Plötzlich ging alles sehr schnell: Eigentlich sollte Natascha Strobl zu ihrem neuen Buch „Radikalisierter Konservatismus – eine Analyse“ interviewt werden. Der Interviewtermin stand schon länger fest. Doch dann trat Bundeskanzler Sebastian Kurz vorletztes Wochenende unter Korruptionsvorwürfen zurück. Im Zentrum steht der Vorwurf, dass sich der Bundeskanzler strafbarer Methoden bedient und unter anderem eine positive Berichterstattung erkauft haben soll. Die Vorwürfe stammen aus der Zeit zwischen 2016 und 2017, als Kurz noch Aussenminister in der Grossen Koalition war. Weg von der Politik ist Sebastian Kurz aber nicht: Er bleibt Parteichef und übernimmt das mächtige Amt des Fraktionschefs.
Natascha Strobl ist österreichische Publizistin und Politikwissenschaftlerin mit Fokus auf die Neue Rechte in Europa. Auf ihrem Twitteraccount @Natascha_Strobl veröffentlicht sie unter dem Hashtag #NatsAnalyse regelmässig Analysen zur österreichischen Politik sowie zur Rhetorik der extremen Rechten. Simon Muster erreicht die österreichische Publizistin zwischen zwei Fernsehinterviews in einem Wiener Kaffeehaus.
Frau Strobl, es passiert nicht oft, dass ein Sachbuch so unmittelbar an Bedeutung gewinnt wie jenes von Ihnen. Mit Verlaub: Was zur Hölle ist in den letzten Tagen in Österreich passiert?
Natascha Strobl: Es ist furchtbar, dass sich Österreich schon wieder im Krisenmodus befindet. Dass mein Buch gerade so gut zur Tagespolitik passt, ist natürlich bitter, weil ich mir diese politische Situation nicht gewünscht habe. Aber ich beobachte diese Entwicklung schon länger, deshalb überraschen mich auch viele Dinge, die jetzt bekannt werden, nicht.
Die deutsche Autorin und Journalistin Carolin Emcke nennt ihr Buch sogar „ein Drehbuch für die aktuelle Situation in Österreich“.
Wobei die Realität, wie Sebastian Kurz und seine Entourage ihre zynische Machtpolitik verfolgen und durchgesetzt haben, noch viel plumper ist, als dass ich sie je in einem Buch hätte beschreiben können. Für sie ist Politik ein Spiel, statt politischer Inhalte steht der Sieg über die politische Konkurrenz im Vordergrund. So wurde zum Beispiel bekannt, dass Kurz noch als Aussenminister hinter den Kulissen die Pläne der Grossen Koalition sabotierte, Ganztagesschulen und Kinderbetreuung mit zusätzlichen Mitteln zu fördern. Und das nur, damit der verhassten Grossen Koalition zwischen ÖVP und Sozialdemokrat:innen ein Erfolg verwehrt werden konnte. Dass dieser politische Umgang irgendwann solche Konsequenzen nach sich zieht, wie wir sie jetzt mit den Korruptionsvorwürfen sehen, war absehbar.
Sie beschreiben das Phänomen, das wir gerade beobachten, als „radikalisierten Konservatismus“: ein Personenkult um das vermeintliche Politgenie, eine Missachtung für die Institutionen und den politischen Gegner, der Aufbau einer Gegenrealität. Wo liegt der Ursprung dieser Entwicklung?
Seit einigen Jahren gibt es innerhalb der europäischen konservativen Volksparteien eine Bewegung, die sich für einen neuen Weg entschieden hat: weg vom staatstragenden Nachkriegskonsens mit der Sozialdemokratie, hin zu einer Annäherung an die extreme Rechte auf der Ebene der Feindbilder und dem strategischen Vorgehen. Dort verorten sie das Wachstumspotenzial für die damals kriselnden konservativen Volksparteien. Diese Fraktion innerhalb des Konservatismus möchte das alte System nicht bewahren – der eigentliche Wortsinn von Konservatismus –, sondern versucht, auf den Trümmern des alten ein autoritäreres System aufzubauen. Das ist längst nicht überall geglückt, aber unter Viktor Orban hat Ungarn genau diese Entwicklung durchgemacht.
In Ihrem Buch analysieren sie vor allem Sebastian Kurz und Donald Trump. Sind das die Prototypen des radikalisierten Konservatismus?
Ich habe diese beiden Personen ausgewählt, weil sie sich vordergründig stark unterscheiden: Da der rotköpfige, schwitzende alte Mann ohne Impulskontrolle, dort der adrett gekleidete, junge und stets kontrollierte Sebastian Kurz. Ich wollte aufzeigen, dass wir uns nicht vom Habitus blenden lassen dürfen, denn hinter beiden Auftritten steckt dieselbe politische Strategie. Abgeschaut haben sie diesen Politikstil aber eher von Jörg Haider, Christoph Blocher oder Jean-Marie Le Pen – also von der extremen Rechten.
Eine auffallende Lücke in Ihrem Buch bildet Deutschland. Ist die CDU/CSU gefeit vor der Radikalisierung?
Nein, ich musste den deutschen Kontext aus pragmatischen Gründen auslassen: Ich konnte nicht mehr auf die Bundestagswahlen eingehen und es war unklar, wie diese ausgehen würden. Aber gerade in Deutschland war bis vor einer Woche noch zu vernehmen, dass man einen eigenen Sebastian Kurz brauche. Diese Stimmen dürften jetzt vorläufig verstummen. Zum Glück, denn welche Bedeutung hätte eine Radikalisierung der grossen konservativen Partei in Deutschland für Europa?
Aber auch in der CDU/ CSU gibt es Personen, die mit der extremen Rechten flirten, etwa der ehemalige Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maassen.
Das stimmt, wobei dieser gerade seinen Wahlkreis verloren hat. Wenn ich mit Politikbeobachter:innen in Deutschland spreche, dann werden ganz verschiedene Namen als mögliche deutsche Sebastian Kurz’ens genannt: Friedrich Merz, Markus Söder, aber auch der Vorsitzende der Jungunion Tilman Kuban.
Auffallend ist, dass es sich dabei ausschliesslich um Männer handelt. Ist der radikalisierte Konservatismus ein männliches Phänomen?
Ja. Der radikalisierte Konservatismus funktioniert über emotionale Anknüpfungspunkte: In einer unsicheren Zeit verkörpern diese Art von Männern Sicherheit, Härte, Erbarmungslosigkeit und emotionale Kälte – Eigenschaften, die eher Männern als Frauen zugeschrieben werden. Natürlich ist aber auch vorstellbar, dass Frauen diese Rolle übernehmen können. Das wird gerade in den USA versucht, wo die republikanische Partei damit beginnt, im Windschatten von Trump junge Frauen zu positionieren. Angetrieben wird der radikalisierte Konservatismus aber von Männern.
Spannend, auch für den Schweizer Kontext, ist Ihre Beobachtung, dass im Zentrum des radikalisierenden Konservatismus eine verrohte Bürgerlichkeit steht, die Eigenverantwortung, Effizienz und Leistungsmaximierung als oberstes Gut behandelt.
Die Idee der rohen Bürgerlichkeit stammt ursprünglich vom deutschen Soziologen Willhelm Heitmeyer. Mit Rohheit beschreibt man Abwertungen und Niedertracht gegenüber anderen Menschen. Rohheit gibt es in allen Gesellschaftsschichten der Bevölkerung, etwa auch in der Arbeiterklasse, aber nur im Bürgertum ist sie gesellschaftlich akzeptiert und kann sich in Thinktanks, Clubs und Vereinen organisieren. Dies, weil das Bürgertum seine autoritäre Haltung hinter schicklichen Umgangsformen verstecken kann.
Aber ist die Forderung nach Eigenverantwortung und Leistungsmaximierung nicht einfach Ausdruck reiner neoliberaler Lehre und hat wenig mit Konservatismus zu tun?
Inwiefern kapitalistische Interessen mitspielen, ist eine sehr interessante Frage. Der radikalisierte Konservatismus bedient sowohl die gesellschaftspolitische Dimension als auch die Klassenkampfebene. Er steht an der Kreuzung zwischen dem Kulturkampf der Neuen Rechten, der sich um Identität und Bewahrung des „Wir“ gegenüber den „Anderen“ dreht, und Kapitalinteressen, die sich gegen den Sozialstaat und Vermögensumverteilung richten. Deswegen werden diese neoliberalen Maximen von Eigenverantwortung dann auch auf Migrant:innen und Arbeitslose angewendet: Diese gelten als „faul“ und sind „Schmarotzer“. Und am besten kommen sie noch aus der Stadt, um anti-urbane Vorurteile zu schüren.
Sie schreiben in Ihrem Buch, das eine zentrale Strategie des radikalisierten Konservatismus das Heraufbeschwören eines vermeintlichen Stadt-Land-Konflikts ist. So solle die Gesellschaft polarisiert werden.
Genau. Der Antiurbanismus hat eine lange Tradition in der völkischen und konservativen Rechten in Österreich. Auf das rote Wien, das seit 1945 von der Sozialdemokratischen Partei regiert wird, lassen sich allerlei Feindbilder der Rechten projizieren: Hier wohnen die Arbeiter:innen, jüdische Personen sowie die Kunstschaffenden. Als Gegenpol wird das erbverwachsene Land beschrieben, das ein traditionsbewusstes und gesundes Leben führt. Erst kürzlich hat sich dies bei der CO2-Reform in Österreich gezeigt. Die Ausgleichszahlungen wurden so ausgestaltet, dass Autofahrer:innen auf dem Land profitieren; Stadtbewohner:innen, die in Wohnungen mit Gasheizungen leben, hingegen nicht. Das hat zwar realpolitisch kaum einen Einfluss – konkret geht es um 33 Euro im Jahr –, bedient jedoch anti-urbane Befindlichkeiten innerhalb der ÖVP-Wählerschaft.
Am Ende ihrer Analyse ziehen Sie auch beunruhigende historische Parallelen. So seien die beschriebenen Entwicklungen nicht neu, sondern ähnelten jenen in der Weimarer Republik.
Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die organisierte Arbeiterschaft zur dominierenden Kraft, in den Städten wurden die Emanzipationsbewegungen von Frauen und Homosexuellen stärker. Für das intellektuelle Bürgertum ging diese Ausweitung der Demokratie zu weit. Bereits vor den Nationalsozialist:innen gab es ein faschistisches, völkisches und anti-demokratisches Spektrum innerhalb des Bürgertums, aus dem die Nazis erst herausgeboren sind. Als Reaktion auf die Ausweitung der Demokratie und des Parlamentarismus gingen Teile des intellektuellen Bürgertums eine Allianz mit der extremen Rechten ein, weil sie dieselben Feindbilder hatten.
Natürlich möchte ich die historische Situation nicht mit heute gleichsetzen: Unsere Institutionen sind viel stabiler als damals, wir haben keinen Krieg hinter uns, auch wenn die Rechte die Fluchtbewegungen 2015 als kriegsähnliches Erlebnis verklärt. Aber die Erkenntnis, dass rechtsextreme Haltungen in einem grossen politischen Spektrum auftauchen und konservative Parteien in Krisenzeiten faschistische Tendenzen aufweisen, lässt sich auf die Gegenwart anwenden.
Ihr Buch endet mit einem Appell an die politische Linke. Sie solle mutiger agieren und eine postkapitalistische Welt sichtbar machen. Die Grünen in Österreich haben sich jetzt aber entschieden, in der Koalition mit der ÖVP zu verbleiben. Nicht gerade Mut einflössend, oder?
Nein (lacht). Ich frage mich, welche Gründe die Grünen zu dieser Entscheidung getrieben haben. Wollen sie unbedingt in der Regierung bleiben oder waren sie zu naiv und wurden von der ÖVP ausmanövriert? Das kann ich nicht beantworten. Der einzig glaubwürdige Bruch der Grünen mit dem System Kurz wäre die Forderung nach dem Rücktritt all jener, gegen die ermittelt wird.
Dabei gäbe es die Möglichkeit, die Zukunft radikal – im positiven Sinne – zu verändern. Wir stehen an einer Weggabelung der Geschichte, die Zukunft ist so offen wie noch nie. Und das muss nicht negativ besetzt sein, sondern ist eine Chance. Wir können unter dem Gesichtspunkt der Klimakrise unser gesellschaftliches Zusammenleben sowie unser Verhältnis zu Bildung und Arbeit neu denken. Dafür braucht es Leute, die gross denken und sich nicht mit politischem Kleinklein zufriedengeben.
Natascha Strobl: Radikalisierter Konservatismus. Suhrkamp-Verlag 2021, 192 Seiten, 23.50 Franken.
Dieses Interview ist zuerst bei der P.S.-Zeitung erschienen. Die P.S.-Zeitung gehört wie Das Lamm zu den verlagsunabhängigen Medien der Schweiz.