, die der ganzen Bewe­gung zum Verhängnis wurde: Sobald sie die Strasse verliess und eine Mehr­heit im verfas­sungs­ge­benden Konvent inne hatte, fühlte sie sich sieges­ge­wiss. Sie konzen­trierte ihre wenigen Ressourcen auf die poli­ti­sche Arbeit im Konvent und über­liess die öffent­liche Debatte erneut den rechten Medien: Diese berich­teten über Chaos im Konvent, Mord und Dieb­stahl auf der Strasse.

Guzmán glaubte bis kurz vor der Abstim­mung vom 4. September an einen Sieg der neuen Verfas­sung. Im Inter­view mit Cultur­i­z­arte beschwich­tigte er die Gefahr eines Sieges der Gegner*innen und sagte zur Gegen­kam­pagne: „Ich glaube nicht, dass man sich in dieser absurden und repe­ti­tiven Konflikt­i­vität aufhalten sollte.“

Der messia­ni­sche Diskurs von Guzmán ist deswegen proble­ma­tisch, weil er Mehr­heiten schafft, wo keine sind. Wenn Guzmán in seinen Filmen vom „Volk“ spricht, das einen sozialen Wandel will, so ist es selten eine Mehr­heit: Denn weder die sozia­li­sti­sche Regie­rung von Salvador Allende bekam eine abso­lute Mehr­heit der Stimmen noch die neue Verfas­sung. Was bleibt, ist die Idee, im Namen eines zum Teil ahnungs­losen „Volkes“ zu sprechen.

Das „Volk“ befindet sich derweil meilen­weit entfernt. Im Falle von Guzmán sogar jenseits des Atlan­tiks. Denn seitdem er wegen der Mili­tär­dik­tatur nach Frank­reich fliehen musste, ist er nur für einzelne Reisen und Repor­tagen nach Chile zurück­ge­kehrt. Wie Guzmán kamen viele exilierte Aktivist*innen nach der Mili­tär­dik­tatur nie in das neoli­be­rale Chile zurück. Die Revolte war für sie ein Aufleben ihres früheren poli­ti­schen Kampfes mit dem Wunsch nach einem radi­kalen Wandel.

Doch der poli­ti­sche und soziale Wandel findet meist langsam statt. Zu langsam für viele, die für ihn kämpften und zum Teil sogar dafür ermordet wurden. Guzmán wollte den Moment des Wandels finden und hat ihn in seiner Euphorie über­schätzt. Im August kündigte er noch zwei weitere Filme über die gleiche Thematik an. Was nach der Abstim­mung daraus wird, ist offen.

Guzmáns Film bleibt eine Wunsch­vor­stel­lung, eine Moment­auf­nahme und ein Zeit­do­ku­ment über eine kurze Phase der chile­ni­schen Geschichte, in der die Linke glaubte, sie hätte gewonnen. Wer diese Emotionen miter­leben und sich ein weiteres Mal in jene Zeit zurück­ver­setzen will, kann Gefallen am Film finden.


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