Kaker­laken, Drogen, Schläge: Die Schweiz schafft nach Kroa­tien aus

Per Sonder­flug wird die Familie Kuma nach Kroa­tien depor­tiert. Dort erlebt sie Gewalt, es mangelt an Schlaf­plätzen und medi­zi­ni­scher Versor­gung. Doch obwohl Menschen­rechts­or­ga­ni­sa­tionen Alarm schlagen, weist die Schweiz Asyl­su­chende weiterhin zurück. 
In einer Nacht und Nebel Aktion wurde die Familie Kuma von Zürich ins Flüchtlingslager Porin, am Rande von Zagreb, abgeschoben. (Foto: Annika Lutzke)

In Kroa­tien wurde er das erste Mal in seinem Leben verprü­gelt. „Ich hatte meinen jüng­sten Sohn auf den Schul­tern und die Poli­zi­sten haben auf mich einge­schlagen“, erzählt Randi Kuma. Zwei Monate war er mit seiner Familie auf der Flucht, bevor sie zu Fuss die kroa­ti­sche Grenze über­querten. In den Wäldern griffen die Behörden sie auf und steckten sie mit zwanzig anderen Menschen in einen Liefer­wagen ohne Fenster. Mit der Zeit wurde die Luft knapp und Kinder über­gaben sich, erin­nert sich Kuma.

Wohin es ging, wussten sie nicht. Schliess­lich hielten sie bei einem Poli­zei­po­sten. Mütter und Kinder wurden getrennt von den Vätern. Shira, die Frau von Randi Kuma, erzählt, sie habe nach Wasser für die Kinder gefragt, doch es hätte keines gegeben. Im Neben­raum hätten die Männer geschrien, so erzählt Shira Kuma weiter, die wie ihr Mann in Wirk­lich­keit anders heisst. 

Zum Schutz der Familie werden weder ihre Namen noch ihr Herkunfts­land und Aufent­haltsort genannt. Nur so viel: Sie flüch­teten aus Ostafrika, weil Shira Kuma bei einer Orga­ni­sa­tion für Frau­en­rechte arbei­tete und vom Staat immer mehr unter Druck gesetzt wurde. Zuletzt drohte man ihr gar mehr­fach mit dem Tod. Über die Balkan­route kamen sie bis nach Europa. Heute leben sie im deut­schen Sprachraum.

„Die Schweiz macht sich mit den Rück­füh­rungen nach Kroa­tien mitschuldig an der Verlet­zung von Menschenrechten“

Sophie Guig­nard von der Orga­ni­sa­tion Soli­da­rité sans frontières

Unab­hängig über­prüfen lassen sich ihre Erzäh­lungen zu Kroa­tien nicht. Doch sie decken sich mit den Berichten von anderen Geflüch­teten und NGOs. Trotzdem will die Schweiz insge­samt 2’761 Asyl­su­chende nach Kroa­tien zurück­schaffen. Das zeigt die Asyl­sta­ti­stik des Bundes per Ende November 2023. 

Hinter­grund ist das Dublin-Abkommen: Wer bereits in einem anderen Schengen-Land regi­striert ist, kann dorthin zurück­ge­bracht werden. Die Bedin­gung: Das Land hält sich an die geltenden Menschen­rechte und ermög­licht ein faires Asylverfahren.

Zimmer voller Kakerlaken

Familie Kuma wurde am zweiten Tag in Kroa­tien regi­striert. Das heisst: Ihnen wurden die Finger­ab­drücke abge­nommen. Damals hatten sie keine Ahnung, was das bedeu­tete und welche Folgen es haben würde, und niemand hatte es ihnen erklärt, so Shira Kuma. Dann brachte man sie ins Flücht­lings­lager Porin, am Rande der Haupt­stadt Zagreb. Dort wurden sie unter Quaran­täne gestellt und in einen Raum eingesperrt. 

Ihr Sohn habe nicht mehr gegessen, seit der Vater vor seinen Augen geschlagen wurde. Auf der Flucht habe der Sohn sich zudem den Arm gebro­chen. „Ich habe nach einem Arzt gefragt, aber es kam keiner“, sagt Shira Kuma. Als sie nach drei Tagen raus­ge­lassen wurden, ergriffen sie das zweite Mal in ihrem Leben die Flucht. Mit dem Zug fuhren sie nach Italien und von da aus mit einem Bus über die Schweizer Grenze.

Die Zustände im kroa­ti­schen Asyl­sy­stem seien verhee­rend, sagt Sophie Guig­nard von der Orga­ni­sa­tion Soli­da­rité sans fron­tières. Im vergan­genen Juni reiste sie mit einer Schweizer Dele­ga­tion nach Kroa­tien, um sich ein Bild vor Ort zu machen. Die Beob­ach­tungen hielt das Team in einem Bericht fest. Die Kapa­zität in den Aufnah­me­zen­tren reiche nicht aus, die Struk­turen seien teils schlecht unter­halten, es fehle an Betten und Personal, heisst es darin. Beim Eintritt ins Zentrum fänden aus perso­nellen Gründen schon lange keine medi­zi­ni­schen Unter­suche mehr statt und die Bedürf­nisse vulnerabler Personen würden nicht erkannt.

Sophie Guig­nard von Soli­da­rité sans fron­tières kennt die untrag­baren Zustände vor Ort. (Foto: Deborah Bischof)

„Die Zimmer waren voller Kaker­laken, die Matratzen verfleckt und mit Bett­wanzen infi­ziert. Die Leute konsu­mierten Drogen und Alkohol und es gab keinen sicheren Ort, wo Kinder hinkönnen“, erzählt Denise Graf, ehema­lige Flücht­lings­ko­or­di­na­torin von Amnesty Inter­na­tional, die eben­falls vor Ort war. Bei der Einreise komme es zudem immer noch zu Gewalt gegen Geflüch­tete und teils folter­ähn­li­chen Mass­nahmen. „Wir haben eine Familie getroffen, der die Kinder wegge­nommen wurden. Sie wurden in ein Heim gesteckt, wo man nur Kroa­tisch mit ihnen sprach“, so Graf weiter. Die Kinder seien heute nach­weis­lich trau­ma­ti­siert. Andere erzählten, dass sie mehr­fach versucht hätten, in Kroa­tien einzu­reisen, da sie immer wieder illegal über die Grenze zurück­ge­schafft wurden.

„Die Schweiz macht sich mit den Rück­füh­rungen nach Kroa­tien mitschuldig an der Verlet­zung von Menschen­rechten“, sagt Guig­nard. Bereits im Dezember 2022 forderten deshalb rund 5’500 Menschen in einer Peti­tion an den Bundesrat, die Über­stel­lungen nach Kroa­tien per sofort einzu­stellen. Eine Forde­rung, die auch Orga­ni­sa­tionen wie Soli­da­rité sans fron­tières, Amnesty Schweiz oder die Schwei­ze­ri­sche Flücht­lings­hilfe unterstützen.

Viele Personen stehen bei der Peti­ti­ons­über­gabe in Bern soli­da­risch beiein­ander. (Foto: zVg)

Das Staats­se­kre­ta­riat für Migra­tion (SEM) zeigt sich davon bisher unbe­irrt. „Weder das SEM noch das Bundes­ver­wal­tungs­ge­richt (BVGer) gehen von syste­mi­schen Schwach­stellen im kroa­ti­schen Asyl­sy­stem aus“, heisst es auf Anfrage. Dublin-Über­stel­lungen erfolgten vorschrifts­ge­mäss und unter Vorankün­di­gung in die Haupt­stadt Zagreb. Dort stellten die kroa­ti­schen Migra­ti­ons­be­hörden die Betreuung Asyl­su­chender, deren Zugang zum Asyl­ver­fahren und zu den Aufnah­me­ein­rich­tungen sowie zu medi­zi­ni­scher Versor­gung sicher.

Keine Chance vor Gericht

Wer rück­ge­führt werden soll, kann innert fünf Tagen nach dem Entscheid des SEM eine Beschwerde beim Bundes­ver­wal­tungs­ge­richt (BVGer) einrei­chen. Dieses bestä­tigte in einem Refe­renz­ur­teil vom März 2023 zwar, dass „mit sehr hoher Wahr­schein­lich­keit“ davon auszu­gehen sei, dass unzu­läs­sige Rück­füh­rungen sowie gewalt­tä­tige und menschen­un­wür­dige Über­griffe an Migrie­renden durch die kroa­ti­schen Behörden regel­mässig prak­ti­ziert würden. Es kommt jedoch zum Schluss, dass das Asyl­ver­fahren und die Aufnah­me­be­din­gungen keine syste­mi­schen Schwach­stellen aufwiesen und daher eine Über­stel­lung nach Kroa­tien weiterhin zulässig sei.

Das mache es für Asyl­su­chende derzeit fast unmög­lich, sich vor Gericht durch­zu­setzen, weiss Michael Meyer. Er ist Jurist bei AsyLex und vertritt im Team „Dublin“ Asyl­su­chende vor Gericht. „Das Dublin-Abkommen führt dazu, dass die Schweiz die Zustän­dig­keit für Asyl­ver­fahren an Kroa­tien abgeben kann, obwohl es für Geflüch­tete vor Ort keinerlei Struk­turen gibt und ihre Asyl­gründe kein Gehör finden“, sagt Meyer. Allein 2023 fällte das BVGer über 500 Urteile zu Kroa­tien. Bis auf wenige fielen fast alle zuun­gun­sten der Asyl­su­chenden aus.

Für Jurist Michael Meyer ist klar: Die Schweiz windet sich aus ihrer huma­ni­tären Verant­wor­tung. (Foto: Deborah Bischof)

Auch poli­ti­sche Bestre­bungen blieben bisher weit­ge­hend erfolglos. So hatten im Kanton Waadt bereits im Februar 2023 insge­samt 52 Grossrät*innen von linken Parteien, GLP und FDP die Regie­rungs­rätin Isabel Moret verge­bens aufge­for­dert, die Rück­füh­rungen zu stoppen. In Bern wurde letzten Herbst ein Vorstoss mit demselben Ziel abge­lehnt. Einzig in Basel-Stadt wurde ein Postulat knapp ange­nommen. Die Basler Regie­rung muss nun prüfen, ob die Ausschaf­fungen nach Kroa­tien ausge­setzt werden sollen.

Zurück per Sonderflug

Für Betrof­fene haben die Rück­füh­rungen oft gravie­rende Folgen, wie das Beispiel der Familie Kuma zeigt. „An dem Tag, als wir erfahren haben, dass wir zurück nach Kroa­tien müssen, wurde ich krank“, sagt Shira Kuma. Bis heute nehme sie Medi­ka­mente, könne nicht schlafen und sei in psychi­scher Behand­lung. Auch wegen dem, was nach dem Entscheid passierte.

Es geschah an einem Mitt­woch­morgen im Früh­jahr 2023, kurz nachdem der Anwalt der Familie ein inter­na­tio­nales Gesuch gegen die Wegwei­sung der Familie einge­reicht hatte. Um vier Uhr früh stürmten zwanzig Poli­zi­sten das Asyl­zen­trum, in dem sich die Familie aufhielt. Ohne Vorwar­nung. „Wir gehen nach Zagreb zurück“, hätten die Poli­zi­sten geschrien. Die Kinder weinten, der Vater wurde in Hand­schellen gelegt. Dann eskor­tierten sie die Familie zum Flug­hafen Zürich und brachten sie per Sonder­flug nach Zagreb.

Bis Ende Oktober 2023 schaffte die Schweiz vergan­genes Jahr insge­samt 171 Personen nach Kroa­tien zurück. Darunter waren laut SEM auch 16 Fami­lien. Wie viele der rück­ge­führten Personen in psychi­scher Behand­lung seien, erfasse man nicht syste­ma­tisch, so das SEM auf Anfrage. Die Kosten für einen Sonder­flug belaufen sich pro Person auf 13’000 Franken. Dazu kommen Kosten für den Poli­zei­trans­port an den Flug­hafen sowie das Sicher­heits- und medi­zi­ni­sche Personal an Bord.

„Fami­lien werden mit riesigem Poli­zei­auf­gebot in Flug­zeuge gesetzt. So werden alle über einen Kamm geschert und krimi­na­li­siert – auch Kinder –, was ebenso unver­hält­nis­mässig wie gesetz­widrig ist.“

Michael Meyer, Jurist bei AsyLex

Die Schweiz greife bei den Ausschaf­fungen zu extrem harten Mass­nahmen, sagt Guig­nard von Soli­da­rité sans fron­tières. „Wir wissen von einer Person, die aus einer psych­ia­tri­schen Klinik abge­holt und in völlig deso­latem Zustand nach Kroa­tien geschafft wurde. Andere berichten, dass sie vor ihren Kindern verhaftet und wie Krimi­nelle abge­führt wurden.“

Sonder­flüge würden grund­sätz­lich nur als letztes Mittel ange­wandt, schreibt dagegen das SEM. Ausrei­se­pflich­tige Personen hätten zuvor die Gele­gen­heit, auf einem Lini­en­flug ohne poli­zei­liche Beglei­tung auszu­reisen (Voll­zugs­stufe 1) oder dann poli­zei­lich begleitet auf einem Lini­en­flug (Stufe 2 und 3). Rück­füh­rungen mit einem Sonder­flug (Stufe 4) seien somit die ultima ratio, um einen rechts­kräf­tigen Wegwei­sungs­ent­scheid und damit den Willen des Gesetz­ge­bers durch­zu­setzen. Vor der Rück­reise prüfe man die Trans­port­fä­hig­keit der Personen und infor­miere die Behörden im Ziel­land über den Gesund­heits­zu­stand und die Behand­lung. Die Flüge seien zudem medi­zi­nisch begleitet.

Im Fall von Kroa­tien sei eine frei­wil­lige Ausreise auf einem Lini­en­flug jedoch nicht möglich, da das Land ausschliess­lich Rück­nahmen via Sonder­flug erlaube, sagt Meyer von AsyLex. „Das hat zur Folge, dass Fami­lien in Flug­zeuge mit riesigem Poli­zei­auf­gebot gesetzt werden, weil auf denselben Flügen auch zwangs­weise Ausschaf­fungen der höch­sten Voll­zugs­stufe mit gefes­selten Personen vorge­nommen werden. So werden alle über einen Kamm geschert und krimi­na­li­siert – auch Kinder –, was ebenso unver­hält­nis­mässig wie gesetz­widrig ist.“

Eine weitere Flucht

Am Flug­hafen in Zagreb ange­kommen, habe man ihnen ihre Habse­lig­keiten in Abfall­säcken zuge­worfen, berichtet Familie Kuma. Darunter waren auch die Medi­ka­mente von Shira Kuma, sie hatte noch eine Ration für zwei Wochen. Ein Rezept oder einen Arzt­be­richt habe sie nicht erhalten. Dann liessen die Schweizer Poli­zi­sten die Familie auf dem Roll­feld zurück.

Kurz darauf tauchte ein kroa­ti­scher Poli­zist auf und fuhr sie zurück nach Porin. Wieder seien sie nicht medi­zi­nisch betreut worden. Wieder hätten sie keine Infor­ma­tionen erhalten – nur einen Zettel auf Kroa­tisch und ein Zimmer mit zwei Betten zu wenig. Abends habe er auf den Fluren nach einem Arzt und nach Essen gefragt – jedoch ohne Erfolg, so Randi Kuma. 

Zum Wohl ihrer Kinder entschieden sich Randi und Shira Kuma kurz darauf zu ihrer dritten Flucht.


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