Am Samstag, den 22. April, fand der jährliche „Tag der Schweizer Milch“ statt – ein aufwendiger Werbeanlass mit Milchshake-Ständen, Verteilaktionen und Betriebsführungen. Seit 2009 findet er in der heutigen Form statt, als Nachfolge für den älteren „Tag der Milch“, der auf die 1950er zurückgeht. Gemäss eigenen Angaben erreichte Swissmilk mit dem Anlass gut 100’000 Menschen an etwa 100 Standorten.
Besonders Kinder wollte man erreichen, heisst es. Für sie gibt es im Herbst zusätzlich den „Tag der Pausenmilch“. Für Jugendliche schaltet Swissmilk auch Werbung auf Tiktok mit hunderttausenden Views. Für die Erwachsenen schliesslich gibt es eine Flut von „Paid Content“ – im April zum Beispiel im Blick und gleich vier Mal bei Watson (1, 2, 3, 4), jeweils in der Rubrik „Gute News“.
Die gut gelaunte Arbeit von Swissmilk erinnert mich immer öfter an die Kult-Komödie „Immer Ärger mit Bernie“ (Englisch: „Weekend at Bernie’s“) aus den 1980er-Jahren. Darin geben zwei Angestellte des toten Chefs Bernie vor, dass er noch lebe, indem sie seiner Leiche eine Sonnenbrille aufsetzen und sie immer grotesker drapieren, um sie lebendig erscheinen zu lassen.
Schaut einmal zum Fenster raus, wahrscheinlich seht ihr bald ein Tier. Sie sind die Mehrheit der Bevölkerung. Doch in der Schweizer Medienlandschaft werden sie meist ignoriert. Animal Politique gibt Gegensteuer. Nico Müller schreibt über Machtsysteme, Medien, Forschung und Lobbyismus. Und denkt nicht, es gehe immer „nur“ um Tiere. Ihre Unterdrückung hängt oft mit der Unterdrückung von Menschen zusammen. Animal Politique macht das sichtbar.
Nico Müller hat den Doktor in Tierethik gemacht und arbeitet an der Uni Basel. Daneben setzt er sich politisch für Tierschutz und ‑rechte ein, besonders mit dem Verein Animal Rights Switzerland.
Ähnlich überspielt Swissmilk mit einem unbeschwerten Auftritt, wie unrettbar kaputt die Schweizer Milchwirtschaft ist.
Das Businessmodell geht nicht auf
Die grössten Probleme sind wirtschaftlicher Natur. Denn mit Milch lässt sich auf der Produzent*innenseite nur schwer Geld verdienen. Im Jahr 2022 bekam eine Bäuerin für einen Liter Milch etwa 75 Rappen, ein rekordhoher Preis. In der Herstellung kann derselbe Liter aber fast einen Franken kosten, im Berggebiet sogar bis über 1.60 Franken.
In der Folge gehen seit Jahrzehnten immer mehr Höfe ein – es gibt heute weniger als halb so viele Milchbetriebe wie noch im Jahr 2000. Der Bund bremst diese Entwicklung so gut es geht, indem er pro Jahr fast 400 Millionen Franken in Form von verschiedenen Zulagen für die Milchproduktion einschiesst.
Gleichzeitig steigt der Druck von aussen, insbesondere weil die über 500’000 Milchkühe in der Schweiz eine enorme Belastung für Klima und Umwelt darstellen. Sie stossen Luftschadstoffe aus – insbesondere das starke Treibhausgas Methan – und tragen durch Gülle zur Versauerung der Böden bei. Milchkühe werden zudem massiv mit Antibiotika behandelt, was einen idealen Nährboden für resistente Keime bildet.
Greenpeace fordert aufgrund der Klimaschäden eine drastische Reduktion des Milchproduktekonsums – von 80 auf 25 Kilogramm pro Person und Jahr. Werbung für Tierprodukte sei generell abzuschaffen. Pro Natura fordert gleichzeitig staatliche Unterstützung für pflanzliche Proteine. Und auch der Agronom*innen-Verein Vision Landwirtschaft kritisiert die „ineffiziente und teure Hochleistungsstrategie“ der Schweizer Milchbranche.
Hinzu kommen machtlose, aber dennoch lästige Menschen wie ich, die pausenlos darauf hinweisen, dass Milchkühen ihre Kälber gestohlen werden und beide Tiere darunter leiden.
Und just während ich diese Kolumne tippe, flattert eine Medienmitteilung von Coop in meinen Maileingang: „Jede siebte Milch, die bei Coop in den Warenkorb kommt, ist eine vegane Alternative.“ Die Zeiten ändern sich.
Kein Wunder, strampelt sich Swissmilk immer mehr ab.
Verschenken, verfechten, verteufeln
Swissmilk setzt in der schwierigen Situation im Grunde auf eine Strategie mit drei Pfeilern.
Der erste Pfeiler besteht darin, Milchprodukte möglichst allgegenwärtig zu präsentieren, wenn möglich durch Gratisausschank wie beim „Tag der Schweizer Milch“ und dem „Tag der Pausenmilch“. Damit wird die Zielgruppe der Uninformierten abgeholt, die von den Schattenseiten der Industrie noch nichts weiss. Da diese Gruppe irgendwann nur noch aus Kindern und Jugendlichen bestehen wird, macht es Sinn, dass Swissmilk bereits jetzt auf sie fokussiert.
Die zweite Taktik ist, dogmatisch zu verfechten, dass die Schweiz eine Milchindustrie braucht. Der Klassiker ist das Grasland-Argument: Die Schweiz braucht eine Milchindustrie, weil hier überall Gras ist, das nur die Kühe verdauen können. Darum sagt zum Beispiel Swissmilks Youtube-Werbung: „Die Schweiz ist ein Grasland. Das ist ein Fakt. Ein Fakt zum Wiederkäuen.“
Blöd nur, dass Schweizer Milchkühe nicht von Gras allein leben. Mit einer reinen Raufutterdiät würden die Kühe nämlich weniger Milch geben und wären oftmals weniger fruchtbar, wie Berechnungen von Agroscope zeigten. So könnten die meisten Milchbetriebe erst recht nicht wirtschaften.
Es braucht also Kraftfutter. Laut Swissmilk macht es einen Fünftel der Milchkuhernährung aus. Und weil dieses Kraftfutter grösstenteils von Ackerflächen stammt, auf denen auch Lebensmittel für Menschen wachsen könnten, stehen die Kühe eben sogar im Grasland Schweiz in Nahrungsmittelkonkurrenz zum Menschen. Wir brauchen deshalb keineswegs eine Milchindustrie, wir leisten sie uns.
Die dritte und verzweifeltste Taktik ist schliesslich, pflanzliche Alternativen zu Milchprodukten schlechtzureden.
Das kostenlose Schulmaterial von Swissmilk fordert die Kids zum Beispiel auf, den Herstellungsprozess von Butter und Margarine zu vergleichen. Derjenige von Margarine sieht komplexer aus – iiih, voll künstlich! Tolle Bildungsarbeit. Was Kühen und Kälbern für „echte“ Butter angetan wird, wird natürlich verschwiegen. Erwachsene müssen dieselbe Lektion in einem Blogpost lernen.
Zusätzlich kommt die Sprachpolizei: Swissmilk betont immer gerne, dass laut Gesetz nur Kuhmilch „Milch“ heissen darf. Immerhin ist Milch definiert als „das durch ein- oder mehrmaliges Melken gewonnene Erzeugnis der normalen Eutersekretion eines oder mehrerer Tiere“.
Kleine Geschäfte, die es mit der Bezeichnung nicht streng genug nehmen, können deshalb dicke Post von Swissmilk bekommen. Zum Beispiel der Biohof Hübeli, der auf seiner Webseite „Hafermilch“ verkauft. Sofort kamen E‑Mails von Swissmilk, das sei zu „Haferdrink“ zu ändern. Dem veganen Shop „Fabulous!“, der ein Produkt namens „Happy Cheeze“ im Angebot hatte, drohte Swissmilk sogar mit rechtlichen Schritten. Der Name sei zu nah an „Cheese“.
Unsympathischer geht’s nicht. Aber es ist auch reine Defensivstrategie. Der Schweizer Milchbranche geht es nicht gut, sie funktioniert weder ökonomisch noch ökologisch. Sie hat nichts zu gewinnen, nur zu verlieren.
Vielleicht ist es das Beste, wenn sie bald von ihrem Leiden erlöst wird.
Angriff der Mikroorganismen
Während Swissmilk gegen Hafermilch hässelt, lauert die echte Gefahr für die Branche ganz woanders. Zumindest wenn der amerikanische Thinktank RethinkX recht hat. Er prognostiziert der globalen Milchindustrie nämlich den finanziellen Kollaps – und das in den nächsten zehn Jahren.
Schuld daran sei die sogenannte Präzisionsfermentation. Das ist im Grunde ein Gärungsverfahren mit gezielt veränderten Mikroorganismen. Statt dem Geschmack von Wein oder Sauerkraut produzieren sie dann zum Beispiel Insulin oder Lab – früher gab es beides nur aus toten Tieren. Nun forschen diverse Teams daran, mit demselben Verfahren auch Milchprotein herzustellen.
Die Präzisionsfermentation stellt keine Ersatzprodukte her, sondern molekular identische Kopien des Originals. Sie leisten also exakt das Gleiche, umgehen aber den aufwendigen Umweg übers Tier. Das lohnt sich insbesondere auch wirtschaftlich.
Swissmilk scheint davor bisher keine Angst zu haben. Gegenüber dem Blick hiess es Anfang April, das seien doch alles „hochverarbeitete Produkte“ und keine echte Konkurrenz für „natürliche Milchprodukte“.
Das ist aber nicht der Punkt. Ein entscheidender Anteil – global etwa 35 Prozent – der Milchproteine wird gemäss RethinkX nicht über Trinkmilch, Käse oder Joghurt konsumiert, sondern über Fertigprodukte wie Kuchen, Babynahrung und Sportdrinks. Und die verarbeitende Industrie kümmert es herzlich wenig, wie „natürlich“ oder „hochverarbeitet“ dieses Protein nun ist. Sie interessiert der Preis.
Sobald gezielt hergestellte Milchproteine also günstiger werden als ihre Pendants aus Kuhmilch, bricht der ohnehin schwächelnden Industrie ein finanzielles Standbein weg. Darauf werden laut RethinkX finanzielle Turbulenzen folgen, die nur ein Bruchteil der Industrie überleben wird. Innert weniger Jahre fände der Schrecken der Kuhmilchindustrie ein jähes Ende.
Am Ende von „Immer Ärger mit Bernie“ wird der tote Protagonist am Strand auf eine Krankenhausbahre geladen. Die Bahre rollt weg, die Leiche purzelt hinunter in den Sand. Als finale Pointe fragt ein Kind mit Schäufelchen: „Hey Mister, darf ich Sie eingraben?“
Mal sehen, wie lange es noch geht, bis wir das der Milchindustrie sagen können.
Journalismus kostet
Die Produktion dieses Artikels nahm 32 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 1924 einnehmen.
Als Leser*in von das Lamm konsumierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demokratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produktion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rechnung sieht so aus:
Wir haben einen Lohndeckel bei CHF 22. Die gewerkschaftliche Empfehlung wäre CHF 35 pro Stunde.
CHF 1120 → 35 CHF/h für Lohn der Schreibenden, Redigat, Korrektorat (Produktion)
CHF 544 → 17 CHF/h für Fixkosten (Raum- & Servermiete, Programme usw.)
CHF 260 pro Artikel → Backoffice, Kommunikation, IT, Bildredaktion, Marketing usw.
Weitere Informationen zu unseren Finanzen findest du hier.
Solidarisches Abo
Nur durch Abos erhalten wir finanzielle Sicherheit. Mit deinem Soli-Abo ab 60 CHF im Jahr oder 5 CHF im Monat unterstützt du uns nachhaltig und machst Journalismus demokratisch zugänglich. Wer kann, darf auch gerne einen höheren Beitrag zahlen.
Ihr unterstützt mit eurem Abo das, was ihr ohnehin von uns erhaltet: sorgfältig recherchierte Informationen, kritisch aufbereitet. So haltet ihr unser Magazin am Leben und stellt sicher, dass alle Menschen – unabhängig von ihren finanziellen Ressourcen – Zugang zu fundiertem Journalismus abseits von schnellen News und Clickbait erhalten.
In der kriselnden Medienwelt ist es ohnehin fast unmöglich, schwarze Zahlen zu schreiben. Da das Lamm unkommerziell ausgerichtet ist, keine Werbung schaltet und für alle frei zugänglich bleiben will, sind wir um so mehr auf eure solidarischen Abos angewiesen. Unser Lohn ist unmittelbar an eure Abos und Spenden geknüpft. Je weniger Abos, desto weniger Lohn haben wir – und somit weniger Ressourcen für das, was wir tun: Kritischen Journalismus für alle.
Einzelspende
Ihr wollt uns lieber einmalig unterstützen?