Immer Ärger mit Swissmilk

Am „Tag der Schweizer Milch“ macht die Milch­lobby einen auf sorglos und unbe­schwert. Die internen Probleme der eigenen Indu­strie werden dabei genauso verheim­licht wie Tier­leid und Klima­sünden. Lange geht das nicht mehr gut, denkt Kolum­nist Nico Müller. 
Die über 500'000 Milchkühe in der Schweiz stellen eine enorme Belastung für Klima und Umwelt dar. Sie stossen Luftschadstoffe aus und tragen durch Gülle zur Versauerung der Böden bei. (Bild: Megumi Nachev / Unsplash)

Am Samstag, den 22. April, fand der jähr­liche „Tag der Schweizer Milch“ statt – ein aufwen­diger Werbe­an­lass mit Milch­shake-Ständen, Verteil­ak­tionen und Betriebs­füh­rungen. Seit 2009 findet er in der heutigen Form statt, als Nach­folge für den älteren „Tag der Milch“, der auf die 1950er zurück­geht. Gemäss eigenen Angaben erreichte Swiss­milk mit dem Anlass gut 100’000 Menschen an etwa 100 Standorten.

Beson­ders Kinder wollte man errei­chen, heisst es. Für sie gibt es im Herbst zusätz­lich den „Tag der Pausen­milch“. Für Jugend­liche schaltet Swiss­milk auch Werbung auf Tiktok mit hundert­tau­senden Views. Für die Erwach­senen schliess­lich gibt es eine Flut von „Paid Content“ – im April zum Beispiel im Blick und gleich vier Mal bei Watson (1, 2, 3, 4), jeweils in der Rubrik „Gute News“.

Die gut gelaunte Arbeit von Swiss­milk erin­nert mich immer öfter an die Kult-Komödie „Immer Ärger mit Bernie“ (Englisch: „Weekend at Bernie’s“) aus den 1980er-Jahren. Darin geben zwei Ange­stellte des toten Chefs Bernie vor, dass er noch lebe, indem sie seiner Leiche eine Sonnen­brille aufsetzen und sie immer grotesker drapieren, um sie lebendig erscheinen zu lassen.

Schaut einmal zum Fenster raus, wahr­schein­lich seht ihr bald ein Tier. Sie sind die Mehr­heit der Bevöl­ke­rung. Doch in der Schweizer Medi­en­land­schaft werden sie meist igno­riert. Animal Poli­tique gibt Gegen­steuer. Nico Müller schreibt über Macht­sy­steme, Medien, Forschung und Lobby­ismus. Und denkt nicht, es gehe immer „nur“ um Tiere. Ihre Unter­drückung hängt oft mit der Unter­drückung von Menschen zusammen. Animal Poli­tique macht das sichtbar.

Nico Müller hat den Doktor in Tier­ethik gemacht und arbeitet an der Uni Basel. Daneben setzt er sich poli­tisch für Tier­schutz und ‑rechte ein, beson­ders mit dem Verein Animal Rights Switzerland.

Ähnlich über­spielt Swiss­milk mit einem unbe­schwerten Auftritt, wie unrettbar kaputt die Schweizer Milch­wirt­schaft ist.

Das Busi­ness­mo­dell geht nicht auf

Die grössten Probleme sind wirt­schaft­li­cher Natur. Denn mit Milch lässt sich auf der Produzent*innenseite nur schwer Geld verdienen. Im Jahr 2022 bekam eine Bäuerin für einen Liter Milch etwa 75 Rappen, ein rekord­hoher Preis. In der Herstel­lung kann derselbe Liter aber fast einen Franken kosten, im Berg­ge­biet sogar bis über 1.60 Franken.

In der Folge gehen seit Jahr­zehnten immer mehr Höfe ein – es gibt heute weniger als halb so viele Milch­be­triebe wie noch im Jahr 2000. Der Bund bremst diese Entwick­lung so gut es geht, indem er pro Jahr fast 400 Millionen Franken in Form von verschie­denen Zulagen für die Milch­pro­duk­tion einschiesst.

Gleich­zeitig steigt der Druck von aussen, insbe­son­dere weil die über 500’000 Milch­kühe in der Schweiz eine enorme Bela­stung für Klima und Umwelt darstellen. Sie stossen Luft­schad­stoffe aus – insbe­son­dere das starke Treib­hausgas Methan – und tragen durch Gülle zur Versaue­rung der Böden bei. Milch­kühe werden zudem massiv mit Anti­bio­tika behan­delt, was einen idealen Nähr­boden für resi­stente Keime bildet.

Green­peace fordert aufgrund der Klima­schäden eine drasti­sche Reduk­tion des Milch­pro­duk­te­kon­sums – von 80 auf 25 Kilo­gramm pro Person und Jahr. Werbung für Tier­pro­dukte sei gene­rell abzu­schaffen. Pro Natura fordert gleich­zeitig staat­liche Unter­stüt­zung für pflanz­liche Proteine. Und auch der Agronom*innen-Verein Vision Land­wirt­schaft kriti­siert die „inef­fi­zi­ente und teure Hoch­lei­stungs­stra­tegie“ der Schweizer Milchbranche.

Hinzu kommen macht­lose, aber dennoch lästige Menschen wie ich, die pausenlos darauf hinweisen, dass Milch­kühen ihre Kälber gestohlen werden und beide Tiere darunter leiden.

Und just während ich diese Kolumne tippe, flat­tert eine Medi­en­mit­tei­lung von Coop in meinen Mail­ein­gang: „Jede siebte Milch, die bei Coop in den Waren­korb kommt, ist eine vegane Alter­na­tive.“ Die Zeiten ändern sich.

Kein Wunder, stram­pelt sich Swiss­milk immer mehr ab.

Verschenken, verfechten, verteufeln

Swiss­milk setzt in der schwie­rigen Situa­tion im Grunde auf eine Stra­tegie mit drei Pfeilern.

Der erste Pfeiler besteht darin, Milch­pro­dukte möglichst allge­gen­wärtig zu präsen­tieren, wenn möglich durch Gratis­aus­schank wie beim „Tag der Schweizer Milch“ und dem „Tag der Pausen­milch“. Damit wird die Ziel­gruppe der Unin­for­mierten abge­holt, die von den Schat­ten­seiten der Indu­strie noch nichts weiss. Da diese Gruppe irgend­wann nur noch aus Kindern und Jugend­li­chen bestehen wird, macht es Sinn, dass Swiss­milk bereits jetzt auf sie fokussiert.

Die zweite Taktik ist, dogma­tisch zu verfechten, dass die Schweiz eine Milch­in­du­strie braucht. Der Klas­siker ist das Gras­land-Argu­ment: Die Schweiz braucht eine Milch­in­du­strie, weil hier überall Gras ist, das nur die Kühe verdauen können. Darum sagt zum Beispiel Swiss­milks Youtube-Werbung: „Die Schweiz ist ein Gras­land. Das ist ein Fakt. Ein Fakt zum Wiederkäuen.“

Blöd nur, dass Schweizer Milch­kühe nicht von Gras allein leben. Mit einer reinen Raufut­ter­diät würden die Kühe nämlich weniger Milch geben und wären oftmals weniger fruchtbar, wie Berech­nungen von Agro­scope zeigten. So könnten die meisten Milch­be­triebe erst recht nicht wirtschaften.

Es braucht also Kraft­futter. Laut Swiss­milk macht es einen Fünftel der Milch­kuh­er­näh­rung aus. Und weil dieses Kraft­futter gröss­ten­teils von Acker­flä­chen stammt, auf denen auch Lebens­mittel für Menschen wachsen könnten, stehen die Kühe eben sogar im Gras­land Schweiz in Nahrungs­mit­tel­kon­kur­renz zum Menschen. Wir brau­chen deshalb keines­wegs eine Milch­in­du­strie, wir leisten sie uns.

Die dritte und verzwei­feltste Taktik ist schliess­lich, pflanz­liche Alter­na­tiven zu Milch­pro­dukten schlechtzureden.

Das kosten­lose Schul­ma­te­rial von Swiss­milk fordert die Kids zum Beispiel auf, den Herstel­lungs­pro­zess von Butter und Marga­rine zu verglei­chen. Derje­nige von Marga­rine sieht komplexer aus – iiih, voll künst­lich! Tolle Bildungs­ar­beit. Was Kühen und Kälbern für „echte“ Butter angetan wird, wird natür­lich verschwiegen. Erwach­sene müssen dieselbe Lektion in einem Blog­post lernen.

Zusätz­lich kommt die Sprach­po­lizei: Swiss­milk betont immer gerne, dass laut Gesetz nur Kuhmilch „Milch“ heissen darf. Immerhin ist Milch defi­niert als „das durch ein- oder mehr­ma­liges Melken gewon­nene Erzeugnis der normalen Euter­se­kre­tion eines oder mehrerer Tiere“.

Kleine Geschäfte, die es mit der Bezeich­nung nicht streng genug nehmen, können deshalb dicke Post von Swiss­milk bekommen. Zum Beispiel der Biohof Hübeli, der auf seiner Webseite „Hafer­milch“ verkauft. Sofort kamen E‑Mails von Swiss­milk, das sei zu „Hafer­drink“ zu ändern. Dem veganen Shop „Fabu­lous!“, der ein Produkt namens „Happy Cheeze“ im Angebot hatte, drohte Swiss­milk sogar mit recht­li­chen Schritten. Der Name sei zu nah an „Cheese“.

Unsym­pa­thi­scher geht’s nicht. Aber es ist auch reine Defen­siv­stra­tegie. Der Schweizer Milch­branche geht es nicht gut, sie funk­tio­niert weder ökono­misch noch ökolo­gisch. Sie hat nichts zu gewinnen, nur zu verlieren.

Viel­leicht ist es das Beste, wenn sie bald von ihrem Leiden erlöst wird.

Angriff der Mikroorganismen

Während Swiss­milk gegen Hafer­milch hässelt, lauert die echte Gefahr für die Branche ganz woan­ders. Zumin­dest wenn der ameri­ka­ni­sche Thinktank RethinkX recht hat. Er progno­sti­ziert der globalen Milch­in­du­strie nämlich den finan­zi­ellen Kollaps – und das in den näch­sten zehn Jahren.

Schuld daran sei die soge­nannte Präzi­si­ons­fer­men­ta­tion. Das ist im Grunde ein Gärungs­ver­fahren mit gezielt verän­derten Mikro­or­ga­nismen. Statt dem Geschmack von Wein oder Sauer­kraut produ­zieren sie dann zum Beispiel Insulin oder Lab – früher gab es beides nur aus toten Tieren. Nun forschen diverse Teams daran, mit demselben Verfahren auch Milch­pro­tein herzustellen.

Die Präzi­si­ons­fer­men­ta­tion stellt keine Ersatz­pro­dukte her, sondern mole­kular iden­ti­sche Kopien des Origi­nals. Sie leisten also exakt das Gleiche, umgehen aber den aufwen­digen Umweg übers Tier. Das lohnt sich insbe­son­dere auch wirtschaftlich.

Swiss­milk scheint davor bisher keine Angst zu haben. Gegen­über dem Blick hiess es Anfang April, das seien doch alles „hoch­ver­ar­bei­tete Produkte“ und keine echte Konkur­renz für „natür­liche Milchprodukte“.

Das ist aber nicht der Punkt. Ein entschei­dender Anteil – global etwa 35 Prozent – der Milch­pro­teine wird gemäss RethinkX nicht über Trink­milch, Käse oder Joghurt konsu­miert, sondern über Fertig­pro­dukte wie Kuchen, Baby­nah­rung und Sport­drinks. Und die verar­bei­tende Indu­strie kümmert es herz­lich wenig, wie „natür­lich“ oder „hoch­ver­ar­beitet“ dieses Protein nun ist. Sie inter­es­siert der Preis.

Sobald gezielt herge­stellte Milch­pro­teine also günstiger werden als ihre Pendants aus Kuhmilch, bricht der ohnehin schwä­chelnden Indu­strie ein finan­zi­elles Stand­bein weg. Darauf werden laut RethinkX finan­zi­elle Turbu­lenzen folgen, die nur ein Bruch­teil der Indu­strie über­leben wird. Innert weniger Jahre fände der Schrecken der Kuhmilch­in­du­strie ein jähes Ende.

Am Ende von „Immer Ärger mit Bernie“ wird der tote Prot­ago­nist am Strand auf eine Kran­ken­haus­bahre geladen. Die Bahre rollt weg, die Leiche purzelt hinunter in den Sand. Als finale Pointe fragt ein Kind mit Schäu­fel­chen: „Hey Mister, darf ich Sie eingraben?“

Mal sehen, wie lange es noch geht, bis wir das der Milch­in­du­strie sagen können.


Jour­na­lismus kostet

Die Produk­tion dieses Arti­kels nahm 32 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 1924 einnehmen.

Als Leser*in von das Lamm konsu­mierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demo­kratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produk­tion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rech­nung sieht so aus:

Soli­da­ri­sches Abo

Nur durch Abos erhalten wir finan­zi­elle Sicher­heit. Mit deinem Soli-Abo ab 60 CHF im Jahr oder 5 CHF im Monat unter­stützt du uns nach­haltig und machst Jour­na­lismus demo­kra­tisch zugäng­lich. Wer kann, darf auch gerne einen höheren Beitrag zahlen.

Ihr unter­stützt mit eurem Abo das, was ihr ohnehin von uns erhaltet: sorg­fältig recher­chierte Infor­ma­tionen, kritisch aufbe­reitet. So haltet ihr unser Magazin am Leben und stellt sicher, dass alle Menschen – unab­hängig von ihren finan­zi­ellen Ressourcen – Zugang zu fundiertem Jour­na­lismus abseits von schnellen News und Click­bait erhalten.

In der kriselnden Medi­en­welt ist es ohnehin fast unmög­lich, schwarze Zahlen zu schreiben. Da das Lamm unkom­mer­ziell ausge­richtet ist, keine Werbung schaltet und für alle frei zugäng­lich bleiben will, sind wir um so mehr auf eure soli­da­ri­schen Abos ange­wiesen. Unser Lohn ist unmit­telbar an eure Abos und Spenden geknüpft. Je weniger Abos, desto weniger Lohn haben wir – und somit weniger Ressourcen für das, was wir tun: Kriti­schen Jour­na­lismus für alle.

Ähnliche Artikel