Aufmärsche von Arbeiter*innen auf schwarz-weissem Film, der sozialistische Salvador Allende läuft an jubelnden Massen vorbei. Dann ein Zeitsprung, die Bilder sind nun in Farbe. Die Kamera blickt zuerst auf nasse Steine auf dem Asphalt, Menschen brechen Zementbrocken zu kleinen handgrossen Steinen und tragen sie bis an die Front, an der Vermummte die Steine auf die gegenüber stehende Polizei werfen.
Eine Stimme aus dem Off beginnt zu erzählen. Sie beschreibt das scheinbare Ende eines langen Weges, den das chilenische „Volk“ eingeschlagen habe und der über Jahrzehnte von einer brutalen Militärdiktatur unterbrochen wurde. Heute beginne mit der chilenischen Revolte und der neuen Verfassung eine neue Epoche.
Patricio Guzmán, der Autor der Dokumentarserie „La Batalla de Chile“ über die sozialistische Regierung von Salvador Allende und die darauf folgende Militärdiktatur, hat seinem Lebenswerk ein weiteres revolutionsromantisches Kapitel hinzugefügt. Das derzeit auch in Schweizer Kinos gezeigt wird.
Der Dokumentarfilm „Mi país imaginario“, zu Deutsch etwa „Mein imaginäres Land“, begleitet Frauen seit dem Beginn des sogenannten „Estallido Social“ im Oktober 2019 bis Dezember 2021, als der linke Präsident Gabriel Boric in Chile die Wahl gewonnen hat. Gleichzeitig schrieb ein Verfassungskonvent die vermutlich progressivste Verfassung, die sich ein Land je gegeben hätte.
Guzmán selbst hielt sich im Oktober 2019 in seiner neuen Heimat Frankreich auf und greift darum für die ersten Szenen auf Filmmaterial anderer zurück. Im Gespräch mit dem chilenischen Kulturmagazin Culturizarte beteuert er seinen ersten Gedanken, als die Revolte ausbrach: „Das muss gefilmt werden“. Doch die bald einsetzende Pandemie habe eine Reise lange verunmöglicht.
Selbstreflexionen des Autors wechseln sich im Film mit Interviews von Frauen ab, die gemeinsam das Bild eines Chiles zeichnen, das neu erwacht. „Aus einer Lethargie“, wie eine Interviewpartnerin findet. Im Gegensatz zu „La Batalla de Chile“ aus den 70er-Jahren sind es im neuen Film Frauen und nicht arbeitende oder studentische Männer, die den sozialen Wandel vorantreiben.
Guzmán verknüpft die Interviews mit Aufnahmen von Protesten auf dem zentralen Versammlungsplatz der Hauptstadt Santiago. Der Film lässt in seiner widerspruchslosen Darstellung keinen Zweifel: Die Bewegung hat das Erbe der neoliberalen Militärdiktatur von 1973 bis 1990 endgültig überwunden. Der chilenische Neoliberalismus befindet sich im Totenbett.
Heute würde vermutlich auch Guzmán keine so euphorische Darstellung mehr wagen. Denn am 4. September 2022 stimmten 62 Prozent der Bevölkerung gegen den neuen Verfassungsentwurf – nur wenige Tage nach der ersten Aufführung des Dokumentarfilms von Patricio Guzmán in Chile. Der Film, der den Aufbruch eines neuen Chile dokumentieren sollte, wurde zum Zeitdokument einer Gesellschaft im Umbruch, die bis auf Weiteres scheiterte.
Warum?
Das Abstimmungsresultat vom 4. September war das „Ende einer Illusion“, schrieb der Soziologe Enrique Gomáriz Moraga in einem Kommentar. Die chilenische Linke glaubte, die Mehrheit der Bevölkerung stehe hinter ihrem Gesellschaftsprojekt, wobei sie übersah, wie schnell sich die Unterstützung verflüchtigte.
Guzmán half mit, diese Illusion aufrechtzuerhalten. Er schuf ein zu euphorisches Bild einer Bewegung ohne Gegensätze, Erschöpfung oder ernsthafte Widersacher*innen. Für das Bild von einer angeblich parteilosen Bewegung ignorierte er aktiv die Parteizugehörigkeit mancher Interviewter und konzentrierte sich gänzlich auf die Proteste in der Hauptstadt Santiago de Chile.
Doch während er sich nur im Zentrum aufhielt, organisierten sich im ganzen Land die Demonstrant*innen in basisdemokratischen Räten. Auch wenn dort nur ein sehr geringer Bevölkerungsteil mitwirkte und die Räte nie wirklich Macht besassen, konnten sich die Menschen in ihnen miteinander vernetzen und politische Diskussionen führen. Dadurch waren die Räte besonders wichtig, um die Proteste aufrecht zu erhalten. Bis sie an vielen Orten aufgrund von Erschöpfung und inneren Streitereien aufgelöst wurden.
Guzmán hat diesen Erschöpfungsmoment nicht dokumentiert. Für ihn befand sich Chile im politischen Wandel, der abgesehen von der brutalen Repression durch Polizei und Militär in einem widerstandslosen Raum vonstattenging.
Und so fehlt in seinem Film der eigentliche politische Feind fast gänzlich: die chilenischen Wirtschaftseliten, die im Jahr 1973 den Militärputsch unterstützten. Wenn überhaupt, könnte man in Drohnenflügen über das Santiagoer Banken- und Unternehmensviertel einen Versuch von Guzmán erkennen, die Eliten darzustellen.
Der Dokumentarfilm verwandelt sich dadurch in eine Bestandsaufnahme im Leeren. Denn während Guzmán die linken Mitglieder des Konvents interviewt, fand auf den Strassen und in den sozialen Medien bereits die Gegenkampagne statt, die es schaffte, den Konvent und die Arbeit der Konventsabgeordneten zu verunglimpfen. Die wirtschaftliche und konservative Elite war alles andere als geschlagen, doch das mochten die wenigsten Linken zu jener Zeit beachten.
Während in Guzmáns Film noch glorreiche Strassenschlachten gezeigt werden, verwendete die politische Rechte ähnliche Bilder, um die Menschen von einem Nein zur neuen Verfassung zu überzeugen. Strassenbarrikaden und Pflastersteine wurden zu Symbolen des Chaos und der Angst, linke „Demagog*innen“ würden den hart erkämpften und geringen Wohlstand der „einfachen Menschen“ gefährden.
Die Analyse von Karl Marx über die Revolution von 1848 und den Putsch von Luis Bonaparte im Januar 1852 lassen grüssen: Die Revolte brachte Hoffnung, aber auch fehlende Sicherheit und Zukunftsperspektiven. Je länger sie dauerte, desto lauter wurde der Ruf nach der altbekannten Ordnung.
Guzmán ist mit seinem Dokumentarfilm in jene Falle getappt, die der ganzen Bewegung zum Verhängnis wurde: Sobald sie die Strasse verliess und eine Mehrheit im verfassungsgebenden Konvent inne hatte, fühlte sie sich siegesgewiss. Sie konzentrierte ihre wenigen Ressourcen auf die politische Arbeit im Konvent und überliess die öffentliche Debatte erneut den rechten Medien: Diese berichteten über Chaos im Konvent, Mord und Diebstahl auf der Strasse.
Guzmán glaubte bis kurz vor der Abstimmung vom 4. September an einen Sieg der neuen Verfassung. Im Interview mit Culturizarte beschwichtigte er die Gefahr eines Sieges der Gegner*innen und sagte zur Gegenkampagne: „Ich glaube nicht, dass man sich in dieser absurden und repetitiven Konfliktivität aufhalten sollte.“
Der messianische Diskurs von Guzmán ist deswegen problematisch, weil er Mehrheiten schafft, wo keine sind. Wenn Guzmán in seinen Filmen vom „Volk“ spricht, das einen sozialen Wandel will, so ist es selten eine Mehrheit: Denn weder die sozialistische Regierung von Salvador Allende bekam eine absolute Mehrheit der Stimmen noch die neue Verfassung. Was bleibt, ist die Idee, im Namen eines zum Teil ahnungslosen „Volkes“ zu sprechen.
Das „Volk“ befindet sich derweil meilenweit entfernt. Im Falle von Guzmán sogar jenseits des Atlantiks. Denn seitdem er wegen der Militärdiktatur nach Frankreich fliehen musste, ist er nur für einzelne Reisen und Reportagen nach Chile zurückgekehrt. Wie Guzmán kamen viele exilierte Aktivist*innen nach der Militärdiktatur nie in das neoliberale Chile zurück. Die Revolte war für sie ein Aufleben ihres früheren politischen Kampfes mit dem Wunsch nach einem radikalen Wandel.
Doch der politische und soziale Wandel findet meist langsam statt. Zu langsam für viele, die für ihn kämpften und zum Teil sogar dafür ermordet wurden. Guzmán wollte den Moment des Wandels finden und hat ihn in seiner Euphorie überschätzt. Im August kündigte er noch zwei weitere Filme über die gleiche Thematik an. Was nach der Abstimmung daraus wird, ist offen.
Guzmáns Film bleibt eine Wunschvorstellung, eine Momentaufnahme und ein Zeitdokument über eine kurze Phase der chilenischen Geschichte, in der die Linke glaubte, sie hätte gewonnen. Wer diese Emotionen miterleben und sich ein weiteres Mal in jene Zeit zurückversetzen will, kann Gefallen am Film finden.
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