Die Unterstützung der Nicht-Angestellten war während der letzten Monate ein sich ständig ändernder Flickenteppich von Notverordnungen. Die meisten Selbstständigen haben seit Mitte September gar nichts mehr erhalten. Und die meisten Personen in arbeitgeberähnlichen Positionen, also solche, die eine GmbH oder eine AG gegründet und sich selbst dort angestellt haben, warteten seit Ende Mai vergebens auf Hilfe.
Nun hat der Bundesrat für Ordnung gesorgt. Am 4. November hat er mit der „Verordnung über Massnahmen bei Erwerbsausfall im Zusammenhang mit dem Coronavirus“ die Bestimmungen des Covid-19-Gesetzes für die Unterstützung der Selbstständigen veröffentlicht. Direkt und indirekt betroffene Selbstständige und arbeitgeberähnliche Personen können ab sofort wieder Erwerbsersatz beantragen – wenn sie stark genug von Corona getroffen wurden.
Während im Frühling eine einfache Selbstdeklaration genügte, um Unterstützung in Form von Corona-Taggeld zu erhalten, müssen die Betroffenen nun Beweise liefern. Hilfe erhalten sie nur, wenn sie nachweisen können, dass ihr Umsatz um 55 Prozent eingebrochen ist. Wenn sie diesen Nachweis erbringen können, erhalten sie 80 Prozent des durchschnittlichen Tageseinkommens von 2019. So wie schon im Frühling. Zuständig ist nun für alle das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV).
Die Hürde ist zu hoch
Dass hier eine gewisse Hürde eingebaut wurde, ist grundsätzlich sinnvoll. Im Frühling wurden diejenigen, die lediglich mit Umsatzeinbussen von 10 Prozent zu kämpfen hatten, gleichbehandelt wie diejenigen mit 90-prozentigen Einbussen – und das war unfair.
Jedoch bereits über die Höhe der Hürde lässt sich streiten. Unternehmen brauchen lediglich 40 Prozent Umsatzeinbussen, um als Härtefälle anerkannt zu werden und Unterstützung zu kriegen. Und Angestellten auf Kurzarbeit mutet man lediglich Lohnkürzungen auf 80 Prozent des normalen Einkommens zu. Anders bei den Selbstständigen: Wenn eine Person 50 Prozent Umsatzeinbussen verzeichnet und in einem investitionsarmen Business tätig ist, wo der Umsatz mehr oder weniger dem Lohn entspricht, dann kriegt diese Person keine Unterstützung. Was heisst, dass ihr zugemutet wird, mit 50 Prozent ihres Einkommens klarzukommen. Problematisch wird diese Regelung also vor allem für die Gruppe sein, die nicht volle Pulle, aber doch ganz ordentlich betroffen ist.
Teil 2: Corona: Die Regeln zur Unterstützung von Selbstständigen bleiben unfair
Immer nur Lohnarbeit, bitte!
Das eigentliche Problem der nun geltenden Regeln liegt aber tiefer: Und zwar in den Berechnungsstrukturen der 55-Prozent-Schwelle. Wer die letzten Jahre nicht durchgehend in bezahlte Arbeit investierte, hat jetzt womöglich das Nachsehen.
Denn die 55-Prozent-Schwelle muss im Vergleich zum durchschnittlichen Monatsumsatz der letzten fünf Jahre (2015–2019) erreicht werden. Wer die letzten fünf Jahre seine Zeit also anders verbracht hat, als damit, so viel Geld wie möglich zu scheffeln, zieht jetzt womöglich den Kürzeren: Egal, ob man auf Reisen war, krankheitshalber nicht erwerbstätig sein konnte, sich um die kranken Verwandten kümmern musste oder in einer Suppenküche geholfen hat.
Ein fiktives Beispiel: Die selbstständige Graphikerin Hanna packte Ende 2015 das Fernweh. Auf einer einjährigen Europareise verbrauchte sie das von der Grossmutter geerbte Geld. In normalen Jahren machte sie immer etwa 60’000 CHF Umsatz pro Jahr, sprich 5’000 CHF pro Monat. 2016 waren es aber null CHF. Das hat nun einen Einfluss auf ihren Fünfjahresdurchschnitt und entsprechend auf den Schwellenwert, den sie erreichen muss, um Unterstützungsgelder zu erhalten.
Coronabedingt ist es für Hanna momentan schwer, genügend Aufträge an Land zu ziehen: Wegen den weggefallenen Events bestellt niemand mehr Plakate und Flyer. Im Oktober verzeichnete sie statt der sonst üblichen rund 5’000.- CHF Umsatz deshalb lediglich noch 2’000.- CHF Umsatz.
Wäre sie nicht auf Reisen gegangen, würde sie heute Corona-Taggeld erhalten. Denn die 3’000.- CHF Umsatzeinbussen entsprächen einem Rückgang von 60 Prozent bezogen auf ihren üblichen Umsatz von 5’000.- CHF. Nicht aber, wenn ihr Reisejahr in die Umsatzberechnung einfliesst. Dann hat sie mit den verbleibenden 2’000.- CHF Umsatz offiziell nur 50 Prozent Umsatzeinbussen – und kriegt keine Unterstützung.
Hätte Hanna 2015 gewusst, was ihre Reise für Konsequenzen haben würde, hätte sie sich wohl zweimal überlegt, ob sie dem Reisefieber nachgeben soll. Lediglich wenn sie ihre selbstständige Tätigkeit bei der Ausgleichskasse abgemeldet hätte, würde das Jahr auf Reisen heute nicht in die Umsatzberechnungen miteinfliessen.
Auch Weiterbildungen und Krankheit lässt das BSV nicht gelten
Und ein Reisejahr ist bei Weitem nicht der einzige Grund, weswegen es nun mit dem Corona-Taggeld nicht klappen könnte. Eine Vielzahl weiterer Gründe kann dazu führen, dass coronabetroffene Selbstständige keine Unterstützung erhalten, obwohl ihr Umsatz eigentlich um mehr als 55 Prozent eingebrochen ist.
Denn Hanna hätte anstatt einem Jahr Sabbatical auch über drei Jahre eine 30-Prozent-Anstellung haben oder über zwei Jahre 50 Prozent eine Weiterbildung absolvieren können. Die Rechnung wäre dieselbe. Schlussendlich hätte sie innerhalb der letzten fünf Jahre einen vollen Jahresumsatz verloren. Doch gegenüber all diesen erklärbaren Umsatzeinbussen ist das vom BSV nun eingeführte System blind.
Sogar wenn Hanna in den letzten fünf Jahren krankheitsbedingt Umsatz verloren hätte, könnte das nicht berücksichtigt werden. Auch nicht mit einem ärztlichen Attest. „Die eindeutige Regelung und rechtsgleiche Überprüfung von unzähligen denkbaren Konstellationen wäre sachlich und vom Aufwand her nicht möglich und klar unverhältnismässig“, so Pressesprecher Harald Sohns vom BSV. Ein Arztzeugnis löse dieses Problem auch nicht.
Auf die Frage, ob es nicht ein wenig seltsam sei, Personen dafür zu bestrafen, dass sie vor Jahren eine längere Reise gemacht oder sich weitergebildet hatten, antwortet Sohns: „Das ist keine Strafe. Wer wegen einer anderen Tätigkeit weniger erwerbstätig ist, nimmt zum Beispiel die Konsequenz bewusst in Kauf, dass seine Altersvorsorge dadurch schlechter ausfällt.“ Nur: 2015 ahnte noch niemand etwas von Corona. Hanna konnte sich der Konsequenzen ihrer Reise also nicht bewusst sein.
Wer Gratisarbeit gemacht hat, wird nun bestraft
Zudem macht bei Weitem nicht alles, was man ohne Lohn macht, so viel Spass wie Hannas Reise. Hierzu ein weiteres fiktives Beispiel: Kemal ist selbstständiger Tontechniker und hat in den letzten Jahren bei der Heilsarmee in der Suppenküche geholfen. Zusammengezählt hat auch er in den vergangenen fünf Jahren ein Jahr seiner Erwerbszeit in Gratisarbeit gesteckt. Ende 2019 hat er aber eine Familie gegründet und das Gratisengagement in der Suppenküche aufgeben müssen, da er die Zeit nun für den Erwerb des Familienbudgets braucht. Corona-Erwerbsersatz zu kriegen wird für ihn aber genauso schwer sein wie für Hanna, denn das System anerkennt nur die Arbeit, für welche man auch Geld gekriegt hat.
Doch laut dem Bundesamt für Statistik wird in der Schweiz mehr als die Hälfte der Arbeitsstunden gratis geleistet. An der Erledigung dieser Arbeit beteiligen sich aber laut derselben Statistik lediglich 43 Prozent der Bevölkerung. Die anderen 57 Prozent tragen diese Last nicht mit. Und werden, sofern sie selbstständig sind, nun zudem eine grössere Chance haben, Corona-Taggeld zu beantragen.
Bei der Mutterschaft ist das EO-System nur auf einem Auge blind
Ein Grossteil dieser Gratisarbeit dürfte nach wie vor bei den Müttern liegen. Dazu ein weiteres fiktives Beispiel: Yasmin ist selbstständige Dolmetscherin. 2015 bekam sie ein Kind und dementsprechend 14 Wochen lang Mutterschaftstaggeld. Dieses Einkommen kann sie bei der Berechnung des Fünfjahresschnitts zwar nicht dazuzählen; die 14 Wochen werden allerdings auch aus dem Berechnungszeitraum gestrichen. Dass sie in der offiziellen Mutterschaftszeit allenfalls ein tieferes Einkommen hatte, wird ihren Fünfjahresschnitt also nicht verzerren.
Dieselbe Berechnungsmethode wird angewendet, wenn jemand Zivildienst oder Militär leisten musste in den vergangenen fünf Jahren.
Nach diesen 14 Wochen offizieller Mutterzeit nahm sich Yasmin aber nochmals zwei Monate unbezahlte Mutterzeit, in welcher sie keine Aufträge annahm. Für diese Zeit macht das BSV jedoch keine Extrawürste. Diese zwei Monate werden in der Berechnung des Schnitts knallhart mit 0.- CHF Umsatz verbucht. Bei ihrem zweiten Kind 2017 und dem dritten 2019 machte sie es wieder gleich. Und auch damit schmälerte Yasmin damals, ohne es zu wissen, ihre Chancen, heute Corona-Taggeld zu erhalten.
Noch härter kann es Frauen treffen, die jahrelang ihre Kinder betreut haben und erst seit Kurzem wieder erwerbstätig sind. Ihnen wird das über die ganzen fünf Jahre reduzierte Pensum zum Verhängnis.
Sich um die Kinder kümmern, die alte Nachbarin zum Arzt begleiten, den Dorfbach von Müll befreien, gratis in der Suppenküche der Heilsarmee mithelfen, sich dafür einsetzen, dass wir den Planeten klimatechnisch nicht vollends an die Wand fahren – all das bringt kein Geld. Sonderlich spassig ist es aber kaum. Gemacht werden muss es trotzdem.
Dass man zweimal überlegen muss, ob man das Sabbatical von Hanna gesellschaftlich tragen soll oder nicht, ist verständlich. Trotzdem würde es wohl allen Angestellten ziemlich schräg vorkommen, wenn sie keine Kurzarbeit kriegen würden, weil sie vor drei Jahren mal länger im Urlaub waren.
Besonders bitter ist das System aber für Personen, die wegen Care-Arbeit oder sonstigem gesellschaftlichen Engagement einen tieferen Referenzwert haben. Sie beissen nun zum zweiten Mal in den sauren Apfel: Sie haben nicht nur kein Geld dafür erhalten, dass sie auf ihre Kinder aufgepasst, sich um kranke Menschen gekümmert oder in einer Suppenküche geholfen haben. Sie haben jetzt auch noch deutlich schlechtere Aussichten darauf, die Umsatzeinbussen von 55 Prozent zu erreichen.
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