Vor etwas mehr als drei Jahren bekam ich kurz hintereinander Hodenkrebs und eine Herzmuskelentzündung. Beides hatte nichts mit der Armut zu tun, in der ich aufgewachsen war und die mich die längste Zeit meines Erwachsenenlebens verfolgte. Und dennoch haben beide Erkrankungen mir gezeigt, wie ungleich unsere Gesundheitssysteme sind.
Die Kosten beliefen sich auf ein paar Dutzend Euros, aber sie summierten sich. Krankenhaustage sowie Fahrten mit dem Krankenwagen musste ich anteilig bezahlen. Zudem leistete ich insgesamt 700 Euro Zuzahlungen, um mir die Möglichkeit offenzuhalten, auch nach der Krebsoperation noch Kinder bekommen zu können.
In der Schweiz ist die Lage noch beschissener, hier werden für die Fahrt mit dem Krankenwagen – je nach Versicherungsmodell – nur 500 Franken übernommen.
Die 700 Euro hätten in Deutschland eigentlich bereits seit 2019 von der Krankenkasse übernommen werden müssen, doch es griff ein Trick der Herrschenden: Weil sich die zuständigen Kommissionen noch ein paar Jahre um den schon verabschiedeten, aber offenbar immer wieder korrekturbedürftigen Gesetzestext stritten, wurde die Übernahme meiner Kosten abgelehnt – trotz Gesetz, das eigentlich das Gegenteil besagte. Hätte ich die 700 Euro damals nicht gehabt, könnte ich jetzt vielleicht keine Kinder mehr bekommen.
„David gegen Goliath“ ist hier Programm. Olivier David
gegen die Goliaths dieser Welt. Anstatt nach unten wird nach oben getreten. Es geht um die Lage und den Facettenreichtum der unteren Klasse. Die Kolumne dient als Ort, um Aspekte der Armut, Prekarität und Gegenkultur zu reflektieren, zu besprechen, einzuordnen. „David gegen Goliath“ ist der Versuch eines Schreibens mit Klassenstandpunkt, damit aus der Klasse an sich eine Klasse für sich wird. Die Kolumne erscheint ebenfalls als Newsletter.
In der Schweiz ist die Lage noch beschissener, hier werden für die Fahrt mit dem Krankenwagen – je nach Versicherungsmodell – nur 500 Franken übernommen. Menschen, die in der Grundversicherung sind und einen Unfall haben, müssen den Krankenwagen sogar oft komplett selbst zahlen.
Arme Menschen leben weniger lang
Selbst wenn die Versicherung Kosten übernimmt, müssen Patient*innen sie oft erst einmal auslegen können, wie ich ebenfalls am eigenen Leib erfahren musste. Erst neulich wurden mir im Mund Kronen eingesetzt. Die Krankenkasse bewilligte Leistungen in Höhe von etwa 500 Euro. Meine Zuzahlungen beliefen sich auf mehr als 1’800 Euro.
Weil ich finanziell seit rund zwei Jahren etwas oberhalb der Armutsgrenze lebe, habe ich, nachdem im vergangenen Jahr ein Teil meines Backenzahnes abgebrochen war, eine Zahnzusatzversicherung abgeschlossen. Sie wird – hoffentlich – den Löwenanteil meiner Zuzahlungen übernehmen. Das aber auch erst, nachdem ich mir 1’800 Euro privat geliehen habe und ein kompliziertes Verfahren durchlaufen habe, um mein Geld wiederzubekommen.
Ich verfüge immerhin über die Mittel und Wege, mir private Versicherungen zu leisten, die mich, meinen Körper und meine Psyche zumindest grundsätzlich absichern. Und dennoch zeigt schon dieser Einblick, dass etwas grundsätzlich faul ist an der Art, wie unsere Gesellschaften mit Krankheit umgehen.
In Deutschland erreicht jeder dritte armutsbetroffene Mann seinen Renteneintritt nicht.
Wenn ich (unter anderem in dieser Kolumne) über Armut als Unterdrückung schreibe, dann gehört auch die viel geringere Lebenserwartung von Menschen aus der Unterklasse zu den Mechanismen der Unterdrückung und der Beherrschung.
In Deutschland erreicht jeder dritte armutsbetroffene Mann seinen Renteneintritt nicht. Parallel dazu diskutieren Politiker*innen über einen Renteneintritt mit 67 Jahren. Verschwiegen wird von diesen Leuten, dass ihre Politik die Leute umbringt, die mit ihrer Hände Arbeit den Wohlstand derjenigen erwirtschaften, die ihre Rente noch erleben werden.
Der Grund, warum diese Fakten nicht zu Aufständen gegen die Knechtschaft der Armut führen, liegt unter anderem im sozialen Rückzug. Menschen aus der Unterklasse machen die Erfahrung, dass ihre Stimme nicht zählt und sie keinen Einfluss auf die Welt nehmen können – die Welt aber Einfluss auf sie nimmt. Dieser Rückzug folgt der Armutserfahrung in vielen Fällen auf den Fuss. Er ist eine direkte Auswirkung von Armut und Ungleichheit. Dieser Rückzug ist ein ganz konkreter: Er äussert sich auch darin, dass Gesundheitsleistungen und finanzielle Unterstützung von Betroffenen nicht abgerufen werden.
Aber wer ruft eigentlich Gesundheitsleistungen ab? Spoiler: Es sind natürlich die Besserverdienenden. So gehen zum Beispiel alleinerziehende Mütter, eine der Personengruppen mit der höchsten Armutsgefährdung, seltener zu Vorsorgeuntersuchungen (22 Prozent) als Mütter in Partnerschaften (29 Prozent).
Besonders beschissen läuft es für Menschen ohne rechtlichen Aufenthaltsstatus. Da die Ämter und Behörden eine Meldepflicht haben, fragen Geflüchtete ohne rechtlichen Aufenthaltsstatus nicht oder nur in grösster Notlage Gesundheitsleistungen ab.
Ungleiche Behandlung: Die 3‑Klassen-Medizin
In den meisten westlichen Ländern können wir nicht einfach von einer Klassenmedizin sprechen, so wie es unter sich als kritisch verstehenden Menschen üblich ist, denn das würde Ungerechtigkeiten verschleiern. Wir müssen präziser von einer 3‑Klassen-Medizin ausgehen, in der es neben Privatversicherten und gesetzlich Versicherten auch jene gibt, die entweder kein Geld für die Zuzahlungen haben oder Gesundheitsleistungen wegen anderer Hürden nicht abfragen können.
Menschen aus der Unterklasse müssen also aus ihrem eigenen Portemonnaie Zuzahlungen für lebensnotwendige Gesundheitsleistungen aufbringen, die weit über das hinausgehen, was sie sich leisten können. Welches Signal sendet dieser Umstand an die Menschen aus der Unterklasse? Etwa: Du bist ein wichtiger Teil der Gesellschaft? Oder: Wir respektieren dich?
In Deutschland ist Krankheit bereits der dritthäufigste Grund für Überschuldung.
Eins ist sicher, wer jemals die Erfahrung von Armut in Kombination mit Krankheit gemacht hat, der weiss, dass die Würde des Menschen nur formal geschützt wird. In Deutschland ist Krankheit bereits der dritthäufigste Grund für Überschuldung. Mit dem Geld, dass ich mir für meine Zahnbehandlung privat leihen muss, bin ich nun ein Mensch aus dieser Statistik. Ein Gesundheitssystem, das wirklich für alle offen steht. In dem die Gleichheit nicht nur vor dem Gesetz festgeschrieben ist, sondern auch wirklich gelebt wird, ist meilenweit entfernt.
Vielleicht müssen wir sogar noch weiter gehen und sagen: In einer Klassengesellschaft haben wir von kapitalistisch organisierten Gesellschaften und ihren Systemen gar nichts anderes zu erwarten als die Reproduktion körperlicher und psychischer Krankheiten. Es braucht eben die Marx’sche Industrielle Reservearmee, also Erwerbslose, die den Lohn der Niedriglöhner drücken und auf ihren Einsatz warten.
Kapitalismus < Demokratie
Was tun angesichts dieses Zustands der Welt? Ich verfüge nicht über genügend Wissen, um zu formulieren, wie ein Gesundheitssystem bedarfsgerecht reformiert werden kann, diese Analyse müssen andere leisten – und sie tun es bereits.
Was dieser Text jedoch versucht, ist es, jenen die Augen zu öffnen, die glauben, dass wir in einer Welt leben, in der nur ein paar Ungleichheiten nivelliert werden müssen bis zur gerechten Gesellschaft. Es reicht nicht, auf parlamentarischem Weg an Stellschrauben zu drehen, um das Gesundheitssystem zu verbessern, wenngleich ein besserer Zugang zu medizinischer Versorgung für manche Menschen ein existenzieller, ja lebensverlängernder Schritt wäre.
Es sind die Arbeitsbedingungen im Kapitalismus, die den Bauarbeitern ihre Kniescheiben zertrümmern, die der Pflegerin die Bandscheibe zerschiessen.
Es braucht das Verständnis, dass die Menschen am unteren Ende der Gesellschaft viel wesentlicher vom Kapitalismus unterjocht werden, als dass sie von unseren eingeführten demokratischen Grundrechten profitieren. Es sind die Arbeitsbedingungen im Kapitalismus, die den Bauarbeitern ihre Kniescheiben zertrümmern, die der Pflegerin die Bandscheibe zerschiessen.
Der Kampf für eine bessere Gesundheitsvorsorge muss notwendigerweise mit einer fundamentalen antikapitalistischen Systemkritik zusammengebracht werden, sonst werden die Kämpfe für bessere medizinische Zugänge für alle auf der Ebene der Symptombekämpfung stehen bleiben.
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