Vor einigen Monaten rief mich eine sehr gute Freundin völlig aufgelöst an. Nennen wir sie Stella. Sie erzählte mir mit zittriger Stimme, dass ihr gerade beim Sex etwas widerfahren sei, das sie nicht gewollt hatte. In den frühen Morgenstunden hat sie sich mit einem Bekannten getroffen, er auf dem Weg nach Hause vom Ausgang, sie gemütlich im Bett. Ob er auf einen Kaffee vorbeikommen könne – ihr war klar, es geht um Sex.
Die beiden hätten Spass gehabt, bis zu dem Punkt, als er kam und sie merkte, dass er kein Kondom mehr anhatte. Sie hätten sich darauf geeinigt, es war absolute Voraussetzung für sie, die keine hormonellen Verhütungsmittel nimmt und ganz abgesehen davon einen gewissen Ekel vor Ejakulat verspürt. Ihm war das wohl egal, ist halt geiler so. Also hat er das Kondom ohne ihr Einverständnis ausgezogen.
Angst vor einer sexuell übertragbaren Krankheit, einer Schwangerschaft und vor allem aber Ekel begleiteten meine Freundin daraufhin wochenlang. Sie sagte, dass sie sich, auch wenn sie dem Sex zugestimmt hat, im Nachhinein missbraucht und – das Wort hat sie so verwendet – beschmutzt gefühlt hat. Und sie schämte sich sehr. Sie schämte sich, darüber zu sprechen und sie schämte sich, daran zu denken. Sie schämte sich anfangs sogar, ihm die Schuld für den Vorfall zu geben und versuchte sich einzureden, dass alles halb so wild sei: die Angst und der Ekel und vor allem der Vertrauensbruch.
Als sie nach einigen Tagen den Mut fand, den Mann auf das Geschehene anzusprechen, reagierte er zuerst perplex und dann verständnislos. Es sei ihm nicht bewusst gewesen, dass sie das grad so schlimm finde, lautete seine Ausrede. Stella erwägt keine Anzeige. Den Typen meidet sie seither.
Was Stella widerfahren ist, nennt sich Stealthing. Diesen Donnerstag urteilte das Zürcher Obergericht zum ersten Mal über einen solchen Fall; das Urteil zeigt, wie weit das Schweizer Sexualstrafrecht von der Realität entfernt ist.
Moralisch verwerflich, juristisch okay
Der mittlerweile 21-jährige Student wurde vor dem Zürcher Obergericht in zweiter Instanz erneut vom Vorwurf der Schändung freigesprochen. Dass der Mann beim Sex mit seinem „Tinder-Date“, einer damals 18-Jährigen aus dem Zürcher Oberland, das Kondom ohne deren Einverständnis entfernt hatte, sei gemäss den Richtern zwar moralisch höchst verwerflich, aber das Vergehen fällt nicht unter den Strafbestand der Vergewaltigung oder Schändung, sondern sei lediglich „ein Unfall infolge fehlender Verständigung“. Unfälle passieren eben.
Stella schrieb mir kurz nach der Urteilsverkündung sofort eine Nachricht, als der Fall in den Medien die grosse Runde machte. Das Urteil rief ihr das Geschehene wieder in Erinnerung – und zeigte ihr auf, dass es vielleicht die richtige Entscheidung gewesen war, nicht zu klagen. Nicht wegen dem Richterspruch, sondern den Kommentarspalten. Wie einige Kommentatoren auf den Fall reagiert haben, das hätte sie sich nicht antun wollen. Sowas passiere, gehöre dazu. „Hab dich nicht so, Mädchen!“
Im Januar 2017 wurde der erste Stealthing-Fall der Schweiz verhandelt, wobei ein Lausanner Strafgericht einen 47-Jährigen in erster Instanz wegen Vergewaltigung verurteilte, das Waadtländer Kantonsgericht das Delikt in zweiter Instanz aber als Schändung qualifizierte. Anfang dieses Jahres sprach ein Baselbieter Strafgericht einen 35-Jährigen, der beim Geschlechtsverkehr mit einer Escort-Dame das Kondom heimlich entfernt hatte, dagegen frei. Das Gericht sah den Tatbestand der Schändung nicht erfüllt.
Wie weit die Tatsache, dass die Frau im Sexgewerbe arbeitet, das Urteil negativ beeinflusst hat, bleibt offen.
Nur eine List
Nur schon der Begriff ist stossend und irreführend. „Stealthing“ vom Englischen „stealth“, was Heimlichkeit oder List bedeutet. Das klingt nach Lausbubenstreich und Kavaliersdelikt, nach „bitz Spass muss sein“ und „hab dich nich so“. Im besten Fall klingt Stealthing eben auch nach einem „Unfall infolge fehlender Verständigung“, nach etwas, was eben passieren kann. Aber Stealthing ist ein harter Grenzübertritt und eine Verletzung der sexuellen Autonomie. Stealthing ist ein Übergriff, der im äussersten Fall mit einer ungewollten Schwangerschaft oder mit der Ansteckung einer sexuell übertragbaren Krankheit enden kann. Die Konsequenzen trägt die von Stealthing betroffene Frau allein.
Beim Stealthing geht es, genau wie bei den meisten Formen und Ausprägungen sexueller Gewalt, um Macht. Darum, etwas aus purem Eigennutz tun zu können, die persönliche Erregung ohne Rücksicht auf das Gegenüber steigern zu können, ohne dass sie das merkt und sodass sie sich keiner Folgen bewusst sein kann. Es ist ein Privileg des Penisträgers. Doch sollte sich keine Frau jemals Gedanken darüber machen müssen, was gegebenenfalls gerade hinter ihrem Rücken passiert. Sex basiert auf Vertrauen – und auch käuflicher Sex beinhaltet Regeln.
Doch ein Grenzübertritt beim Sex, hat man dem Sex erst einmal zugestimmt, ist laut Schweizer Gesetz keine Straftat. Schuld sind die juristischen Auslegungen der jeweiligen Begrifflichkeiten. Stealthing ist weder eine Vergewaltigung (die Gewalteinwirkung fehlt) noch Missbrauch oder Schändung (das Opfer wäre ja eigentlich widerstandsfähig – wenn es sich der Situation denn bewusst sei).
Das Urteil des Zürcher Obergerichts ist ein Richtungsentscheid: Stealthing ist keine Straftat. Hat Frau einmal Ja gesagt, macht Mann beim Sex, was Mann will. Das sei zwar moralisch verwerflich, aber moralisch verwerflich ist vieles, was wir tun und lassen. Der Unterschied zwischen moralisch verwerflich und juristisch belangbar sollte jedoch nicht bestehen, wenn eine andere Person zu Schaden kommt. Im geltenden Schweizer Sexualstrafrecht ist das aber der Fall. Also bleibt Stealthing eben Stealthing: eine juristisch nicht belangbare List.
Es bleibt nun zu hoffen, dass trotz negativem Richterspruch mehr Frauen den Mut finden, vergleichbare Fälle vor Gericht zu ziehen. Nur wenn genug Druck entsteht, wird sich möglicherweise endlich etwas ändern – und zwar nicht nur im Moralempfinden, sondern auch im Gesetz. Wer Stealthing begeht, ist eben nicht nur ein rücksichtsloser Lustmolch: Er gehört juristisch bestraft.
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