Am Abend des 19. Februar 2020, ich schaue gerade irgendetwas auf meinem Laptop, ruft mir meine Freundin zu, dass es einen Anschlag gab. „Wo?“, frage ich. „In Hanau“, antwortet sie. Hanau, der Ort, wo einer meiner Schulfreunde hingezogen ist. Ich google und lese, dass es mehrere Tote gibt, die Situation ist noch unklar.
Ich lese aber auch: „Shishabar“, ich lese: „Kiosk“, ich lese: „Straße. Orte marginalisierten Lebens.“ Noch am selben Abend ist die Rede von migrantischen Opfern. In mir steigt jene irrationale Panik auf, wie sie wohl jede*r spürt, der*die Menschen kennt, auf die diese diffusen Beschreibungen der Opfer zutreffen. Ich kontaktiere meinen alten Freund, der halb Deutscher, halb Türke ist, mit dem ich schon in Hanau an Orten rumgehangen habe, die sich kaum von den Tatorten unterscheiden. Nach ein paar Stunden erfahre ich, dass er erschrocken ist, aber in Sicherheit.
„David gegen Goliath“ ist hier Programm. Olivier David
gegen die Goliaths dieser Welt. Anstatt nach unten wird nach oben getreten. Es geht um die Lage und den Facettenreichtum der unteren Klasse. Die Kolumne dient als Ort, um Aspekte der Armut, Prekarität und Gegenkultur zu reflektieren, zu besprechen, einzuordnen. „David gegen Goliath“ ist der Versuch eines Schreibens mit Klassenstandpunkt, damit aus der Klasse an sich eine Klasse für sich wird. Die Kolumne erscheint ebenfalls als Newsletter.
Ich erinnere mich an einen Anschlag ein paar Jahre zuvor, am 13. November 2015. Mehrere islamistische Attentäter töteten in Paris in einem Club und in Bars und Restaurants sowie am Stade de France insgesamt 130 Menschen. Mit einer Truppe Schauspieler*innen bin ich in Heidelberg. Gerade hat unsere Komödie (ich spielte zu dem Zeitpunkt noch Theater) den Publikumspreis der Heidelberger Theatertage gewonnen.
Wir feierten den Preis und uns in einer Bar, bis meine damalige Freundin anruft und in den Hörer weint. In Paris würde geschossen, sagte sie, genauer: Am Place de la Republique, wo ein Freund von ihr wohnte, wo wir schon getanzt hatten, wo sie viele Menschen kannte, die sich dort an warmen Abenden trafen. In der Bar ging die Musik aus, der Fernseher zeigte erste Aufnahmen, die Rede war von Dutzenden Toten. Später erfahren wir erst die ganze Dimension des Terrors, von dem Paris an jenem Abend heimgesucht wurde. Der Freund von ihr und ihre Bekannten waren nicht unter den Opfern.
Paris 2015 und Hanau 2020
Zwei Anschläge, zweimal vernichtender Hass – und doch: Alles Weitere lässt sich nur schwer vergleichen. Wer waren die Opfer?
In Paris waren es vor allem weisse Feiernde, die im Nachtclub Bataclan, während eines Konzertes der Band Eagles of Death Metal erschossen wurden, am Place de la Republique sind es – wieder vor allem – gut verdienende Weisse, die in gehobenen Restaurants und Bars beieinander sassen, die sprichwörtliche Mitte der Gesellschaft.
In Hanau ist die Situation eine andere. Dort sind Menschen betroffen, die in ihrem Alltag auf gleich mehrfache Art Ausschluss erfahren und die dort aufgesucht wurden, wo diese Ausschlusserfahrungen normalerweise kaum eine Rolle spielen. Die Autorin Nadire Biskin schreibt: „Die Tatorte des rassistischen Anschlags in Hanau waren safer spaces. Solche Shishabars, Bars und Kioske sind safer, weil die Türpolitik einen aufgrund von Identitätsmerkmalen wie beispielsweise race, class und gender Samstagabends nicht ausschließt. Hier wird man nicht abgewiesen, nur weil man kein weißes Mittelschichtskind ist.“
Es ist kein gutes Gefühl, Serpil Temiz Unvar, der Mutter des getöteten Ferhat Unvar zu widersprechen, die sagt: „Der Anschlag in Hanau galt nicht nur meinem Sohn, sondern allen Migrant*innen“. Doch hier zu korrigieren ist wichtig, denn dieser Anschlag galt genauso wenig allen Migrant*innen wie der Terroranschlag 2016 in München, bei dem ein junger rassistischer Attentäter neun Menschen ermordete. Der Anschlag galt armen Migrant*innen, Migrant*innen aus der Arbeiterklasse. Auch die Opfer des NSU waren sogenannte einfache Leute, Blumen- und Gemüsehändler, Dönerverkäufer und Schneider.
Die Frage, wer denn die Opfer waren, führt zur Frage nach dem „wo“, den Tatorten. Sie verraten, worüber – abgesehen von Ausnahmen – lieber geschwiegen wird: die vertikale Dimension von Rassismus. In München war es 2016 eine McDonalds-Filiale, an der der Täter zuschlug. Im Falle von Hanau waren es eine Shishabar und ein Kiosk. Orte prekären, oft migrantisch geprägten Lebens.
Das „wo“ führt einen wiederum zurück zu den Opfern: Gemeint waren nicht der migrantische Chefarzt, nicht der Firmenchef, nicht die Politikerin mit anderen Wurzeln, wie es immer wieder so dumpfbackig heisst. Gemeint waren prekär lebende Migrant*innen, Menschen aus der Unterklasse – was für viele Menschen ein und dasselbe bedeutet.
Rassismus in einer Klassengesellschaft fällt nicht einfach vom Himmel oder wird einfach so von Menschen als Herrschaftsinstrument benutzt, es ist ein Werkzeug im Klassenkampf, das durch die Zuschreibung von Eigenschaften Ausschlüsse produziert, um den Zugang zu Ressourcen zu verkleinern. Denn wenn mehr Menschen ihren Teil vom Kuchen abhaben wollen, wird der gesamte Kuchen kleiner. Rassistischer Terror erfüllt hier die tödliche Funktion des Ausschlusses. Wenn der Anschlag in Hanau also in Erinnerung bleiben sollte, dann als Chiffre dafür, dass Rassismus zum Ziel hat, diese Art von Ausschlüssen im Verteilungskampf zu produzieren.
Am Ende des Konzepts des rassistischen Kampfes stehen auch wohlhabende Politiker*innen, Künstler*innen, wohlhabende Migrant*innen auf den Hasslisten. Doch das Gros der Menschen, die rassistischen Terror erleben, kommt aus der unteren Klasse.
Kein Angriff auf uns alle
Man kann die Frage, wie wir erinnern, nicht trennen von der Frage, wen wir erinnern. Seit beinahe drei Jahren fordern die Hinterbliebenen der Opfer vom 19. Februar in Hanau ein würdiges Gedenken ein. Sie haben Vorschläge eingebracht, sie haben Forderungen gestellt. Es wurde ein Wettbewerb für ein Denkmal ins Leben gerufen. Doch drei Jahre nach dem Anschlag gibt es immer noch kein solches Denkmal, an dem erinnert wird. Die Hinterbliebenen und Überlebenden des Anschlags wollen ein Denkmal auf dem Marktplatz von Hanau errichten lassen, gleich neben jenem für die Gebrüder Grimm, den wohl berühmtesten Bürgern Hanaus. Das passt nicht allen.
Offiziellen und einigen Bürger*innen von Hanau, so heisst es, ist der Rathausplatz für ein Denkmal zu prominent. Was sie damit meinen, ohne es sagen zu wollen: Anders als in Paris oder beim Anschlag auf dem Breitscheidplatz wird beim Anschlag in Hanau eben nicht der Mitte der Gesellschaft gedacht, und darum soll auch nicht im Herzen Hanaus getrauert werden. Es wird jener gedacht, die an den Rand gedrängt überleben, solange man sie lässt, solange nicht ein rassistischer Attentäter kommt und sie abknallt. Entsprechend soll doch bitte auch dort gedacht werden, wo sie gelebt haben – am Rand.
Diese soziale Dimension nicht zu benennen bedeutet im schlimmsten Fall, den Rassismus und mit ihm die Abwertung von Menschen als „Angriff auf uns alle“ zu verklären, wie es Bundespräsident Steinmeier tat. Im besten Fall bedeutet es, nicht aufgeklärt zu sein über die Funktion von Rassismus in einer Klassengesellschaft. Der erste Fall muss für alle Zeiten bekämpft, das Eintreten des zweiten Falls solidarisch geradegerückt werden – aber niemals darf darüber geschwiegen werden.
Im Sammelband „Die Diversität der Ausbeutung – Zur Kritik des herrschenden Antirassismus“ setzt die Autorin Bafta Sarbo die zwei Phänomene Rassismus und Krise in Bezug zueinander. Über den Rückzug des Sozialstaates und den parallel grassierenden Rassismus im Deutschland der 1980er-Jahre schreibt sie: „In dieser Phase popularisierte sich die berühmte rechte Parole ‚Deutschland den Deutschen, Ausländer raus‘. Dabei geht es vor allem darum, durch rassistische Ausschlüsse einen Konkurrenzvorteil in Bezug auf (vermeintlich) begrenzte Ressourcen zu erlangen.“ Das ist die Funktion von Rassismus und ihre extremste Ausprägung haben Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov am eigenen Leib erfahren.
Wenn wir die Erinnerungskultur als Ressource verstehen, dann wird klar, dass die Hinterbliebenen in Hanau vergeblich auf ein prominentes Denkmal hoffen müssen. Drei Jahre nach dem Anschlag ist immer noch keins in Sicht. Derweil gibt es in Frankreich seit dem Jahr 2015 eine Anerkennungsmedaille für die Opfer des Terrorismus. Am Place de la Republique ist eine „Eiche der Erinnerungen“ gepflanzt worden.
An eines der Opfer des Anschlags von Hanau allerdings wird erinnert. Es ist Vili Viorel Păun, nach ihm wurde die Vili-Viorel-Păun-Straße benannt – in Singureni, seinem Heimatdorf in Rumänien.
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