Kinder­ar­beit in Argen­ti­nien: Einzelne Gesetze reichen nicht

2021 ist das Inter­na­tio­nale Jahr zur Abschaf­fung der Kinder­ar­beit. Argen­ti­nien ist von diesem Ziel noch weit entfernt. Die Gewerk­schafts­spre­cherin und Akti­vi­stin Rosario Hasperué findet: Um Kinder­ar­beit zu verhin­dern, müssen Armut und unwür­dige Arbeits­be­din­gungen bekämpft werden. 
Rosario Hasperué meint: "um Kinderarbeit zu bekämpfen müssen allgemein Arbeitsbedingungen verbessert werden". (Foto: zVg)

Das Lamm: Rosario Hasperué, Sie sind die Verant­wort­liche für die Bekämp­fung der Kinder­ar­beit inner­halb der Argen­ti­ni­schen Zentral­ge­werk­schaft CTA – Autó­noma. Wie sieht die derzei­tige Lage aus?

Rosario Hasperué: In Argen­ti­nien arbeitet unge­fähr eines von zehn Kindern. Gehen wir aber aufs Land, sind es doppelt so viele. Argen­ti­nien ist bis heute eine grosse Expor­teurin land­wirt­schaft­li­cher Güter und genau hier haben wir den grössten Anteil an Kinder­ar­beit. Direkt auf den Feldern. Gerade auf dem Land herr­schen menschen­un­wür­dige Arbeits­be­din­gungen. Mit Glück wird ein Tage­lohn ausge­zahlt, aber viele Menschen arbeiten immer noch für Nahrungs­mittel und Waren.

Beispiels­weise in der Produk­tion von Mate, unserem Natio­nal­ge­tränk, werden die Arbeiter:innen zum Teil mit Lebens­mit­tel­pa­keten bezahlt. Dort findet am meisten Kinder­ar­beit statt. Neben der Land­wirt­schaft sind es die Rand­zonen der Städte, wo viel Kinder­ar­beit vorherrscht. In den Berei­chen, wo die Stadt auf das Land trifft und Kinder etwa in der Herstel­lung von Ziegeln arbeiten. Wenn diese Kinder zur Schule gehen, stehen sie zum Teil um fünf Uhr morgens auf, um arbeiten zu gehen. Danach kommen sie müde und mit verschmutzten Händen in den Unterricht.

Wieso gibt es Kinderarbeit?

Dies hat häufig damit zu tun, dass die Eltern keine Arbeit haben oder der Lohn nicht ausreicht. Diese Kinder haben schlichtweg keine andere Option, als zu arbeiten. Es gibt auch viele Fälle, bei denen die Eltern keinen anderen Ort haben, um ihre Kinder zu hüten. Also werden sie zur Arbeit mitge­nommen und helfen dort aus. In manchen Berei­chen der Gesell­schaft gehört Kinder­ar­beit leider zum Normal­zu­stand. Zudem gibt es Unternehmer:innen, die diese Situa­tion ausnutzen und dadurch auf sehr billige Arbeits­kraft zurück­greifen können.

Wie hat sich diese Situa­tion während der Pandemie entwickelt? In Argen­ti­nien gab es nun fast über ein Jahr keinen Präsenz­un­ter­richt. Welche Auswir­kungen hat das für die Kinder?

Die Pandemie hat alle Faktoren, die Kinder­ar­beit fördern, gravie­rend verstärkt. Die Obdach­lo­sig­keit ist gestiegen, die Anzahl an Schulabgänger:innen ist gestiegen und damit auch die Anzahl an Kindern, die arbeiten müssen. Beim Online­un­ter­richt wurden Millionen Kinder ohne Inter­net­zu­gang nicht berück­sich­tigt. Dadurch ist der Bildungs­un­ter­schied zwischen den sozialen Klassen enorm gewachsen – zwischen privaten und öffent­li­chen Schulen, aber vor allem auch zwischen jenen, die Computer und Internet haben, und jenen, die keinen Zugang zu solchen Medien haben.

Argen­ti­nien erlebt durch die Pandemie eine schwere Wirt­schafts­krise. In einem solchen Moment der zuneh­menden Arbeits- und Obdach­lo­sig­keit ist es wichtig, dass die Kinder auf eine Schule gehen. Hier werden Lehr­per­sonen auf Miss­brauch, Gewalt oder Mangel­er­näh­rung aufmerksam.

Wie wirkt sich das Zuhau­se­sein auf die Kinder aus, wenn viele Eltern weiterhin zur Arbeit gehen müssen?

Die Pandemie hat eine Krise im Beauf­sich­tigen von Kindern ausge­löst. Viele Kinder wurden mit dem Hüten ihrer klei­neren Geschwi­ster allein gelassen. Es kommt zudem vor, dass Mädchen im Alter von 13, 14 Jahren ange­stellt werden, um ihre Nach­bars­kinder zu hüten. Gerade in diesem Bereich hat die Kinder­ar­beit sehr zugenommen.

Sie sind Femi­ni­stin, welchen Beitrag kann eine femi­ni­sti­sche Perspek­tive in der Analyse und Bekämp­fung von Kinder­ar­beit leisten?

Allge­mein kümmern sich Frauen um den Haus­halt und sind verant­wort­lich für das Hüten der Kinder. Gleich­zeitig haben Frauen die grössten Schwie­rig­keiten, eine gute Lohn­ar­beit zu finden und verdienen meistens weniger. In der Pandemie sind Frauen beson­ders stark von der Arbeits­lo­sig­keit und einem gleich­zei­tigen Über­mass an Arbeit betroffen, da sie sich um die Kinder kümmern müssen.

Die Krise ist nicht nur eine Wirt­schafts­krise, sondern auch eine Care-Krise. Wir müssen unbe­dingt das aktu­elle kapi­ta­li­sti­sche System des Kinder­hü­tens über­denken. Es braucht ein neues System, dass die Männer und Frauen gleich­mässig am Hüten der Kinder betei­ligt. Auch die Care-Berufe, die meistens von Frauen und zu sehr nied­rigen Löhnen ausge­führt werden, müssen von beiden Geschlech­tern gleich­mässig getragen werden. Konkrete und unmit­tel­bare Mass­nahmen wären eine Verbes­se­rung der Arbeits­be­din­gungen und ein Ausbau von Krip­pen­plätzen. Eine femi­ni­sti­sche Wirt­schafts­per­spek­tive zeigt uns die Notwen­dig­keit der Lösung von manchen gesell­schaft­li­chen Problemen auf, wie etwa der Kinder­ar­beit. Kinder sollten nicht dazu gezwungen werden, zu arbeiten oder Verant­wor­tung zu über­nehmen, die ihre mensch­liche Würde verletzt. Sie haben ein Recht darauf, gehütet zu werden, und darum muss sich die Welt der Erwach­senen kümmern.

Was macht die Regie­rung, um Kinder­ar­beit zu bekämpfen?

Der argen­ti­ni­sche Staat hat Ende der 1990er- und Anfang der 2000er-Jahre alle inter­na­tio­nalen Konven­tionen in die natio­nale Gesetz­ge­bung inte­griert. Für die konkrete Umset­zung ist die Natio­nale Kommis­sion zur Verhin­de­rung und Ausrot­tung der Kinder­ar­beit (CONAETI) zuständig. Diese arbeitet über regio­nale Kommis­sionen, in denen Gewerk­schaften, NGOs, Arbeitgeber:innen und die Regie­rung sitzen. Es gibt regel­mäs­sige Arbeits­kon­trollen, bei denen zum Teil auch Betriebe geschlossen wurden. Zudem wurde nach heftigen poli­ti­schen Ausein­an­der­set­zungen ein Förder­geld pro Kind einge­führt, welches den Lohn durch die Kinder ersetzen und so die Kinder von ihrer Arbeit befreien soll.

Gibt es in Argen­ti­nien NGOs, die sich mit dem Thema befassen? Wie gehen sie die Proble­matik an?

Ja, es gibt verschie­dene inter­na­tio­nale Orga­ni­sa­tionen, die sich in Argen­ti­nien mit dem Thema befassen. Sie fertigen meistens Studien zu einzelnen Punkten an. Ihr Ansatz ist häufig sehr einseitig. Sie beschäf­tigen sich mit der Kinder­ar­beit, ohne die Faktoren zu betrachten, die sie produ­zieren. Die derzei­tige Armut hängt mit dem Kolo­nia­lismus der letzten Jahr­hun­derte, einem globa­li­sierten neoli­be­ralen Finanz- und Handels­sy­stem sowie der Aufle­gung von Wirt­schafts­mo­dellen zusammen, die einzig einer kleinen Minder­heit im eigenen Land und auslän­di­schen Inter­essen dienen.

Wie beur­teilen Sie die Politik vonseiten des Staates und der NGOs?

Sie ist unzu­rei­chend. Es bräuchte sowohl auf inter­na­tio­naler als auch natio­naler Ebene einen deut­lich grös­seren Aufwand. Da wir der Über­zeu­gung sind, dass Kinder­ar­beit häufig mit schlechten Arbeits­ver­hält­nissen der Eltern zu tun hat, muss dort ange­setzt werden. Aber genau hier wird es schwierig. Fast die Hälfte der Bevöl­ke­rung in Argen­ti­nien lebt unter der Armuts­grenze und bei Kindern steigt die Zahl auf 68 Prozent. Es geht nicht nur darum, einzelne Gesetze umzu­setzen. Es braucht makro­öko­no­mi­sche Ansätze.

Was unter­nehmen die Gewerk­schaften, um die Lage der Kinder konkret zu verbessern?

Wir haben mit allen drei grossen Gewerk­schafts­ver­bänden ein Bündnis gegründet, welches zum Ziel hat, unsere Arbeit in diesem Bereich besser zu koor­di­nieren und zu stärken. Diesen Monat startet der erste Kurs, der Genoss:innen im Bereich der Schul­bil­dung, Land­ar­beit und Fabriken ausbilden soll. Wir sind sehr glück­lich über diese Möglich­keit. Oft ist es schwierig, unter­ein­ander einig zu werden. Doch in diesem Thema gibt es zum Glück einen grossen Konsens im Hinblick auf die Gründe der Kinder­ar­beit und dem Ziel, diese zu verhindern.

Wieso sind solche Ausbil­dungen nötig?

Kinder­ar­beit wird in Argen­ti­nien häufig als normal betrachtet. Wir müssen immer noch das Problem und die Konse­quenzen von Kinder­ar­beit aufzeigen. So gibt es beispiels­weise im Bereich der Backstein­her­stel­lung eine weit­ver­brei­tete Kinder­ar­beit. Dies liegt daran, dass die Öfen in den Fami­li­en­häu­sern stehen. Als Konse­quenz arbeiten die Kinder meist zusammen mit ihren Eltern. Eines unserer Haupt­au­gen­merke liegt deshalb in der Zusam­men­ar­beit mit der Gewerk­schaft der Ziegelbrenner:innen. In den Haus­halten werden häufig Kinder dazu genutzt, um ihre noch klei­neren Geschwi­ster zu hüten. Das ist Kinder­ar­beit! Das Mädchen, das ihre Geschwi­ster hütet, der Junge, der Ziegel­steine backt oder auf dem Feld arbeitet – sie alle haben weniger Zeit, um zu lernen oder spielen. Die Folge davon ist, dass sie später, wenn sie erwachsen sind, billige Arbeits­kräfte werden und sie in einem Teufels­kreis gefangen bleiben.

Was fordern die Gewerk­schaften konkret?

Wir sind der Über­zeu­gung, dass das Grund­pro­blem das Fehlen von geeig­neter Arbeit in Würde für die erwach­senen Arbeiter:innen ist. Aufgrund fehlender anstän­diger Arbeit müssen die Kinder arbeiten. Wir fordern gute Arbeits­be­din­gungen und faire Löhne. Daneben gibt es konkrete Ansätze, die unserer Meinung nach Kinder­ar­beit redu­zieren können. Der Staat muss endlich genü­gend Krip­pen­plätze zur Verfü­gung stellen. Orte, wo die Eltern ihre Kinder in Sicher­heit lassen können, während sie selbst arbeiten. Die Kinder sollen dort lernen oder einfach spielen können. Zudem braucht es gerade für die Zeit der Pandemie einen univer­sellen Notlohn für alle Arbeiter:innen, die arbeitslos geworden sind.


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