Wann fällt die Dauer­flat­rate? (6/7)

Die EU plant Reformen. Diese könnten das EHS aus der Geisel­haft der globa­li­sierten Indu­strie befreien und in eine tatsäch­liche Dekar­bo­ni­sie­rung führen. Der Wermuts­tropfen: So bald wird das nicht geschehen. 
Illustration: Luca Mondgenast

Sach­buch: CO2-Ausstoß zum Nulltarif

Auf der Grund­lage dieser Arti­kel­serie ist ein Sach­buch entstanden, welches am 18.02.2024 beim Rotpunkt­verlag in Zürich erschienen ist. Das Buch „CO2-Ausstoß zum Null­tarif – Das Schweizer Emis­si­ons­han­dels­sy­stem und wer davon profi­tiert“ ist bei uns im Shop oder in der Buch­fi­liale deines Vertrauens erhältlich.

In Kürze

  • Von der Dauer­flat­rate im EHS wollen auch klei­nere Unter­nehmen profi­tieren. Die Anzahl Firmen, die im Schweizer EHS abrechnen, hat sich folg­lich seit 2021 fast verdoppelt.
  • Vonseiten der EU sind Anpas­sungen im EHS geplant. Eine davon ist der CO2-Grenz­aus­gleich in Form einer Zollabgabe.
  • Voll­ständig einge­führt wird dieser CO2-Zoll voraus­sicht­lich jedoch erst 2034.

Eine Flat­rate auf Monster­emis­sionen – das war das Emis­si­ons­han­dels­sy­stem (EHS) in der letzten Handel­s­pe­riode. Für die schlimm­sten Klimasünder*innen gab es Emis­si­ons­rechte zum Null­tarif, einige Konzerne konnten sich dank der Teil­nahme am EHS sogar berei­chern, während KMUs und alle Bürger*innen für jede Emis­si­ons­tonne, die sie aus fossilen Brenn­stoffen verur­sachten, zwischen 36 und 96 Franken CO2-Abgabe bezahlen mussten. Alles in allem gingen dem Staat in der vergan­genen EHS-Handel­s­pe­riode dadurch laut Schät­zungen von das Lamm rund drei Milli­arden Franken CO2-Abgaben durch die Lappen.

Firmen, die ihre Klima­ko­sten unter dem Emis­si­ons­han­dels­sy­stem abrechnen dürfen, bezahlen keine CO2-Abgabe. Statt­dessen müssen sie für jede ausge­stos­sene Tonne CO2 ein entspre­chendes Zerti­fikat erwerben. Diese Zerti­fi­kate sind nichts anderes als Emis­si­ons­rechte. Dabei gibt es nur eine bestimmte Menge an Zerti­fi­katen und diese Menge, der soge­nannte Cap, wird schritt­weise gesenkt. Diese Verknap­pung soll den Preis der Zerti­fi­kate erhöhen. 

Die Firmen können die Zerti­fi­kate auf zwei Arten beziehen: Entweder sie erwerben sie käuf­lich oder sie bekommen sie geschenkt. Das Bundesamt für Umwelt (BAFU) verteilt jedes Jahr eine grosse Menge an Gratis­zer­ti­fi­katen an die Schweizer EHS-Firmen, um zu verhin­dern, dass sie ihre Emis­sionen ins Ausland verlagern. 

Zeit­lich ist das EHS in mehr­jäh­rigen Handel­s­pe­ri­oden mit mehr oder weniger gleich­blei­benden Regeln orga­ni­siert. Die letzte Handel­s­pe­riode lief von 2013 bis 2020. 

Wichtig: Die Zerti­fi­kate im Emis­si­ons­han­dels­sy­stem sind nicht an Projekte gekop­pelt, die der Atmo­sphäre Klima­gase entziehen, wie man das zum Beispiel von Kompen­sa­tionen für Flug­reisen kennt. Bei diesen frei­wil­ligen Kompen­sa­ti­ons­zah­lungen spricht man zwar oft auch von “Zerti­fi­katen”, diese haben aber nichts mit dem EHS zu tun.

Wer darf beim EHS mitmachen?

Grund­sätz­lich sind im EHS Firmen aus den Bran­chen mit den höch­sten Treib­haus­gas­emis­sionen vertreten. Dabei gibt es solche, die beim EHS mitma­chen „müssen“, weil sie im Anhang 6 der CO2-Verord­nung stehen. Auf dieser Liste sind beispiels­weise die Metall- oder die Zement­in­du­strie. Dieses „müssen“ kann jedoch zu Miss­ver­ständ­nissen führen. Denn die Firmen werden hier zu etwas gezwungen, das ihnen bis jetzt vor allem Vorteile verschafft hat.

Zusätz­lich gibt es Bran­chen, die frei­willig beim EHS mitma­chen können. Diese stehen im Anhang 7 der CO2-Verord­nung. Hier befinden sich zum Beispiel die Chemie‑, die Papier- oder die Holz­in­du­strie. Kurzum: Im EHS versam­meln sich die Gross­kon­zerne aus der Ener­gie­pro­duk­tion und der Schwerindustrie. 

Der über­wie­gende Teil der Schweizer Firmen darf aber nicht am EHS teil­nehmen. Diese zahlen statt­dessen für jede Tonne Klima­gase eine CO2-Abgabe von 120.– Franken.

Im EHS regi­striert werden genau genommen nicht die Firmen selbst, sondern die verschie­denen Indu­strie­an­lagen der Firmen – also ein Zement­werk, ein Stahl­werk oder ein Heiz­werk. Deshalb kann eine Firma auch mit mehreren Stand­orten im EHS vertreten sein. 

Wie wird bestimmt, wer wie viele Gratis­zer­ti­fi­kate erhält?

Die Anzahl Gratis­zer­ti­fi­kate, die eine Firma vom BAFU erhält, ist von zwei Faktoren abhängig. Einer­seits erhalten Firmen, die bereits eine gute CO2-Bilanz haben, mehr Gratis­zer­ti­fi­kate als solche, die schlecht dastehen. Was man dabei aber nicht vergessen darf: Auch Firmen bezie­hungs­weise deren Produk­ti­ons­an­lagen, die in diesem Ranking zu den besten zählen, emit­tieren immer noch Unmengen an Klimagasen.

Ander­seits erhalten Firmen, die für ihre Produkte den soge­nannten Carbon-Leakage-Status bean­spru­chen, mehr Gratis­zer­ti­fi­kate als solche ohne. Von Carbon-Leakage spricht man dann, wenn die Klima­gas­emis­sionen wegen hoher Abgaben, Steuern oder anderen Klima­schutz­mass­nahmen in ein anderes Land verla­gert werden, in dem es billiger ist, CO2 zu emittieren. 

In der Handel­s­pe­riode von 2013 bis 2020 mussten alle Schweizer EHS-Firmen zusammen 39 Millionen Zerti­fi­kate abgeben. Vom BAFU wurden 38 Millionen Zerti­fi­kate gratis verteilt. Viele Schweizer EHS-Firmen haben deshalb eine beträcht­liche Menge EHS-Zerti­fi­kate beisei­te­legen können. Diese Reser­ve­bil­dung schwächt die Wirkung des EHS-Konzepts ab.

Wie kommen die EHS-Firmen zu den rest­li­chen Zertifikaten?

Einer­seits führt das BAFU regel­mässig Verstei­ge­rungen durch. Ande­rer­seits handeln die EHS-Firmen sowie andere am CO2-Markt inter­es­sierte Akteur*innen unter­ein­ander mit den Emis­si­ons­rechten. Dieser Handel läuft über mehrere Ener­gie­börsen – zum Beispiel über die Euro­pean Energy Exch­ange (EEX) mit Sitz in Leipzig.

Verknüpft mit dem euro­päi­schen EHS und trotzdem anders. Wie geht das?

Seit dem 1. Januar 2020 ist das Schweizer EHS mit dem euro­päi­schen EHS verknüpft. Deshalb gelten in beiden Systemen grund­sätz­lich dieselben Regeln. Da diese EHS-Regeln aber in eine natio­nale Klima­ge­setz­ge­bung einge­bettet sind, bedeutet die Teil­nahme am EHS für eine euro­päi­sche Firma trotzdem nicht zu hundert Prozent dasselbe wie für eine Schweizer Firma. Ein Beispiel: Anders als in den meisten EU-Ländern bezahlen die Firmen, die nicht im EHS sind, in der Schweiz auf fossile Brenn­stoffe eine CO2-Lenkungs­ab­gabe. Diese liegt momentan bei 120 Franken pro Tonne CO2.

Diese Lenkungs­ab­gabe wird gröss­ten­teils an die Schweizer Bevöl­ke­rung zurück­ver­teilt. Aber auch EHS-Firmen erhalten bei dieser Rück­ver­tei­lung Geld, obwohl sie gar keine CO2-Abgabe bezahlt haben. Diese zusätz­li­chen Einnahmen aus der natio­nalen CO2-Abgabe erhalten euro­päi­sche EHS-Firmen nicht.

Dass das wenig mit Verur­sa­cher­prinzip oder Gerech­tig­keit zu tun hat, liegt auf der Hand. Zudem braucht die Indu­strie statt­dessen drin­gend klare finan­zi­elle Signale, um von der fossilen Ener­gie­ver­sor­gung wegzu­kommen. Deshalb plant die EU Reformen. 

Da die wirk­lich einschnei­denden Anpas­sungen aber noch länger auf sich warten lassen, erstaunt es kaum, dass der Start der neuen Handel­s­pe­riode etwa gleich aussieht wie das Ende der vergan­genen: Der Staat verteilt den klima­schäd­lich­sten Konzernen weiterhin Zerti­fi­kate zum Null­tarif – und das in grossen Mengen.

Sowohl die gratis zuge­teilte Menge an Emis­si­ons­zer­ti­fi­katen wie auch die im EHS regi­strierten Klima­gas­emis­sionen waren zum Start der neuen Handel­s­pe­riode 2021 etwa gleich hoch wie 2020. Wie die Zahlen für 2022 aussehen, ist noch nicht bekannt. Zwar seien die Gratis­zu­tei­lungen auf das Jahr 2022 gekürzt worden, lässt uns das Bundesamt für Umwelt (BAFU) auf Anfrage wissen, aber die defi­ni­tiven Zutei­lungen stehen bei einigen Firmen noch aus. Um wie viel die Gratis­zu­tei­lungen tatsäch­lich gesunken sind, lässt sich deshalb noch nicht abschätzen.

Ab 2021: mehr Unter­nehmen im EHS

Was sich aber mit dem Start der neuen Handel­s­pe­riode ganz sicher verän­dert hat, ist die Anzahl Firmen, die ihre Klima­ko­sten unter dem EHS abrechnen wollen. Waren es Ende 2020 noch rund 50 Indu­strie­an­lagen, sind auf den Start der neuen Handel­s­pe­riode 94 Anlagen im EHS gemeldet. Neu mit dabei sind auch bekannte Konzerne wie die Emmi Schweiz AG, SWISS KRONO AG oder das Kern­kraft­werk Gösgen.

Wir haben bei der Emmi Schweiz AG, der SWISS KRONO AG und dem Kern­kraft­werk Gösgen nach­ge­fragt, wieso sie auf die neue Handel­s­pe­riode hin ins EHS gewech­selt haben. Die Molkerei Emmi verweist auf die damals unsi­chere Geset­zes­lage rund um die Abstim­mung über das neue CO2-Gesetz, die sie zum Wechsel bewogen hat.

Das Kern­kraft­werk Gösgen schreibt, dass sie in den vergan­genen Jahren die normale CO2-Lenkungs­ab­gabe auf fossile Brenn­stoffe zahlten. Aber: „Wirt­schaft­liche Über­le­gungen haben das Kern­kraft­werk Gösgen (KKG) dazu bewogen, nun am Emis­si­ons­han­dels­sy­stem (EHS) teil­zu­nehmen.“ Einmal mehr zeigt sich: Die Emis­sionen über das EHS abrechnen zu können, ist ein Privileg.

Die in der Massen­ver­ar­bei­tung von Holz­werk­stoffen tätige SWISS KRONO AG lässt uns wissen, dass sie mit dem EHS-Beitritt des Schweizer Werks „analog zu den Werken im EU-Raum agieren“ wolle. Denn SWISS KRONO betreibt weitere Werke im EU-Raum und „allfäl­lige Zerti­fi­kate möchte man aus Grup­pen­sicht händeln“, heisst es weiter.

Es könnte aber noch einen anderen Grund für den Wechsel von SWISS KRONO ins EHS geben. Denn während einige Bran­chen 2021 von der Carbon Leakage-Liste der EU gestri­chen wurden, kamen ein paar neue hinzu. Firmen aus den Bran­chen auf dieser Liste profi­tieren im EHS von extra gross­zü­gigen Zutei­lungen von Gratis­zer­ti­fi­katen. Einer dieser neuen Indu­strie­zweige ist die „Herstel­lung von Furnieren und Holz­werk­stoffen“. Swiss Krono dürfte vom BAFU also nun mehr Gratis­zer­ti­fi­kate erhalten.

Auch die Kleinen wollen profitieren

Neben einigen grossen und bekannten Namen fällt aber vor allem eines auf: 2021 kamen viele klei­nere Emittent*innen neu ins EHS. Denn auch für sie ist das ein lohnender Schritt. Ein Beispiel: Die in der Produk­tion und Verar­bei­tung von Baustoffen tätige AlpiAs­falt AG emit­tierte 2021 197 Tonnen CO2. Auch wenn das immer noch den Emis­sionen von über zehn durch­schnitt­li­chen Schweizer*innen entspricht, ist es nur ein Bruch­teil dessen, was die wirk­lich grossen Klimaverschmutzer*innen im EHS in die Luft pusten. 

Waren es Ende 2020 noch rund 50 Indu­strie­an­lagen, sind auf den Start der neuen Handel­s­pe­riode 94 Anlagen im EHS gemeldet.

Über die CO2-Abgabe hätte das Unter­nehmen 2021 für seine Klima­gas­emis­sionen 23’000 Franken bezahlen müssen. Durch die Teil­nahme am EHS konnte sich AlpiAs­falt diese Kosten sparen. Zudem erhielt AlpiAs­falt Gratis­zer­ti­fi­kate für 273 Tonnen Klima­gase zuge­teilt – also mehr, als sie für ihre eigenen Emis­sionen brauchten. Würde AlpiAs­falt die über­schüs­sigen 76 Zerti­fi­kate verkaufen, könnte das Unter­nehmen bei einem Zerti­fi­kats­preis von 80 Franken (Stand 25. Januar 2023) rund 6’000 Franken Gewinn machen. 

Kurzum: Anstatt mit einem Minus von 23’000 Franken schliesst AlpiAs­falt 2021 seine Klima­bi­lanz mit einem poten­zi­ellen Plus von 6’000 Franken ab. Vergli­chen mit den Einspa­rungen und den poten­zi­ellen Gewinnen von Holcim, Lonza und BASF ist das natür­lich eine kleine Nummer – trotzdem macht auch AlpiAs­falt jetzt dort Geld, wo andere bezahlen müssen.

Das System ist am Ende

Dass das Systems EHS in seiner jetzigen Ausge­stal­tung an Grenzen stösst, belegt das BAFU gleich selbst mit Zahlen. Denn die Gesamt­menge an Gratis­zer­ti­fi­katen, die das BAFU gemäss den aktu­ellen Regeln unter den EHS-Firmen verteilen müsste, ist seit Jahren fast gleich hoch wie die Menge an Zerti­fi­katen, die das BAFU maximal abgeben darf. 

Fakt ist: Die Anzahl Zerti­fi­kate, die tatsäch­lich gegen Geld vom BAFU an die EHS-Firmen gingen, hielt und hält sich weiterhin in Grenzen. 

Die Gesamt­menge an Gratis­zer­ti­fi­katen, die das BAFU gemäss den aktu­ellen Regeln unter den EHS-Firmen verteilen müsste, ist seit Jahren fast gleich hoch wie die Menge an Zerti­fi­katen, die das BAFU maximal abgeben darf. 

Und genau das ist der Grund, weshalb auch der im Jahr 2022 neu einge­führte Markt­sta­bi­li­täts­me­cha­nismus kaum wirkt. Durch diesen Mecha­nismus wird sich in Zukunft die Verstei­ge­rungs­masse halbieren, falls zu viele Emis­si­ons­rechte auf dem Markt verfügbar sind.

Auch die EU kennt einen Mecha­nismus, der die Verstei­ge­rungs­menge kürzen soll. Die euro­päi­sche Markt­sta­bi­li­täts­re­serve ist aber nicht eins zu eins iden­tisch mit dem schwei­ze­ri­schen Markts­sta­bi­li­täts­me­cha­nismus. Da das euro­päi­sche und das Schweizer EHS seit 2020 mitein­ander verknüpft sind, erstaunt dies. Deshalb haben wir beim BAFU nach­ge­fragt. Dieser Unter­schied zwischen den zwei Systemen ist möglich, weil sie auf zwei eigen­stän­digen Rechts­grund­lagen basieren, schreibt das BAFU. Das Abkommen, das die beiden EHS verknüpft, stelle ledig­lich sicher, dass „wesent­liche Krite­rien“ einge­halten werden, die etwa die Gleich­stel­lung der Teilnehmer*innen und die Sicher­heit der Systeme gewähr­lei­stet. Die Krite­rien müssen jedoch nicht in beiden Systemen exakt gleich umge­setzt werden.

Klingt gut. Doch in der Praxis ist der Effekt bescheiden. 2022 gab das BAFU anstelle von 460’000 Zerti­fi­katen 230’000 Emis­si­ons­rechte für den Verkauf frei – während über 4 Millionen gratis zuge­teilt wurden. Kurz: Wenn wegen der gross­zü­gigen Zutei­lung von Gratis­zer­ti­fi­katen nur noch ein sehr kleiner Teil zum Verstei­gern bleibt, dann hat die Halbie­rung der Verstei­ge­rungs­masse nur einen beschränkten Einfluss. 

Wenn bei einem Bezahl­sy­stem rund 95 Prozent der Ware kostenlos über den Tresen wandern muss, sollte man mal grund­sätz­lich über den Sinn dieses Bezahl­sy­stems nachdenken.

Wann beendet die EU die kosten­lose Verschmutzungsparty?

Zukünftig wird es vonseiten der EU deshalb weitere Anpas­sungen brau­chen im EHS. Und die sind auch bereits geplant. 

Einer­seits will die EU den Cap, also die Gesamt­menge an jähr­lich zur Verfü­gung stehenden Zerti­fi­katen, schneller gegen null wandern lassen, ande­rer­seits soll es zusätz­liche einma­lige Löschungen von Zerti­fi­katen geben, um die zu gross­zü­gige Vertei­lung der Vergan­gen­heit etwas auszubügeln.

Solange es jedoch zum Schutz der inlän­di­schen Indu­strie weiterhin massen­haft Subven­tionen in Form von Gratis­zer­ti­fi­katen gibt, werden auch diese Anpas­sungen nicht zu den erfor­der­li­chen Preis­si­gnalen führen, die eine tief­grei­fende Dekar­bo­ni­sie­rung einleiten könnten. Deshalb sollen auch die Gratis­zer­ti­fi­kate fallen.

Michael Bloss, klima­po­li­ti­scher Spre­cher der deut­schen Grünen und Verhand­lungs­führer für die grüne Partei im EU-Parla­ment, schreibt auf seiner Webseite: „Die kosten­lose Verschmut­zungs­party hat ein Ende [...]. Bis 2030 werden die kosten­losen Emis­si­ons­zer­ti­fi­kate fast halbiert und bis 2034 komplett gestri­chen.“ Der Name des Party­kil­lers: CO2-Grenz­aus­gleich.

Game­ch­anger CO2-Grenz­aus­gleich?

Der CO2-Grenz­aus­gleich soll die Gratis­zer­ti­fi­kate ablösen. Denn in Sachen Klima­schutz ist die euro­päi­sche und die Schweizer Klima­ge­setz­ge­bung bis zu einem gewissen Grad in der Geisel­haft der globa­li­sierten Gross­in­du­strie. Würde man die Schraube bei der CO2-Beprei­sung anziehen und den Gross­kon­zernen weniger Zerti­fi­kate umsonst geben, müsste man befürchten, dass sich die emis­si­ons­in­ten­sive Produk­tion ins Ausland verla­gert – Stich­wort Carbon Leakage. Damit wäre dem Klima­schutz schluss­end­lich auch nicht gedient. 

In Sachen Klima­schutz ist die euro­päi­sche und die Schweizer Klima­ge­setz­ge­bung bis zu einem gewissen Grad in der Geisel­haft der globa­li­sierten Grossindustrie.

Der CO2-Grenz­aus­gleich soll die euro­päi­sche Klima­ge­setz­ge­bung nun aus diesem Dilemma befreien. Die Hoff­nung: Die Abwan­de­rung der Emis­sionen verhin­dern und gleich­zeitig die Klima­ver­schmut­zung adäquat bepreisen. Neu würde die EU für den Import von CO2-inten­siven Produkten eine Ausgleichs­zah­lung erheben. Die Höhe dieser Ausgleichs­zah­lung entspricht den Kosten, die über das EHS fällig geworden wären, wenn die Produk­tion inner­halb der EU statt­ge­funden hätte. Der CO2-Grenz­aus­gleich ist also eine Art Klimazoll.

Auch wenn sie ziem­lich revo­lu­tionär klingt – neu ist die Idee eines Grenz­aus­gleichs nicht. Die sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Partei der Schweiz lancierte bereits 1995 unter dem Namen Energie-Umwelt-Initia­tive eine Volks­in­itia­tive, die eine ähnlich konstru­ierte Abgabe auf Energie einführen wollte. Die SP zog die Initia­tive damals zugun­sten eines direkten Gegen­vor­schlags zurück. Dieser schei­terte an der Urne.

Grund­sätz­lich würde ein solcher CO2-Grenz­aus­gleich denselben Effekt erzielen wie die Gratis­zer­ti­fi­kate. Auch er würde zwischen der inner- und ausser­eu­ro­päi­schen Indu­strie für gleich lange Spiesse sorgen – einfach unter anderem Vorzei­chen. Während die Gratis­zer­ti­fi­kate die Produk­ti­ons­ko­sten der heimi­schen Indu­strie redu­zieren, würde ein CO2-Grenz­aus­gleich die impor­tierten Produkte verteuern.

Die Folge: Die EU und auch die Schweiz könnten den Indu­strie­kon­zernen endlich die von ihnen verur­sachten CO2-Emis­sionen in Rech­nung stellen, ohne befürchten zu müssen, dass die Treib­haus­gase zusammen mit der Wert­schöp­fung und den Arbeits­plätzen ins Ausland abwandern.

Die Expert*innen sind sich einig

Für den Wirt­schafts­wis­sen­schaftler Michael Pahle ist der CO2-Grenz­aus­gleich alter­na­tivlos. Pahle arbeitet am Potsdam-Institut für Klima­fol­gen­for­schung zum Emis­si­ons­han­dels­sy­stem. „Wenn ich Vorträge darüber mache, dann sage ich immer: Keiner will es, aber man kommt nicht dran vorbei. Denn die freien Zutei­lungen müssen zwangs­läufig weg, wenn der Cap immer enger wird.“ So Pahle in einem Zoom-Inter­view mit das Lamm

Eine Frage bleibt jedoch bis heute unge­klärt: Wären diese Klima­zölle über­haupt mit den Richt­li­nien der Welt­han­dels­or­ga­ni­sa­tion (WHO) konform? „Ob der CO2-Grenz­aus­gleich zu inter­na­tio­nalen Handels­kon­flikten führen wird oder nicht, wird sich erst noch zeigen müssen“, so Pahle. Auf jeden Fall bestünde unter den Expert*innen Einig­keit darüber, dass die Einfüh­rung des CO2-Grenz­aus­gleichs eng von der inter­na­tio­nalen Klima­di­plo­matie begleitet werden müsse. „Im besten Fall ist der CO2-Grenz­aus­gleich dann ein Türöffner, um verstärkt auf inter­na­tio­naler Ebene zusam­men­zu­ar­beiten – wenn auch ein eher brachialer“, meint Pahle dazu.

Sonja Peterson, Klima­öko­nomin und Expertin für umwelt­po­li­ti­sche Instru­mente am Kiel Institut für Welt­wirt­schaft, betont die prak­ti­schen Probleme in Bezug auf die Einfüh­rung eines CO2-Grenz­aus­gleichs. „Wie geht man mit Zwischen­pro­dukten um? Für welche Bran­chen soll der CO2-Grenz­aus­gleich einge­führt werden?“, fragt sie via Zoom. Trotz dieser Unsi­cher­heiten sei es aber eine gute Idee, den CO2-Grenz­aus­gleich einem Praxis­test zu unter­werfen und die Gratis­zer­ti­fi­kate als Präven­tion gegen Carbon Leakage auslaufen zu lassen.

Das sieht auch die Ener­gie­öko­nomin Johanna Bocklet so. Der CO2-Grenz­aus­gleich sei die sinn­vol­lere Vari­ante, um für Konzerne inner­halb und ausser­halb von Europa gleiche Wett­be­werbs­be­din­gungen zu erreichen. 

Mit dem CO2-Grenz­aus­gleich sollen neu auch Konzerne für ihre Klima­ver­schmut­zung zur Kasse gebeten werden, die ausser­halb der EU produ­zieren. Und zwar immer dann, wenn sie ihre Produkte in die EU impor­tieren. Um beispiels­weise ein reiches und hoch indu­stria­li­siertes Land wie die USA auf diesem Weg zu mehr Klima­schutz zu bewegen, scheint das ein faires Instru­ment zu sein. Für andere Länder hat der CO2-Grenz­aus­gleich aber einen bitteren Beigeschmack. Denn auch klei­nere und ärmere Länder wie zum Beispiel Mosambik, die unter dem Strich nichts zur heutigen Klima­krise beigetragen haben, müssten diese CO2-Ausgleichs­zah­lungen leisten, wenn sie emis­si­ons­in­ten­sive Produkte in die EU importieren.

„Denn mit dem CO2-Grenz­aus­gleich hätten wir neu auch eine Lenkungs­wir­kung auf das euro­päi­sche Ausland“, sagt Bocklet via Zoom. Die Länder ausser­halb der EU, die auf ihre Emis­sionen bereits einen CO2-Preis erheben, könnten diesen bei Importen in die EU nämlich dem euro­päi­schen CO2-Grenz­aus­gleich anrechnen. Dementspre­chend würde es sich für sie eher lohnen, die Klima­gase bereits im Inland zu besteuern. „Zudem könnten die Staaten das Geld, dass die Unter­nehmen dann neu für die Zerti­fi­kate bezahlen müssten, sinn­voll für die Dekar­bo­ni­sie­rung einsetzen“, ergänzt Bocklet.

Das wird noch lange auf sich warten lassen

Klingt gut. Doch bis der CO2-Grenz­aus­gleich die Gratis­zer­ti­fi­kate voll­ständig ablösen wird, werden noch viele CO2-Tonnen die Atmo­sphäre verschmutzen. Denn: Während die Gratis­zu­tei­lungen ab 2026 langsam runter­ge­fahren werden, wird der CO2-Grenz­aus­gleich langsam hoch­ge­zogen. Erst nach dieser Über­gangs­phase wird die Verschmut­zungs­party zum Null­tarif für die emis­si­ons­in­ten­siv­sten Konzerne womög­lich tatsäch­lich zu einem Ende kommen. 

Das kriti­siert auch die NGO Carbon Market Watch. „Aus Angst vor dem Schreck­ge­spenst der angeb­li­chen zukünf­tigen Deindu­stria­li­sie­rung Europas haben die poli­ti­schen Entschei­dungs­träger ihren fehl­ge­lei­teten Ansatz fort­ge­setzt, die Schwer­indu­strie vom Haken zu lassen“, schreibt die NGO. Auch mit dem refor­mierten EU-Emis­si­ons­han­dels­sy­stem würden umwelt­ver­schmut­zende Indu­strien weiterhin mit Zuschüssen über­häuft, während die Haus­halte und Steuerzahler*innen die Rech­nung bezahlen müssten, so Carbon Market Watch weiter. Unter der Ober­fläche sei das EHS ein zutiefst unge­rechtes und letzt­lich unwirk­sames System.

Das EHS wurde für zwei Sektoren entwickelt: für die Schwer­indu­strie und die Ener­gie­branche. Abge­sehen von den neuen Reser­ve­kraft­werken wird in der Schweiz jedoch prak­tisch kein Strom aus fossilen Ener­gie­trä­gern gewonnen. Deshalb ist in der Schweiz mehr oder weniger nur die Indu­strie im EHS vertreten. Anders ist das zum Beispiel in Deutsch­land, wo nach wie vor viel Strom mit Kohle produ­ziert wird. Diese fossilen Ener­gie­kon­zerne nehmen in Deutsch­land auch am EHS teil. Da der Ener­gie­be­reich jedoch nicht von Carbon Leakage betroffen ist, wurden die extra­gross­zü­gigen Gratis­zu­tei­lungen an diese Branche schon vor Längerem abge­schafft. Dadurch erhielt das Emit­tieren von CO2 in diesem Bereich tatsäch­lich einen Preis, der hoch genug war, um Reduk­ti­ons­mass­nahmen im Ener­gie­sektor anzustossen. 

Das EHS konnte zwar die Emis­sionen im Ener­gie­sektor senken, aber nicht die Indu­strie­emis­sionen. Einer der Haupt­gründe für dieses Schei­tern waren die Milli­arden kosten­loser Verschmut­zungs­rechte, die den emis­si­ons­in­ten­siven Indu­strien im Rahmen des EHS zuge­teilt wurden. Und das wird noch ein Weil­chen so bleiben. Denn der CO2-Grenz­aus­gleich wird erst 2034 voll­ständig in Kraft treten. 

Wie werden die in der EU geplanten Reformen die Schweiz betreffen? Dazu möchte das in der Schweiz zustän­dige Bundesamt für Umwelt (BAFU) zum aktu­ellen Zeit­punkt keine Aussagen machen. Man analy­siere die Lage laufend und plane, dem Bundesrat Mitte 2023 einen passenden Bericht vorzulegen.

Eine andere Schweizer Behörde, die Eidge­nös­si­sche Finanz­kon­trolle (EFK), analy­sierte die Lenkungs­wir­kung des EHS bereits 2017. Sie kam zum Schluss, dass das Schweizer EHS von 2013 bis 2020 für die teil­neh­menden Firmen prak­tisch keine direkten Anreize schaffte, um den CO2-Ausstoss zu reduzieren.

Die Prüfbeamt*innen der EFK führten damals bei den EHS-Firmen auch eine Umfrage durch. Die Frage: Gehen Sie davon aus, dass Sie in Zukunft weniger Gratis­zu­tei­lungen erhalten werden? Die EFK fasste die erhal­tenen Antworten so zusammen: „Betref­fend der Zutei­lung der kosten­losen Emis­si­ons­rechte für die Verpflich­tungs­pe­riode 2021–2030 erwarten die meisten Firmen Konti­nuität.“ Sie werden wohl Recht behalten.

Milli­arden an verpufften CO2-Abgaben, verschenkte Emis­si­ons­rechte: Dem EHS ist es weder mit dem Verur­sa­cher­prinzip noch mit der Gerech­tig­keit so wirk­lich ernst. Gehört dieses Klima­schutz­in­stru­ment deshalb abge­schafft? Im letzten Teil der Serie EHS: Eine Flat­rate auf Monster­emis­sionen geht unsere Autorin dieser Frage nach.

Artikel 6
Wann fällt die Dauer­flat­rate?
Die EU plant Reformen. Diese könnten das EHS raus aus der Geisel­haft der globa­li­sierten Indu­strie und rein in eine tatsäch­liche Dekar­bo­ni­sie­rung führen. Der Wermuts­tropfen: So bald wird sich kaum etwas ändern.

Die Recher­chen für diesen Artikel wurden vom Peter Hans Hofschneider-Recher­che­preis für Wissen­schafts- und Medi­zin­jour­na­lismus der Stif­tung Expe­ri­men­telle Biome­dizin unter­stützt. Der Recher­che­preis wird in Zusam­men­ar­beit mit dem Netz­werk Recherche vergeben.


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