In ein paar Tagen stimmt die Schweizer Stimmbevölkerung über das Klimaschutzgesetz ab. Wer nun aber denkt, diese Abstimmung würde vor allem die betreffen, die noch immer im SUV unterwegs sind, der irrt. Gerade für all jene, die bereits heute ausschliesslich Velo fahren und auf Fleisch und Flugreisen verzichten, wird der 18. Juni entscheidend sein. Denn das Votum der Schweizer*innen wird mit darüber entscheiden, ob ihr Verhalten eine Wirkung hat oder nicht.
Um das zu erklären, braucht es eine kurze Geschichte.
Das Dilemma der zwei Gefangenen
Kürzlich verloren zwei vermeintliche Bankräuber eine abenteuerliche Verfolgungsjagd. Mit über 200 Kilometer pro Stunde rasten die Beschuldigten durch das Schweizer Mittelland, bevor sie von der Polizei gefasst wurden. Während die Übertretung der Höchstgeschwindigkeit den zwei Männern offenkundig nachgewiesen werden kann, sieht es beim bewaffneten Überfall auf eine Bank etwas anders aus.
Um mehr über den Tathergang zu erfahren, befragt die Polizei die zwei Gefangenen einzeln – und bietet beiden folgenden Deal an: Wenn du gestehst, können wir dich zum Kronzeugen machen und du musst nur für ein Jahr ins Gefängnis.
Schweigen beide Gefangenen, wird ihnen die Staatsanwaltschaft den Bankraub nicht nachweisen können und sie kriegen je zwei Jahre für die Raserei. Gesteht nur einer der beiden, ist dieser fein raus, kriegt als Kronzeuge nur ein Jahr Haft, haut aber gleichzeitig den anderen voll in die Pfanne – denn der kriegt sechs Jahre Knast. Noch schlechter sieht die Bilanz aus, wenn beide gestehen – denn dann bekommen beide je vier Jahre Freiheitsentzug.
Doch soweit muss es nicht kommen: Wenn beide dichthalten, müssen sie zusammengezählt nur vier Jahre hinter Gitter. Das wäre gesamthaft betrachtet die Ideallösung. Doch können sich die zwei sicher sein, dass auch der andere das verlockende Angebot von nur einem Jahr Haft ausschlagen wird?
Das grösste Gefangenendilemma aller Zeiten
Und was ist die Moral dieser Geschichte, die als das sogenannte Gefangenen-Dilemma wohl in jedem Philosophie-Studium irgendwann auftaucht? Nicht etwa, dass Banküberfälle gut sind. Und auch nicht, dass lügen in Ordnung ist. Denn auch wenn sich das Gefangenen-Dilemma um zwei Verbrecher dreht, geht es grundsätzlich nicht um Schuld oder Unschuld, sondern um Kooperation oder Verrat und darum, was dazwischensteht: Vertrauen.
Die erfundene Geschichte der zwei Bankräuber zeigt, dass Vertrauen fundamental wichtig sein kann, um dorthin zu gelangen, wo es für alle zusammen, also für das Gemeinwohl, eigentlich am besten wäre – sprich: zum gesellschaftlichen Optimum. Nur wenn beide Gefangenen darauf vertrauen können, dass ihr Komplize sie nicht hängen lässt und ebenfalls dichthält, können sie die Summe ihrer Gefängnisjahre minimieren.
Was das Ganze mit Klimaschutz zu tun hat? Eine ganze Menge. Auch dazu ein Beispiel: Stell dir vor, du fliegst nicht, isst kein Fleisch, fährst mit dem Zug oder dem Fahrrad. Kurzum: Du leistest einen wertvollen Beitrag dafür, dass die Welt nicht untergeht.
Aber hast du dir schon mal überlegt, was es für dich heisst, wenn die anderen – seien das nun Menschen oder Konzerne – bei der Mission Weltrettung nicht so zuverlässig mitmachen wie du? Was ist, wenn die Mehrheit trotz all der Warnungen und offensichtlichen Zeichen weitermacht mit dem fossilen Wahnsinn? Was ist, wenn alle weiterfliegen und Steaks braten, als ob die Fluten, Tornados und Hitzewellen spurlos an ihnen vorbeiziehen würden? Wird sich dein Verzicht dann gelohnt haben?
Die Antwort ist bitter, aber sonnenklar: Nein.
Wenn die anderen nicht mitmachen, wirst du umsonst auf den Strandurlaub in Thailand verzichtet haben. Die Welt wird vor die Hunde gehen, obwohl du Jahrzehnte mit einem verspannten Nacken aus dem Nachtzug gestiegen bist. Obwohl du auf jedem Dorffest dem verlockenden Duft des Bratwurststandes widerstehen konntest. Und obwohl du auch bei strömenden Regen auf das Fahrrad gesessen bist und den Arbeitstag durchnässt gestartet hast.
Eine ernüchternde Vorstellung, oder? Vor allem weil die Alternative – also selbst auch wieder Fleisch geniessen, SUV fahren und nach Thailand jetten – auch kein gangbarer Weg ist. Zumindest dann nicht, wenn man sich einmal kurz Zeit genommen hat, um vernünftig über das nachzudenken, was uns mit der Klimakrise bevorsteht. Denn: Es wäre unbestritten für alle Beteiligten von Vorteil, unsere Lebensgrundlagen auf diesem Planeten nicht zu zerstören.
Kurzum, die Klimakrise ist ein einziges grosses Gefangenendilemma. Einfach nicht nur mit zwei Gefangenen, sondern mit ein paar Milliarden. Und die bittere Wahrheit ist: Rational gesehen macht es für all diese Klimadilemma-Gefangenen keinen Sinn, in Sachen Klimaschutz zu kooperieren, wenn sie sich nicht sicher sein können, dass alle anderen auch mitmachen werden.
Am 18. Juni kommt das Klimaschutzgesetz an die Urne. Was da genau drinsteht, wieso es höchstens das Minimum dessen sein kann, was die Schweiz im Kampf gegen die Klimakrise leisten muss und wieso es trotzdem ein erster kleiner Schritt aus dem globalen Klimadilemma ist, erfährt ihr in dieser zweiteiligen Serie.
Teil 1: Klimaschutzgesetz: Wir sind alle gefangen in einem globalen Dilemma
Teil 2: Das neue Schweizer Klimaschutzgesetz: Maximal das Minimum
Dass das eine vereinfachte Darstellung davon ist, wie Menschen Entscheidungen treffen, ist klar. Denn wir entscheiden nicht immer zu hundert Prozent rational. Vielleicht machen wir Dinge ja auch einfach so und nicht anders, weil wir uns daran gewöhnt haben. Oder weil es alle anderen so machen. Oder weil wir nicht wissen, dass wir es anders machen könnten.
Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass die auf SUV und Co. verzichtenden Klimadilemma-Gefangenen massiv den Kürzeren ziehen, wenn sie sich nicht darauf verlassen können, dass es ihnen alle anderen gleichtun. Der eigene Verzicht lohnt sich nur dann, wenn sich jede*r Einzelne sicher sein kann, dass alle anderen auch mitmachen. Nur wenn alle kooperieren, kommen wir dahin, wo es eigentlich für alle zusammen am angenehmsten wäre.
Wobei offensichtlich ist, dass nicht alle Klimadilemma-Gefangenen gleich viel Verantwortung übernehmen müssen. Denn während in der Schweiz die durchschnittlichen Emissionen bei 12 Tonnen pro Person und Jahr liegen, sind es bei Menschen aus dem Niger im Durchschnitt gerade einmal 100 Kiloramm.
Auch die Konzerne brauchen Vertrauen
Beim grössten Gefangenen-Dilemma aller Zeiten sitzen aber bei Weitem nicht nur ein paar Milliarden Individuen am Tisch, sondern auch Staaten und Konzerne. Und auch diese befinden sich in einem Dilemma: Wieso soll ein Konzern – sagen wir ein Konzern, der Bleistifte herstellt – auf die Versorgung mit erneuerbaren Energien umstellen, wenn er auch billigeres Erdgas haben kann? Denn wenn alle anderen Bleistiftfabriken bei Erdgas bleiben, ist die Gefahr gross, dass unser Bleistiftkonzern mit seinen Bleistiften auf dem globalen Markt preislich nicht mehr mithalten kann.
Um ohne Risiko von Erdgas auf Solar, Wind oder Wasser umstellen zu können, bräuchte unsere fiktive Bleistift-Firma also die hundertprozentige Zusicherung aller anderen Bleistift-Firmen, dass sie auch mitmachen bei der Dekarbonisierung ihrer Produktion und fortan auf die Billigenergie verzichten werden. Wenn nur ein einziger Bleistift-CEO ausschert und sich denkt, „ich bleib bei Erdgas, damit ich alle anderen preislich unterbieten kann“, funktioniert das Ganze nicht mehr.
Wie könnte dem geplagten Bleistift-CEO also am ehesten zugesichert werden, dass sich alle Bleistift-CEOs daran halten werden, kein Erdgas mehr zu verwenden? Vor allem dann, wenn sich diese Bleistift-CEOs nicht einmal alle kennen? Wie kriegen wir es als Gesellschaft hin, dass alle mitmachen? Gibt es ein so mächtiges Instrument?
Sicherheit durch Gesetze
Ja – und wir haben es bereits vor langer Zeit erfunden. Das mächtige Instrument, das ich meine, nennt sich Gesetz. Dank Gesetzen können wir Dinge gemeinsam abmachen, von denen wir wollen, dass sich alle daranhalten. Zugegebenermassen: Gesetze sind auch einschränkend. Weil es Gesetze gibt, kann ich auf der Autobahn nicht so schnell fahren, wie ich will. Weil es Gesetze gibt, kann ich nicht überall, wo ich will, ein Haus hinbauen. Weil es Gesetze gibt, muss man Steuern bezahlen.
Aber: Ich kann mich gleichzeitig darauf verlassen, dass diese Einschränkungen ebenso für alle anderen gelten. Und das gibt Sicherheit. Sicherheit darüber, dass die anderen nicht mit 200 Kilometer pro Stunde auf der Autobahn an mir vorbeidonnern werden. Sicherheit darüber, dass nicht einfach irgendwer in meinem Garten anfängt, ein Haus zu bauen. Sicherheit darüber, dass sich auch die anderen über ihre Steuerrechnung an den Unterhaltskosten unserer gesellschaftlichen Infrastruktur beteiligen werden.
Dass es sinnvollere und weniger sinnvolle Gesetze gibt, dass es oftmals bei deren Umsetzung hapert und dass für Grosskonzerne oftmals andere Gesetze gelten als für die normalen Bürger*innen, ist unbestritten. Trotzdem sind Gesetze grundsätzlich dazu da, dass sich sowohl Unternehmen wie auch Individuen darauf verlassen können, dass die anderen nach denselben Spielregeln spielen wie man selbst. Gute Gesetze schützen uns vor der Nicht-Kooperation der anderen und können uns so davor bewahren, dass der eigene Aufwand irgendwann umsonst gewesen sein wird.
Sei das nun im Strassenverkehr, beim Steuerrecht oder hoffentlich auch bald im Klimaschutz.
Internationales Vertrauen aufbauen
Doch damit nicht genug. Gesetze können noch mehr – gerade im Klimaschutz. Denn dieser ist eine globale Herausforderung. 2015 haben fast 200 Staaten das Pariser Klimaabkommen unterschrieben. Ein Abkommen, dass zwar gemeinsame Grenzwerte, aber weder klare Verbindlichkeiten noch Sanktionen festlegt.
Ob das Pariser Klimaabkommen in dieser Form bereits genug Vertrauen generieren kann, dass sich Kooperation für die einzelnen Mitgliedsstaaten tatsächlich lohnt, ist entsprechend mehr als fraglich. Kann Indien darauf vertrauen, dass es sich lohnt, keine Kohlekraftwerke mehr zu bauen, wenn andere Länder sanktionsfrei ihre Klimaziele verletzen. Wie soll sich die Regierung von Uganda sicher sein, dass sie ökonomisch nicht den Kürzeren zieht, wenn sie ihr Erdöl im Unterschied zu all den anderen Ländern im Untergrund lässt? Kann sich die EU darauf verlassen, dass die energieintensive Schwerindustrie nicht einfach in die Türkei auswandern wird, wenn im europäischen Emissionshandel die Preise zu steigen anfangen?
Auch die Staatengemeinschaft ist gefangen in einem globalen Dilemma. Zwar schaffte das Pariser Klimaabkommen eine Basis, auf der Vertrauen aufgebaut werden kann. Doch diese Basis ist dünn. Damit sie wachsen kann, müssen die Schweiz und alle anderen Staaten, die das Abkommen unterschrieben haben, zeigen, dass sie bereit sind, das Versprochene auch tatsächlich umzusetzen.
Vertrauen wird die Währung sein, mit der wir uns den Ausstieg aus der Klimakrise erkaufen. Doch dieses Vertrauen wird nicht vom Himmel fallen. Am 18. Juni hat die Schweizer Stimmbevölkerung die Möglichkeit der Welt zu zeigen, dass sie es ernst meint – und zwar mit einem klaren „Ja“ zum Klimaschutzgesetz.
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