In Kroatien wurde er das erste Mal in seinem Leben verprügelt. „Ich hatte meinen jüngsten Sohn auf den Schultern und die Polizisten haben auf mich eingeschlagen“, erzählt Randi Kuma. Zwei Monate war er mit seiner Familie auf der Flucht, bevor sie zu Fuss die kroatische Grenze überquerten. In den Wäldern griffen die Behörden sie auf und steckten sie mit zwanzig anderen Menschen in einen Lieferwagen ohne Fenster. Mit der Zeit wurde die Luft knapp und Kinder übergaben sich, erinnert sich Kuma.
Wohin es ging, wussten sie nicht. Schliesslich hielten sie bei einem Polizeiposten. Mütter und Kinder wurden getrennt von den Vätern. Shira, die Frau von Randi Kuma, erzählt, sie habe nach Wasser für die Kinder gefragt, doch es hätte keines gegeben. Im Nebenraum hätten die Männer geschrien, so erzählt Shira Kuma weiter, die wie ihr Mann in Wirklichkeit anders heisst.
Zum Schutz der Familie werden weder ihre Namen noch ihr Herkunftsland und Aufenthaltsort genannt. Nur so viel: Sie flüchteten aus Ostafrika, weil Shira Kuma bei einer Organisation für Frauenrechte arbeitete und vom Staat immer mehr unter Druck gesetzt wurde. Zuletzt drohte man ihr gar mehrfach mit dem Tod. Über die Balkanroute kamen sie bis nach Europa. Heute leben sie im deutschen Sprachraum.
Unabhängig überprüfen lassen sich ihre Erzählungen zu Kroatien nicht. Doch sie decken sich mit den Berichten von anderen Geflüchteten und NGOs. Trotzdem will die Schweiz insgesamt 2’761 Asylsuchende nach Kroatien zurückschaffen. Das zeigt die Asylstatistik des Bundes per Ende November 2023.
Hintergrund ist das Dublin-Abkommen: Wer bereits in einem anderen Schengen-Land registriert ist, kann dorthin zurückgebracht werden. Die Bedingung: Das Land hält sich an die geltenden Menschenrechte und ermöglicht ein faires Asylverfahren.
Zimmer voller Kakerlaken
Familie Kuma wurde am zweiten Tag in Kroatien registriert. Das heisst: Ihnen wurden die Fingerabdrücke abgenommen. Damals hatten sie keine Ahnung, was das bedeutete und welche Folgen es haben würde, und niemand hatte es ihnen erklärt, so Shira Kuma. Dann brachte man sie ins Flüchtlingslager Porin, am Rande der Hauptstadt Zagreb. Dort wurden sie unter Quarantäne gestellt und in einen Raum eingesperrt.
Ihr Sohn habe nicht mehr gegessen, seit der Vater vor seinen Augen geschlagen wurde. Auf der Flucht habe der Sohn sich zudem den Arm gebrochen. „Ich habe nach einem Arzt gefragt, aber es kam keiner“, sagt Shira Kuma. Als sie nach drei Tagen rausgelassen wurden, ergriffen sie das zweite Mal in ihrem Leben die Flucht. Mit dem Zug fuhren sie nach Italien und von da aus mit einem Bus über die Schweizer Grenze.
Die Zustände im kroatischen Asylsystem seien verheerend, sagt Sophie Guignard von der Organisation Solidarité sans frontières. Im vergangenen Juni reiste sie mit einer Schweizer Delegation nach Kroatien, um sich ein Bild vor Ort zu machen. Die Beobachtungen hielt das Team in einem Bericht fest. Die Kapazität in den Aufnahmezentren reiche nicht aus, die Strukturen seien teils schlecht unterhalten, es fehle an Betten und Personal, heisst es darin. Beim Eintritt ins Zentrum fänden aus personellen Gründen schon lange keine medizinischen Untersuche mehr statt und die Bedürfnisse vulnerabler Personen würden nicht erkannt.
„Die Zimmer waren voller Kakerlaken, die Matratzen verfleckt und mit Bettwanzen infiziert. Die Leute konsumierten Drogen und Alkohol und es gab keinen sicheren Ort, wo Kinder hinkönnen“, erzählt Denise Graf, ehemalige Flüchtlingskoordinatorin von Amnesty International, die ebenfalls vor Ort war. Bei der Einreise komme es zudem immer noch zu Gewalt gegen Geflüchtete und teils folterähnlichen Massnahmen. „Wir haben eine Familie getroffen, der die Kinder weggenommen wurden. Sie wurden in ein Heim gesteckt, wo man nur Kroatisch mit ihnen sprach“, so Graf weiter. Die Kinder seien heute nachweislich traumatisiert. Andere erzählten, dass sie mehrfach versucht hätten, in Kroatien einzureisen, da sie immer wieder illegal über die Grenze zurückgeschafft wurden.
„Die Schweiz macht sich mit den Rückführungen nach Kroatien mitschuldig an der Verletzung von Menschenrechten“, sagt Guignard. Bereits im Dezember 2022 forderten deshalb rund 5’500 Menschen in einer Petition an den Bundesrat, die Überstellungen nach Kroatien per sofort einzustellen. Eine Forderung, die auch Organisationen wie Solidarité sans frontières, Amnesty Schweiz oder die Schweizerische Flüchtlingshilfe unterstützen.
Das Staatssekretariat für Migration (SEM) zeigt sich davon bisher unbeirrt. „Weder das SEM noch das Bundesverwaltungsgericht (BVGer) gehen von systemischen Schwachstellen im kroatischen Asylsystem aus“, heisst es auf Anfrage. Dublin-Überstellungen erfolgten vorschriftsgemäss und unter Vorankündigung in die Hauptstadt Zagreb. Dort stellten die kroatischen Migrationsbehörden die Betreuung Asylsuchender, deren Zugang zum Asylverfahren und zu den Aufnahmeeinrichtungen sowie zu medizinischer Versorgung sicher.
Keine Chance vor Gericht
Wer rückgeführt werden soll, kann innert fünf Tagen nach dem Entscheid des SEM eine Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht (BVGer) einreichen. Dieses bestätigte in einem Referenzurteil vom März 2023 zwar, dass „mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit“ davon auszugehen sei, dass unzulässige Rückführungen sowie gewalttätige und menschenunwürdige Übergriffe an Migrierenden durch die kroatischen Behörden regelmässig praktiziert würden. Es kommt jedoch zum Schluss, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen keine systemischen Schwachstellen aufwiesen und daher eine Überstellung nach Kroatien weiterhin zulässig sei.
Das mache es für Asylsuchende derzeit fast unmöglich, sich vor Gericht durchzusetzen, weiss Michael Meyer. Er ist Jurist bei AsyLex und vertritt im Team „Dublin“ Asylsuchende vor Gericht. „Das Dublin-Abkommen führt dazu, dass die Schweiz die Zuständigkeit für Asylverfahren an Kroatien abgeben kann, obwohl es für Geflüchtete vor Ort keinerlei Strukturen gibt und ihre Asylgründe kein Gehör finden“, sagt Meyer. Allein 2023 fällte das BVGer über 500 Urteile zu Kroatien. Bis auf wenige fielen fast alle zuungunsten der Asylsuchenden aus.
Auch politische Bestrebungen blieben bisher weitgehend erfolglos. So hatten im Kanton Waadt bereits im Februar 2023 insgesamt 52 Grossrät*innen von linken Parteien, GLP und FDP die Regierungsrätin Isabel Moret vergebens aufgefordert, die Rückführungen zu stoppen. In Bern wurde letzten Herbst ein Vorstoss mit demselben Ziel abgelehnt. Einzig in Basel-Stadt wurde ein Postulat knapp angenommen. Die Basler Regierung muss nun prüfen, ob die Ausschaffungen nach Kroatien ausgesetzt werden sollen.
Zurück per Sonderflug
Für Betroffene haben die Rückführungen oft gravierende Folgen, wie das Beispiel der Familie Kuma zeigt. „An dem Tag, als wir erfahren haben, dass wir zurück nach Kroatien müssen, wurde ich krank“, sagt Shira Kuma. Bis heute nehme sie Medikamente, könne nicht schlafen und sei in psychischer Behandlung. Auch wegen dem, was nach dem Entscheid passierte.
Es geschah an einem Mittwochmorgen im Frühjahr 2023, kurz nachdem der Anwalt der Familie ein internationales Gesuch gegen die Wegweisung der Familie eingereicht hatte. Um vier Uhr früh stürmten zwanzig Polizisten das Asylzentrum, in dem sich die Familie aufhielt. Ohne Vorwarnung. „Wir gehen nach Zagreb zurück“, hätten die Polizisten geschrien. Die Kinder weinten, der Vater wurde in Handschellen gelegt. Dann eskortierten sie die Familie zum Flughafen Zürich und brachten sie per Sonderflug nach Zagreb.
Bis Ende Oktober 2023 schaffte die Schweiz vergangenes Jahr insgesamt 171 Personen nach Kroatien zurück. Darunter waren laut SEM auch 16 Familien. Wie viele der rückgeführten Personen in psychischer Behandlung seien, erfasse man nicht systematisch, so das SEM auf Anfrage. Die Kosten für einen Sonderflug belaufen sich pro Person auf 13’000 Franken. Dazu kommen Kosten für den Polizeitransport an den Flughafen sowie das Sicherheits- und medizinische Personal an Bord.
Die Schweiz greife bei den Ausschaffungen zu extrem harten Massnahmen, sagt Guignard von Solidarité sans frontières. „Wir wissen von einer Person, die aus einer psychiatrischen Klinik abgeholt und in völlig desolatem Zustand nach Kroatien geschafft wurde. Andere berichten, dass sie vor ihren Kindern verhaftet und wie Kriminelle abgeführt wurden.“
Sonderflüge würden grundsätzlich nur als letztes Mittel angewandt, schreibt dagegen das SEM. Ausreisepflichtige Personen hätten zuvor die Gelegenheit, auf einem Linienflug ohne polizeiliche Begleitung auszureisen (Vollzugsstufe 1) oder dann polizeilich begleitet auf einem Linienflug (Stufe 2 und 3). Rückführungen mit einem Sonderflug (Stufe 4) seien somit die ultima ratio, um einen rechtskräftigen Wegweisungsentscheid und damit den Willen des Gesetzgebers durchzusetzen. Vor der Rückreise prüfe man die Transportfähigkeit der Personen und informiere die Behörden im Zielland über den Gesundheitszustand und die Behandlung. Die Flüge seien zudem medizinisch begleitet.
Im Fall von Kroatien sei eine freiwillige Ausreise auf einem Linienflug jedoch nicht möglich, da das Land ausschliesslich Rücknahmen via Sonderflug erlaube, sagt Meyer von AsyLex. „Das hat zur Folge, dass Familien in Flugzeuge mit riesigem Polizeiaufgebot gesetzt werden, weil auf denselben Flügen auch zwangsweise Ausschaffungen der höchsten Vollzugsstufe mit gefesselten Personen vorgenommen werden. So werden alle über einen Kamm geschert und kriminalisiert – auch Kinder –, was ebenso unverhältnismässig wie gesetzwidrig ist.“
Eine weitere Flucht
Am Flughafen in Zagreb angekommen, habe man ihnen ihre Habseligkeiten in Abfallsäcken zugeworfen, berichtet Familie Kuma. Darunter waren auch die Medikamente von Shira Kuma, sie hatte noch eine Ration für zwei Wochen. Ein Rezept oder einen Arztbericht habe sie nicht erhalten. Dann liessen die Schweizer Polizisten die Familie auf dem Rollfeld zurück.
Kurz darauf tauchte ein kroatischer Polizist auf und fuhr sie zurück nach Porin. Wieder seien sie nicht medizinisch betreut worden. Wieder hätten sie keine Informationen erhalten – nur einen Zettel auf Kroatisch und ein Zimmer mit zwei Betten zu wenig. Abends habe er auf den Fluren nach einem Arzt und nach Essen gefragt – jedoch ohne Erfolg, so Randi Kuma.
Zum Wohl ihrer Kinder entschieden sich Randi und Shira Kuma kurz darauf zu ihrer dritten Flucht.
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