Das Lamm: Rosario Hasperué, Sie sind die Verantwortliche für die Bekämpfung der Kinderarbeit innerhalb der Argentinischen Zentralgewerkschaft CTA – Autónoma. Wie sieht die derzeitige Lage aus?
Rosario Hasperué: In Argentinien arbeitet ungefähr eines von zehn Kindern. Gehen wir aber aufs Land, sind es doppelt so viele. Argentinien ist bis heute eine grosse Exporteurin landwirtschaftlicher Güter und genau hier haben wir den grössten Anteil an Kinderarbeit. Direkt auf den Feldern. Gerade auf dem Land herrschen menschenunwürdige Arbeitsbedingungen. Mit Glück wird ein Tagelohn ausgezahlt, aber viele Menschen arbeiten immer noch für Nahrungsmittel und Waren.
Beispielsweise in der Produktion von Mate, unserem Nationalgetränk, werden die Arbeiter:innen zum Teil mit Lebensmittelpaketen bezahlt. Dort findet am meisten Kinderarbeit statt. Neben der Landwirtschaft sind es die Randzonen der Städte, wo viel Kinderarbeit vorherrscht. In den Bereichen, wo die Stadt auf das Land trifft und Kinder etwa in der Herstellung von Ziegeln arbeiten. Wenn diese Kinder zur Schule gehen, stehen sie zum Teil um fünf Uhr morgens auf, um arbeiten zu gehen. Danach kommen sie müde und mit verschmutzten Händen in den Unterricht.
Wieso gibt es Kinderarbeit?
Dies hat häufig damit zu tun, dass die Eltern keine Arbeit haben oder der Lohn nicht ausreicht. Diese Kinder haben schlichtweg keine andere Option, als zu arbeiten. Es gibt auch viele Fälle, bei denen die Eltern keinen anderen Ort haben, um ihre Kinder zu hüten. Also werden sie zur Arbeit mitgenommen und helfen dort aus. In manchen Bereichen der Gesellschaft gehört Kinderarbeit leider zum Normalzustand. Zudem gibt es Unternehmer:innen, die diese Situation ausnutzen und dadurch auf sehr billige Arbeitskraft zurückgreifen können.
Wie hat sich diese Situation während der Pandemie entwickelt? In Argentinien gab es nun fast über ein Jahr keinen Präsenzunterricht. Welche Auswirkungen hat das für die Kinder?
Die Pandemie hat alle Faktoren, die Kinderarbeit fördern, gravierend verstärkt. Die Obdachlosigkeit ist gestiegen, die Anzahl an Schulabgänger:innen ist gestiegen und damit auch die Anzahl an Kindern, die arbeiten müssen. Beim Onlineunterricht wurden Millionen Kinder ohne Internetzugang nicht berücksichtigt. Dadurch ist der Bildungsunterschied zwischen den sozialen Klassen enorm gewachsen – zwischen privaten und öffentlichen Schulen, aber vor allem auch zwischen jenen, die Computer und Internet haben, und jenen, die keinen Zugang zu solchen Medien haben.
Argentinien erlebt durch die Pandemie eine schwere Wirtschaftskrise. In einem solchen Moment der zunehmenden Arbeits- und Obdachlosigkeit ist es wichtig, dass die Kinder auf eine Schule gehen. Hier werden Lehrpersonen auf Missbrauch, Gewalt oder Mangelernährung aufmerksam.
Wie wirkt sich das Zuhausesein auf die Kinder aus, wenn viele Eltern weiterhin zur Arbeit gehen müssen?
Die Pandemie hat eine Krise im Beaufsichtigen von Kindern ausgelöst. Viele Kinder wurden mit dem Hüten ihrer kleineren Geschwister allein gelassen. Es kommt zudem vor, dass Mädchen im Alter von 13, 14 Jahren angestellt werden, um ihre Nachbarskinder zu hüten. Gerade in diesem Bereich hat die Kinderarbeit sehr zugenommen.
Sie sind Feministin, welchen Beitrag kann eine feministische Perspektive in der Analyse und Bekämpfung von Kinderarbeit leisten?
Allgemein kümmern sich Frauen um den Haushalt und sind verantwortlich für das Hüten der Kinder. Gleichzeitig haben Frauen die grössten Schwierigkeiten, eine gute Lohnarbeit zu finden und verdienen meistens weniger. In der Pandemie sind Frauen besonders stark von der Arbeitslosigkeit und einem gleichzeitigen Übermass an Arbeit betroffen, da sie sich um die Kinder kümmern müssen.
Die Krise ist nicht nur eine Wirtschaftskrise, sondern auch eine Care-Krise. Wir müssen unbedingt das aktuelle kapitalistische System des Kinderhütens überdenken. Es braucht ein neues System, dass die Männer und Frauen gleichmässig am Hüten der Kinder beteiligt. Auch die Care-Berufe, die meistens von Frauen und zu sehr niedrigen Löhnen ausgeführt werden, müssen von beiden Geschlechtern gleichmässig getragen werden. Konkrete und unmittelbare Massnahmen wären eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen und ein Ausbau von Krippenplätzen. Eine feministische Wirtschaftsperspektive zeigt uns die Notwendigkeit der Lösung von manchen gesellschaftlichen Problemen auf, wie etwa der Kinderarbeit. Kinder sollten nicht dazu gezwungen werden, zu arbeiten oder Verantwortung zu übernehmen, die ihre menschliche Würde verletzt. Sie haben ein Recht darauf, gehütet zu werden, und darum muss sich die Welt der Erwachsenen kümmern.
Was macht die Regierung, um Kinderarbeit zu bekämpfen?
Der argentinische Staat hat Ende der 1990er- und Anfang der 2000er-Jahre alle internationalen Konventionen in die nationale Gesetzgebung integriert. Für die konkrete Umsetzung ist die Nationale Kommission zur Verhinderung und Ausrottung der Kinderarbeit (CONAETI) zuständig. Diese arbeitet über regionale Kommissionen, in denen Gewerkschaften, NGOs, Arbeitgeber:innen und die Regierung sitzen. Es gibt regelmässige Arbeitskontrollen, bei denen zum Teil auch Betriebe geschlossen wurden. Zudem wurde nach heftigen politischen Auseinandersetzungen ein Fördergeld pro Kind eingeführt, welches den Lohn durch die Kinder ersetzen und so die Kinder von ihrer Arbeit befreien soll.
Gibt es in Argentinien NGOs, die sich mit dem Thema befassen? Wie gehen sie die Problematik an?
Ja, es gibt verschiedene internationale Organisationen, die sich in Argentinien mit dem Thema befassen. Sie fertigen meistens Studien zu einzelnen Punkten an. Ihr Ansatz ist häufig sehr einseitig. Sie beschäftigen sich mit der Kinderarbeit, ohne die Faktoren zu betrachten, die sie produzieren. Die derzeitige Armut hängt mit dem Kolonialismus der letzten Jahrhunderte, einem globalisierten neoliberalen Finanz- und Handelssystem sowie der Auflegung von Wirtschaftsmodellen zusammen, die einzig einer kleinen Minderheit im eigenen Land und ausländischen Interessen dienen.
Wie beurteilen Sie die Politik vonseiten des Staates und der NGOs?
Sie ist unzureichend. Es bräuchte sowohl auf internationaler als auch nationaler Ebene einen deutlich grösseren Aufwand. Da wir der Überzeugung sind, dass Kinderarbeit häufig mit schlechten Arbeitsverhältnissen der Eltern zu tun hat, muss dort angesetzt werden. Aber genau hier wird es schwierig. Fast die Hälfte der Bevölkerung in Argentinien lebt unter der Armutsgrenze und bei Kindern steigt die Zahl auf 68 Prozent. Es geht nicht nur darum, einzelne Gesetze umzusetzen. Es braucht makroökonomische Ansätze.
Was unternehmen die Gewerkschaften, um die Lage der Kinder konkret zu verbessern?
Wir haben mit allen drei grossen Gewerkschaftsverbänden ein Bündnis gegründet, welches zum Ziel hat, unsere Arbeit in diesem Bereich besser zu koordinieren und zu stärken. Diesen Monat startet der erste Kurs, der Genoss:innen im Bereich der Schulbildung, Landarbeit und Fabriken ausbilden soll. Wir sind sehr glücklich über diese Möglichkeit. Oft ist es schwierig, untereinander einig zu werden. Doch in diesem Thema gibt es zum Glück einen grossen Konsens im Hinblick auf die Gründe der Kinderarbeit und dem Ziel, diese zu verhindern.
Wieso sind solche Ausbildungen nötig?
Kinderarbeit wird in Argentinien häufig als normal betrachtet. Wir müssen immer noch das Problem und die Konsequenzen von Kinderarbeit aufzeigen. So gibt es beispielsweise im Bereich der Backsteinherstellung eine weitverbreitete Kinderarbeit. Dies liegt daran, dass die Öfen in den Familienhäusern stehen. Als Konsequenz arbeiten die Kinder meist zusammen mit ihren Eltern. Eines unserer Hauptaugenmerke liegt deshalb in der Zusammenarbeit mit der Gewerkschaft der Ziegelbrenner:innen. In den Haushalten werden häufig Kinder dazu genutzt, um ihre noch kleineren Geschwister zu hüten. Das ist Kinderarbeit! Das Mädchen, das ihre Geschwister hütet, der Junge, der Ziegelsteine backt oder auf dem Feld arbeitet – sie alle haben weniger Zeit, um zu lernen oder spielen. Die Folge davon ist, dass sie später, wenn sie erwachsen sind, billige Arbeitskräfte werden und sie in einem Teufelskreis gefangen bleiben.
Was fordern die Gewerkschaften konkret?
Wir sind der Überzeugung, dass das Grundproblem das Fehlen von geeigneter Arbeit in Würde für die erwachsenen Arbeiter:innen ist. Aufgrund fehlender anständiger Arbeit müssen die Kinder arbeiten. Wir fordern gute Arbeitsbedingungen und faire Löhne. Daneben gibt es konkrete Ansätze, die unserer Meinung nach Kinderarbeit reduzieren können. Der Staat muss endlich genügend Krippenplätze zur Verfügung stellen. Orte, wo die Eltern ihre Kinder in Sicherheit lassen können, während sie selbst arbeiten. Die Kinder sollen dort lernen oder einfach spielen können. Zudem braucht es gerade für die Zeit der Pandemie einen universellen Notlohn für alle Arbeiter:innen, die arbeitslos geworden sind.
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