Selbst­sa­bo­tage beim Klima­schutz. Der Grund: Die Wett­be­werbs­fä­hig­keit (2/7)

Damit Klima­ver­schmut­zung für die Verursacher*innen etwas kostet, führte man in der Schweiz 2008 den Zerti­fi­ka­ten­handel ein. Weil das für emis­si­ons­in­ten­sive Firmen ziem­lich teuer werden kann, verschenkt der Staat kosten­lose Zerti­fi­kate. Unsere Recherche zeigt auf, wer die meisten Gratis­zer­ti­fi­kate erhalten hat. 
Illustration: Luca Mondgenast

Sach­buch: CO2-Ausstoß zum Nulltarif

Auf der Grund­lage dieser Arti­kel­serie ist ein Sach­buch entstanden, welches am 18.02.2024 beim Rotpunkt­verlag in Zürich erschienen ist. Das Buch „CO2-Ausstoß zum Null­tarif – Das Schweizer Emis­si­ons­han­dels­sy­stem und wer davon profi­tiert“ ist bei uns im Shop oder in der Buch­fi­liale deines Vertrauens erhältlich.

In Kürze

  • Um als Schweizer Wirt­schafts­standort attraktiv zu bleiben, verschenkt das Bundesamt für Umwelt (BAFU) Zerti­fi­kate an emis­si­ons­in­ten­sive Firmen – so soll die Abwan­de­rungs­ge­fahr dieser Konzerne redu­ziert werden.
  • Diese Vorge­hens­weise scheint das eigent­lich wirk­same Instru­ment zur Reduk­tion des CO2-Ausstosses zu sabotieren. 
  • Je nach Branche ist es unklar, ob es für die betrof­fenen Firmen über­haupt möglich wäre, ins Ausland abzuwandern. 

Wenn Firmen ihre Klima­ko­sten über das Emis­si­ons­han­dels­sy­stem (EHS) abrechnen dürfen, sind sie von der CO2-Abgabe befreit. Dafür müssen sie für jede Tonne CO2, die sie in die Luft pusten, ein Zerti­fikat abgeben. Das Bundesamt für Umwelt (BAFU) treibt diese Emis­si­ons­be­rech­ti­gungen ein. Doch woher bekommen die Firmen die Zerti­fi­kate? Entweder sie kaufen sie ein – oder sie kriegen sie geschenkt – absur­der­weise von derselben Insti­tu­tion, die sie dann auch wieder einzieht: dem Bundesamt für Umwelt. 

Dabei waren die geschenkten Zerti­fi­kate in der Vergan­gen­heit eher die Norm als die Ausnahme: Von den insge­samt 39 Millionen Zerti­fi­katen, die alle EHS-Firmen in der letzten Handel­s­pe­riode von 2013 bis 2020 abgeben mussten, verteilte das BAFU ganze 38 Millionen gratis.

Das heisst jedoch nicht, dass insge­samt nur eine Million Emis­si­ons­zer­ti­fi­kate gekauft wurde. Denn das BAFU verteilte die Zerti­fi­kate nicht gleich­mässig. Es gibt Firmen, die mehr Emis­si­ons­rechte gratis erhalten haben, als sie abgeben mussten. Diese haben nun Zerti­fi­kate auf Vorrat. Andere Firmen mussten jedoch einen erheb­li­chen Teil ihrer Emis­si­ons­rechte käuf­lich erwerben. Die Recher­chen von das Lamm zeigen: Die Bilanz sieht von Firma zu Firma unter­schied­lich aus. 

Denn das Bafu verteilte die Zerti­fi­kate nicht gleich­mässig. Es gibt Firmen, die mehr Emis­si­ons­rechte gratis erhalten haben, als sie abgeben mussten.

Was man aber mit Gewiss­heit sagen kann, ist, dass die Teil­nahme am Emis­si­ons­han­dels­sy­stem für alle Firmen günstiger war, als dies die CO2-Abgabe auf dieselbe Menge ausge­stos­sener Schad­stoffe gewesen wäre. Und der Haupt­grund dafür sind die Gratiszertifikate.

Von den 56 Indu­strie­an­lagen, die von 2013 bis 2020 im Emis­si­ons­han­dels­sy­stem einge­bunden waren, erhielten 23 Anlagen mehr Emis­si­ons­rechte geschenkt, als sie abgeben mussten. Sie been­deten die zweite Handel­s­pe­riode dementspre­chend mit einem Über­schuss an Zerti­fi­katen. Wir haben bei einigen dieser Firmen nach­ge­fragt und wollten wissen, was sie mit den über­schüs­sigen Zerti­fi­katen vorhaben. 

Auf viel Auskunfts­willen stiessen wir mit unserer Frage leider nicht. Vom Beton­riesen Holcim, der die zweite Handel­s­pe­riode mit einem Über­schuss von 1.9 Millionen Zerti­fi­katen been­dete, erhielten wir gar keine Antwort. Auch vom Alumi­ni­um­ver­ar­beiter Constel­lium Valais, der die zweite Handel­s­pe­riode mit einem Über­schuss von 50’000 Zerti­fi­katen abschloss, kam trotz mehr­fa­cher Nach­frage keine Rückmeldung.

Andere Firmen antwor­teten auswei­chend. Die Dottikon Exclu­sive Synthesis liess uns wissen, dass sämt­liche bereits publi­zierte Daten in ihren Geschäfts­be­richten zu finden sind (siehe Infobox). Auch vom Phar­ma­un­ter­nehmen Hoff­mann-La Roche erhielten wir keine wirk­liche Antwort auf die Frage, was es mit den Zerti­fi­katen machen will. Das Phar­ma­un­ter­nehmen schrieb ledig­lich: „Das Ziel von Roche ist, die Umwelt­be­la­stung durch Mass­nahmen effektiv zu redu­zieren und den Ener­gie­be­darf drastisch zu senken“. Die gesetz­li­chen Vorgaben seien sogar über­troffen worden, weshalb weniger Emis­si­ons­rechte als zuge­teilt entwertet werden mussten, so der Phar­ma­riese weiter. Nur: Im EHS gibt es gar keine gesetz­lich fest­ge­schrie­benen Reduk­ti­ons­vor­gaben. Auf was sich das Unter­nehmen also bezieht, bleibt dahingestellt.

Immer wieder erstaunte uns das Desin­ter­esse, mit dem unsere Anfragen zum EHS von den betrof­fenen Firmen nicht oder nicht richtig beant­wortet wurden. Zum Beispiel wollten wir von der Phar­ma­pro­du­zentin Dottikon Exclu­sive Synthesis wissen, was man mit den über­schüs­sigen Zerti­fi­katen aus der Handel­s­pe­riode von 2013 bis 2020 zu machen gedenke. Wird man sie zur Seite legen? Will man sie verkaufen? Wir warteten. Dann die Antwort: „Vielen Dank für Ihre Anfrage. Sämt­liche bereits publi­zierten Infor­ma­tionen finden Sie in unseren Geschäfts­be­richten, darüber hinaus können wir Ihnen leider keine weitere Auskunft geben.“ Nachdem wir in den genannten Geschäfts­be­richten immer noch keine Antwort auf unsere Frage gefunden hatten, wandten wir uns erneut an die Phar­ma­pro­du­zentin – erneut mit wenig Erfolg. „Die DOTTIKON EXCLU­SIVE SYNTHESIS AG hat zu diesem Thema keine weiter­füh­renden Infor­ma­tionen publi­ziert. Grund­sätz­lich finden Sie sämt­liche bereits publi­zierten Infor­ma­tionen in unseren Geschäfts­be­richten, darüber hinaus resp. zu weiteren Themen können wir Ihnen leider keine weitere Auskunft geben“, bekamen wir als Antwort. Trans­pa­renz geht anders.

Einige Antworten fielen dagegen deut­li­cher aus. Zum Beispiel die des Schlacht­ab­fall­ver­wer­ters GZM Extrak­ti­ons­werk: „Im Zeit­raum wo wir im EHS waren, haben wir unsere zuge­teilten Zerti­fi­kate nicht voll­ends ausge­schöpft und ja, es ist korrekt, dass wir aus dieser Zeit noch über­schüs­sige Zerti­fi­kate vorliegen haben. Die unge­nutzten Zerti­fi­kate wurden nicht verkauft.“

Auch von der Kalk­fa­brik Netstal erreichte uns die Antwort, dass über­schüs­sige Zerti­fi­kate nicht verkauft, sondern zurück­ge­legt worden seien – für den Fall, dass die Fabrik eine Zeit lang mehr produ­ziere als vorge­sehen. Die Verpackungs­her­stel­lerin Model AG will die über­schüs­sigen Zerti­fi­kate mehr­heit­lich in der jetzt laufenden dritten Handel­s­pe­riode einsetzen.

Dass man über­schüs­sige Zerti­fi­kate verkauft hat, teilte uns ledig­lich eine Firma mit: Die Perlen Papier­fa­brik: „Da Perlen Papier aufgrund von gezielten Nach­hal­tig­keits­mass­nahmen rund 75 Prozent weniger CO2 ausstösst als der Durch­schnitt der euro­päi­schen Papier­in­du­strie, verfügten wir in der Vergan­gen­heit über einen Über­schuss von zuge­teilten CO2-Zerti­fi­katen, welche verkauft werden können. Insge­samt wurden im Geschäfts­jahr 2021 330‘000 CO2-Zerti­fi­kate verkauft“, schreibt Perlen auf Anfrage. Das brachte der Papier­fa­brik 18.1 Millionen Franken ein.

Firmen, die ihre Klima­ko­sten unter dem Emis­si­ons­han­dels­sy­stem abrechnen dürfen, bezahlen keine CO2-Abgabe. Statt­dessen müssen sie für jede ausge­stos­sene Tonne CO2 ein entspre­chendes Zerti­fikat erwerben. Diese Zerti­fi­kate sind nichts anderes als Emis­si­ons­rechte. Dabei gibt es nur eine bestimmte Menge an Zerti­fi­katen und diese Menge, der soge­nannte Cap, wird schritt­weise gesenkt. Diese Verknap­pung soll den Preis der Zerti­fi­kate erhöhen. 

Die Firmen können die Zerti­fi­kate auf zwei Arten beziehen: Entweder sie erwerben sie käuf­lich oder sie bekommen sie geschenkt. Das Bundesamt für Umwelt (BAFU) verteilt jedes Jahr eine grosse Menge an Gratis­zer­ti­fi­katen an die Schweizer EHS-Firmen, um zu verhin­dern, dass sie ihre Emis­sionen ins Ausland verlagern. 

Zeit­lich ist das EHS in mehr­jäh­rigen Handel­s­pe­ri­oden mit mehr oder weniger gleich­blei­benden Regeln orga­ni­siert. Die letzte Handel­s­pe­riode lief von 2013 bis 2020. 

Wichtig: Die Zerti­fi­kate im Emis­si­ons­han­dels­sy­stem sind nicht an Projekte gekop­pelt, die der Atmo­sphäre Klima­gase entziehen, wie man das zum Beispiel von Kompen­sa­tionen für Flug­reisen kennt. Bei diesen frei­wil­ligen Kompen­sa­ti­ons­zah­lungen spricht man zwar oft auch von “Zerti­fi­katen”, diese haben aber nichts mit dem EHS zu tun.

Wer darf beim EHS mitmachen?

Grund­sätz­lich sind im EHS Firmen aus den Bran­chen mit den höch­sten Treib­haus­gas­emis­sionen vertreten. Dabei gibt es solche, die beim EHS mitma­chen „müssen“, weil sie im Anhang 6 der CO2-Verord­nung stehen. Auf dieser Liste sind beispiels­weise die Metall- oder die Zement­in­du­strie. Dieses „müssen“ kann jedoch zu Miss­ver­ständ­nissen führen. Denn die Firmen werden hier zu etwas gezwungen, das ihnen bis jetzt vor allem Vorteile verschafft hat.

Zusätz­lich gibt es Bran­chen, die frei­willig beim EHS mitma­chen können. Diese stehen im Anhang 7 der CO2-Verord­nung. Hier befinden sich zum Beispiel die Chemie‑, die Papier- oder die Holz­in­du­strie. Kurzum: Im EHS versam­meln sich die Gross­kon­zerne aus der Ener­gie­pro­duk­tion und der Schwerindustrie. 

Der über­wie­gende Teil der Schweizer Firmen darf aber nicht am EHS teil­nehmen. Diese zahlen statt­dessen für jede Tonne Klima­gase eine CO2-Abgabe von 120.– Franken.

Im EHS regi­striert werden genau genommen nicht die Firmen selbst, sondern die verschie­denen Indu­strie­an­lagen der Firmen – also ein Zement­werk, ein Stahl­werk oder ein Heiz­werk. Deshalb kann eine Firma auch mit mehreren Stand­orten im EHS vertreten sein. 

Wie wird bestimmt, wer wie viele Gratis­zer­ti­fi­kate erhält?

Die Anzahl Gratis­zer­ti­fi­kate, die eine Firma vom BAFU erhält, ist von zwei Faktoren abhängig. Einer­seits erhalten Firmen, die bereits eine gute CO2-Bilanz haben, mehr Gratis­zer­ti­fi­kate als solche, die schlecht dastehen. Was man dabei aber nicht vergessen darf: Auch Firmen bezie­hungs­weise deren Produk­ti­ons­an­lagen, die in diesem Ranking zu den besten zählen, emit­tieren immer noch Unmengen an Klimagasen.

Ander­seits erhalten Firmen, die für ihre Produkte den soge­nannten Carbon-Leakage-Status bean­spru­chen, mehr Gratis­zer­ti­fi­kate als solche ohne. Von Carbon-Leakage spricht man dann, wenn die Klima­gas­emis­sionen wegen hoher Abgaben, Steuern oder anderen Klima­schutz­mass­nahmen in ein anderes Land verla­gert werden, in dem es billiger ist, CO2 zu emittieren. 

In der Handel­s­pe­riode von 2013 bis 2020 mussten alle Schweizer EHS-Firmen zusammen 39 Millionen Zerti­fi­kate abgeben. Vom BAFU wurden 38 Millionen Zerti­fi­kate gratis verteilt. Viele Schweizer EHS-Firmen haben deshalb eine beträcht­liche Menge EHS-Zerti­fi­kate beisei­te­legen können. Diese Reser­ve­bil­dung schwächt die Wirkung des EHS-Konzepts ab.

Wie kommen die EHS-Firmen zu den rest­li­chen Zertifikaten?

Einer­seits führt das BAFU regel­mässig Verstei­ge­rungen durch. Ande­rer­seits handeln die EHS-Firmen sowie andere am CO2-Markt inter­es­sierte Akteur*innen unter­ein­ander mit den Emis­si­ons­rechten. Dieser Handel läuft über mehrere Ener­gie­börsen – zum Beispiel über die Euro­pean Energy Exch­ange (EEX) mit Sitz in Leipzig.

Verknüpft mit dem euro­päi­schen EHS und trotzdem anders. Wie geht das?

Seit dem 1. Januar 2020 ist das Schweizer EHS mit dem euro­päi­schen EHS verknüpft. Deshalb gelten in beiden Systemen grund­sätz­lich dieselben Regeln. Da diese EHS-Regeln aber in eine natio­nale Klima­ge­setz­ge­bung einge­bettet sind, bedeutet die Teil­nahme am EHS für eine euro­päi­sche Firma trotzdem nicht zu hundert Prozent dasselbe wie für eine Schweizer Firma. Ein Beispiel: Anders als in den meisten EU-Ländern bezahlen die Firmen, die nicht im EHS sind, in der Schweiz auf fossile Brenn­stoffe eine CO2-Lenkungs­ab­gabe. Diese liegt momentan bei 120 Franken pro Tonne CO2.

Diese Lenkungs­ab­gabe wird gröss­ten­teils an die Schweizer Bevöl­ke­rung zurück­ver­teilt. Aber auch EHS-Firmen erhalten bei dieser Rück­ver­tei­lung Geld, obwohl sie gar keine CO2-Abgabe bezahlt haben. Diese zusätz­li­chen Einnahmen aus der natio­nalen CO2-Abgabe erhalten euro­päi­sche EHS-Firmen nicht.

Wenn Firmen wie Perlen Papier ihre Emis­sionen tatsäch­lich stark redu­ziert haben, mag es einer gewissen Logik folgen, dass sie einen finan­zi­ellen Vorteil aus dem EHS ziehen. Aber wenn Firmen ihre Emis­sionen nicht wirk­lich gesenkt haben, ist diese Bevor­tei­lung irritierend. 

Ein Beispiel: Die Kalk­fa­brik Netstal redu­zierte ihre Emis­sionen in der vergan­genen Handel­s­pe­riode ledig­lich um 6 Prozent von 64’000 auf 61’000 Tonnen. Trotzdem hat die Kalk­fa­brik über die ganze Handel­s­pe­riode rund 144’000 Zerti­fi­kate mehr gratis zuge­teilt bekommen, als sie tatsäch­lich bräuchte. Würde die Kalk­fa­brik diese unge­brauchten Zerti­fi­kate zum aktu­ellen Markt­preis (Stand 25. Januar 2023) verkaufen, würden dabei laut Berech­nungen von das Lamm schät­zungs­weise 11.5 Millionen Franken Gewinn herausspringen.

Aber zurück zur EHS-Muster­schü­lerin Perlen: Auch wenn die Papier­fa­brik ihren Brenn­stoff­ver­brauch massiv redu­zieren konnte, muss man zwei Dinge im Hinter­kopf behalten. Erstens: Ein beacht­li­cher Teil der Emis­sionen wurde bei Perlen wohl eher verschoben als redu­ziert (siehe hier). Zwei­tens: Im System der CO2-Abgabe wären ganz andere Klima­ko­sten auf Perlen zuge­kommen. Denn dort hätte die Papier­fa­brik trotz massiver Reduk­tionen die Klima­rech­nung nicht mit einem Plus, sondern mit einem Minus abgeschlossen.

Mit Gratis­zer­ti­fi­kate gegen Carbon Leakage

Kurzum: Verschenkt wurde viel. Dieser Meinung ist auch die Eidge­nös­si­sche Finanz­kon­trolle (EFK). Sie unter­suchte 2017 die Lenkungs­wir­kung des EHS und kommt in ihrem Abschluss­be­richt zu folgendem Schluss: „Selbst wenn ab 2017 keine zusätz­li­chen Emis­si­ons­rechte mehr verstei­gert würden, reicht die bereits verteilte Menge aus, um den Bedarf [...] bis 2020 zu decken.“

Es gibt zwei Wege, wie die EHS-Firmen zu ihren Emis­si­ons­be­rech­ti­gungen kommen: Entweder sie erstei­gern die Zerti­fi­kate oder sie kriegen sie vom Bundesamt für Umwelt (BAFU) geschenkt. Jedes Jahr berechnet das BAFU, welche EHS-Firmen gemäss den geltenden Regeln jeweils wie viele Gratis­zer­ti­fi­kate erhalten sollen. Nur: Zählt man diese Gratis­zer­ti­fi­kate zusammen, gibt es ein Problem, denn die Gesamt­menge an Gratis­zu­tei­lungen war von 2013 bis 2020 jedes Jahr höher als die Mengen an Zerti­fi­katen, die maximal vom Staat an die Firmen heraus­ge­geben werden durften. Damit der Staat nicht alles verschenken muss und doch noch ein paar Zerti­fi­kate für die Verstei­ge­rung übrig blieben, mussten die Gratis­zu­tei­lungen deshalb jedes Jahr mit einem soge­nannten sektor­über­grei­fenden Korrek­tur­faktor nach unten ange­passt werden. Das EHS kommt in der Schweiz offen­sicht­lich an die Grenzen seiner Funktionalität.

Bleibt die Frage, wieso die Firmen trotzdem so reich beschenkt wurden. Die Antwort: Der Schutz der inlän­di­schen Indu­strie. Mit den Gratis­zer­ti­fi­katen will der Bund verhin­dern, dass sich die für die Klima­gas­emis­sionen verant­wort­liche Produk­tion aufgrund hoher CO2-Kosten in ein anderes Land verlagert.

Es gibt zwei Gründe, weshalb das passieren könnte. Erstens: Das Unter­nehmen verla­gert die Produk­tion ins Ausland, um die CO2-Kosten in der Schweiz zu umgehen. Zwei­tens: Weil das in der Schweiz herge­stellte Produkt aufgrund der CO2-Kosten teurer wird, verla­gert sich die Nach­frage in Länder, wo das Produkt ohne oder mit einem tieferen CO2-Preis herge­stellt werden kann. Beide Effekte zusammen bezeichnet man als „Carbon Leakage“.

Um Carbon Leakage zu verhin­dern, erhalten emis­si­ons­in­ten­sive Firmen, die im inter­na­tio­nalen Wett­be­werb stehen, einen noch vorteil­haf­teren Deal, als sie ihn mit der Teil­nahme am EHS bereits schon haben.

Um Carbon Leakage zu verhin­dern, erhalten emis­si­ons­in­ten­sive Firmen, die im inter­na­tio­nalen Wett­be­werb stehen, einen noch vorteil­haf­teren Deal, als sie ihn mit der Teil­nahme am EHS bereits schon haben. Denn die Firmen, die Carbon-Leakage-gefährdet sind, bekommen gegen­über solchen ohne Gefähr­dungs­status ein Viel­fa­ches an Gratis­zer­ti­fi­katen zugeteilt.

Einer­seits will man damit den Abzug von Arbeitgeber*innen und Steuerzahler*innen verhin­dern. Ande­rer­seits soll sicher­ge­stellt werden, dass sich die Kima­gas­emis­sionen nicht in Länder verschieben, in denen even­tuell noch laschere Klima­schutz­re­geln gelten. Doch: Diese Gross­zü­gig­keit im Umgang mit Gratis­zer­ti­fi­katen schmä­lerte die Wirk­sam­keit des EHS erheblich. 

2013 hatten von den 56 EHS-Teil­nehmer nur 12 keinen Carbon Leakage-Status. Von den 51 Schweizer Anlagen, die 2020 noch im EHS waren, hatten laut einer auf das Öffent­lich­keits­ge­setz gestützten Anfrage von das Lamm beim Bundesamt für Umwelt 39 Anlagen ganz oder teil­weise den Carbon-Leakage-Status, also 76 Prozent. 

Obwohl EHS-Firmen auch im euro­päi­schen Handels­sy­stem Gratis­zer­ti­fi­kate erhalten, ist der Anteil von Firmen mit Carbon-Leakage-Status nicht in allen Ländern so hoch wie in der Schweiz. Auf Anfrage teilt uns das deut­sche Umwelt­bun­desamt mit, dass bei unseren nörd­li­chen Nach­barn 2021 ledig­lich 57 Prozent der EHS-Firmen aufgrund von Carbon-Leakage zusätz­liche kosten­lose Zutei­lungen erhalten haben. In Deutsch­land fallen also deut­lich weniger Firmen in die Kate­gorie Carbon-Leakage-gefährdet als in der Schweiz. 

Bei den Schweizer Indu­strie­an­lagen ohne Carbon-Leakage-Status handelt es sich mehr­heit­lich um solche, die der öffent­li­chen Hand gehören. Die Recher­chen von das Lamm zeigen: So gut wie alle privat­wirt­schaft­li­chen Anlagen im Schweizer EHS profi­tieren von einer extra gross­zü­gigen Zutei­lung an Gratiszertifikaten.

Würden die Konzerne tatsäch­lich abwandern?

Einige dieser Unter­nehmen haben wir auf ihren Carbon-Leakage-Status ange­spro­chen. Wir wollten wissen, ob sie ihre Produk­tion tatsäch­lich ins Ausland verschieben könnten, falls sie in der Schweiz mehr für ihre Klima­gas­emis­sionen bezahlen müssten.

Roche lässt uns wissen, dass sie bestrebt sind, in „Ländern mit hohen Stan­dards zu produ­zieren.“ Die Perlen Papier­fa­brik schreibt, dass sie seit 1873 an diesem Standort, also in Perlen, produ­ziert und die Zutei­lung von CO2-Zerti­fi­katen keinen Einfluss auf die stra­te­gi­sche Ausrich­tung hat. „Eine Verla­ge­rung ins Ausland ist kein Thema. Die Papier­pro­duk­tion ist stand­ort­ab­hängig und kann nicht einfach verla­gert werden.“ Auch beim Beton­riesen Holcim winkt man ab: „Zement ist ein lokales Geschäft – unsere Produk­tion ist dort, wo die Rohstoffe sind.“

Einzig vom Chemie­kon­zern Lonza in Visp klingt es ein wenig anders. Im Nach­hal­tig­keits­be­richt 2021 des Unter­neh­mens ist zu lesen, dass die Kohlen­stoff­preise noch kein entschei­dender Faktor sind bei der Entschei­dung, wo die Akti­vi­täten ange­sie­delt werden. Man erwarte aber einen Anstieg der Kosten und berück­sich­tige diesen auch im jähr­li­chen Risikomanagement.

Anstatt unsere Fragen zu beant­worten, verwies uns der Chemie­kon­zern Lonza nach längerer Warte­zeit auf den firmen­ei­genen Nach­hal­tig­keits­be­richt 2021. Die Seite 60 würde alle unsere Fragen beant­worten. Doch anstelle von Antworten fanden wir dort vor allem Green­wa­shing. Obwohl keine andere Anlage so viele Klima­gase ausstösst wie das Lonza-Werk in Visp, schreibt der Konzern in seinem Nach­hal­tig­keits­be­richt „We do not consider our busi­ness to be carbon inten­sive“. (Auf Deutsch: „Wir betrachten unser Geschäft nicht als CO2-intensiv“).

Wie hoch ist das Risiko von Carbon Leakage?

Trotzdem sind sich die Expert*innen einig: Das Risiko von Carbon Leakage gibt es tatsäch­lich. Strit­tiger ist hingegen die Frage, wie viel CO2 tatsäch­lich abwan­dern könnte und wie hoch die Gegen­mass­nahmen sein müssen, um dies zu verhindern.

Sonja Peterson ist Klima­öko­nomin und Expertin für umwelt­po­li­ti­sche Instru­mente am Kiel Institut für Welt­wirt­schaft. Wir errei­chen sie per Zoom-Call. „Ja, es ist wissen­schaft­li­cher Konsens, dass es Carbon Leakage geben kann. Aktu­elle Simu­la­tionen zeigen, dass es ohne Präven­ti­ons­mass­nahmen, wie zum Beispiel der Zutei­lung von Gratis­zer­ti­fi­katen, typi­scher Weise zu einem Abfluss von 10 bis 15 Prozent der Emis­sionen kommt.“ Aber: „Die Höhe des Carbon Leakage ist schwer zu bestimmen, weil das von vielen Faktoren abhängt, die gar nicht alle simu­liert werden können.“

Für empi­ri­sche Studien fehlt hingegen ein Vergleichs­ze­nario. Um tatsäch­lich heraus­zu­finden, ob das EHS ohne Gratis­zu­tei­lungen zur Abwan­de­rung von Konzernen oder Emis­sionen geführt hätte, müsste man die heutige Situa­tion mit einem EHS ohne Gratis­zer­ti­fi­kate verglei­chen können – was unmög­lich ist.

Tatsäch­lich messbar ist Carbon Leakage aus dem Euro­päi­schen EHS nicht. Der Schutz der Wett­be­werbs­fä­hig­keit mithilfe von Gratis­zu­tei­lungen hat also offen­sicht­lich gewirkt. Ob man diesen Effekt auch mit halb so vielen Gratis­zu­tei­lungen erreicht hätte, ist jedoch unklar.

Das sieht auch Johanna Bocklet so: „Mit den Gratis­zu­tei­lungen konnte Carbon Leackage vermut­lich verhin­dert werden“, sagt Bocklet via Zoom. „Unklar ist, ob man teil­weise zu gross­zügig war mit den Gratis­zu­tei­lungen.“ Bocklet ist Ener­gie­öko­nomin und schrieb 2021 ihre Doktor­ar­beit über das EHS. Darin kommt sie zum Schluss, dass die Gratis­zu­tei­lungen mögli­cher­weise weiter redu­ziert werden könnten, ohne das Risiko der Verla­ge­rung von CO2-Emis­sionen zu erhöhen. 

Laut Bocklet bräuchte es vor allem bei der Eisen- und Stahl­pro­duk­tion, der Zement- und Kalk­her­stel­lung sowie der Zell­stoff- und Papier­in­du­strie weitere wissen­schaft­liche Analysen. Abge­sehen von der Eisen- und Stahl­pro­duk­tion sind das alles Sektoren, die in der Schweizer gut vertreten sind.

Beson­deres Augen­merk sollte man bei der Einschät­zung des Carbon-Leakage Risikos gemäss Bocklet darauf legen, wie mobil ein Indu­strie­sektor ist. Sprich: Wie einfach sich die Produkte trans­por­tieren oder die Produk­ti­ons­stand­orte verschieben lassen. Denn für die Vertei­lung des Carbon-Leakage-Status an die verschie­denen Indu­strie­sek­toren sind momentan zwei Faktoren ausschlag­ge­bend. Einer­seits die Handels­in­ten­sität, das heisst, wie stark ein Sektor dem inter­na­tio­nalen Handel ausge­setzt ist. Ande­rer­seits die Emis­si­ons­in­ten­sität, also wie hoch die Emis­sionen sind. 

Dies führt dazu, dass es Sektoren mit einer mässigen bis geringen Handels­in­ten­sität auf die Liste der Carbon-Leakage-gefähr­deten Sektoren schaffen – einfach weil sie sehr viel Treib­haus­gase ausstossen. Und dies, obwohl der Sektor gar nicht so mobil ist und die Gefahr von Carbon-Leakage dementspre­chend gar nicht so gross.

Bocklet macht ein Beispiel: „Zement hat vergleichs­weise hohe Trans­port­ko­sten. Es ist teuer, das Endpro­dukt von weit her an den Verbrauchsort zu trans­por­tieren. Trotzdem bekommen die Zement­kon­zerne Gratis­zu­tei­lungen.“ Der Baustoffriese Holcim hat in der vergan­genen Handel­s­pe­riode 1.9 Millionen Gratis­zer­ti­fi­kate erhalten – mehr als jeder andere Schweizer EHS-Konzern.

Der Grund: Die Produk­tion von Beton und Zement verur­sacht sehr viele Treib­haus­gase. „Aber“, so Bocklet weiter, „wegen der hohen Trans­port­ko­sten könnte man durchaus darüber disku­tieren, ob der Busin­ness-Case der Zement­kon­zerne mit einer Produk­tion ausser­halb der EU über­haupt funk­tio­nieren würde.“ Sprich: Ob sie über­haupt auswan­dern könnten – hohe Klima­ko­sten hin oder her.

Stei­gende Zerti­fi­kats­preise bedeuten nicht zwin­gend Verschärfungen

Die gross­zügig ausge­teilten Gratis­zer­ti­fi­kate haben noch einen ganz anderen Effekt: So ist die Schluss­fol­ge­rung, dass bei zuneh­mendem Zerti­fi­kats­preis das EHS auto­ma­tisch für alle EHS-Firmen verschärft wird, zu ungenau. 

Einer­seits, weil viele Konzerne nur einen Bruch­teil der Emis­si­ons­rechte tatsäch­lich kaufen müssen und ande­rer­seits, weil einige Konzerne unge­nutzte Zerti­fi­kate ansparen konnten und somit von stei­genden Zerti­fi­kats­preisen profi­tieren, anstatt darunter zu leiden. Denn auch der Wert der Zerti­fi­kate in der Reserve steigt.

Die Katze beisst sich also in den eigenen Schwanz: Die Politik konzi­pierte ein System, das für CO2 einen Preis einführen sollte, um emis­si­ons­in­ten­sive Konzerne dazu zu bewegen, das Klima weniger zu bela­sten. Doch weil das Instru­ment tatsäch­lich funk­tio­nieren würde, schenkt die Politik den Firmen mit den höch­sten Emis­sionen Gratis­zer­ti­fi­kate, um die Kosten für eben diese Unter­nehmen tief zu halten.

Dank gross­zü­gigen Zutei­lungen von Gratis­zer­ti­fi­katen kamen Carbon-Leakage-gefähr­dete EHS-Konzerne sowohl in der Schweiz wie auch in der EU in der letzten Handel­s­pe­riode gut weg. Für die Schweizer EHS-Firmen gibt es aber noch einen weiteren Bonus. Denn: In der Schweiz profi­tieren die EHS-Firmen zusätz­lich von der Rück­ver­tei­lung der CO2-Abgabe – die sie selber gar nicht bezahlen. Mehr dazu im näch­sten Artikel.

ArtikeL 2
Selbst­sa­bo­tage beim Klima­schutz. Der Grund: die Wett­be­werbs­fä­hig­keit
Damit Klima­ver­schmut­zung für die Verursacher*innen etwas kostet, führte man in der Schweiz 2008 den Zerti­fi­kats­handel ein. Weil das für emis­si­ons­in­ten­sive Firmen ziem­lich teuer werden kann, verschenkt der Staat kosten­lose Zerti­fi­kate. Unsere Recherche zeigt auf, wer die meisten Gratis­zer­ti­fi­kate erhalten hat.

Artikel 3
Klima­um­ver­tei­lung: Von den KMUs zu den Gross­kon­zernen
Nur ein paar wenige Firmen dürfen ihre CO2-Emis­sionen im Emis­si­ons­han­dels­sy­stem abrechnen. Damit ist es für sie nicht nur günstiger, Emis­sionen zu verur­sa­chen. Sie profi­tieren auch ganz direkt von den CO2-Abgaben der KMU.

Die Recher­chen für diesen Artikel wurden vom Peter Hans Hofschneider-Recher­che­preis für Wissen­schafts- und Medi­zin­jour­na­lismus der Stif­tung Expe­ri­men­telle Biome­dizin unter­stützt. Der Recher­che­preis wird in Zusam­men­ar­beit mit dem Netz­werk Recherche vergeben.


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