Krank wegen Schweizer Feinstaub

Eine Fabrik des Schweizer Unter­neh­mens Sika in Buenos Aires konta­mi­niert die anlie­gende Bevöl­ke­rung mit Quartzfein­staub. Die Menschen leiden unter Atem­be­schwerden und Haut­er­kran­kungen. Nach Jahren des Protests reagieren nun die lokalen Behörden. 
Luftaufnahme des Viertels Las Mercedes und der Fabrik von Sika. (Foto: Facundo Fraga)

Weisser Staub liegt auf den Strassen, Dächern und Fenster­balken der Häuser in Las Mercedes, einem kleinen Viertel in der Vorstadt Virrey del Pino am Rand der Metro­pole Buenos Aires. Jorge Sosa, ein Anwohner, greift zum Boden und nimmt sich eine Hand­voll. Das Pulver bleibt an seinen Händen hängen. Es ist fein wie Mörtel, kurz bevor man ihn mit Wasser mischt, um beispiels­weise Fliesen zu befestigen.

„Dieser Staub macht uns krank“, sagt Sosa. Verant­wort­lich dafür sei die anlie­gende Fabrik des Zuger Chemie­kon­zerns Sika. Seit 2009 prote­stieren Anwohner*innen gegen die Präsenz der Fabrik: Sie sind über­zeugt, das Unter­nehmen sei verant­wort­lich für eine Reihe von Krank­heiten, die über­durch­schnitt­lich viele Menschen in den Stras­sen­zügen rundum die Fabrik betreffen.

Der Anwohner Jorge Sosa filmt regel­mässig die Schorn­steine der Fabrik. (Foto: Greiz Perviu)

Zusammen mit der argen­ti­ni­schen Zeitung El Diario AR hat das Lamm während zwei Jahren zur Frage recher­chiert, ob die Vorwürfe der Anwohner*innen gegen die Zuger Firma berech­tigt sind. Auch die Koali­tion für Konzern­ver­ant­wor­tung und der Tages-Anzeiger beschäf­tigten sich mit den Akti­vi­täten der Fabrik. Die Recher­che­er­geb­nisse erscheinen heute gleichzeitig.

Das Lamm hat unzäh­lige Inter­views geführt, Gerichts­un­ter­lagen gesichtet, Anfragen per Öffent­lich­keits­ge­setz verschickt und medi­zi­ni­sche Unter­su­chungen analy­siert. Das Resultat ist die Geschichte eines Schweizer Konzerns, der lokale Gege­ben­heiten und tiefe Umwelt­stan­dards ausnutzt und so die Anwohner*innen in Panik versetzt. Und davon, wie die Justiz sich erst dann darum scherte, als sich Journalist*innen einschalteten.

Eine Explo­sion in der Fabrik

„Unsere Indu­strie­an­lage in Virrey del Pino […] ist ein welt­weiter Refe­rent für Flexi­bi­lität, Auto­ma­ti­sie­rung und Produk­ti­ons­ka­pa­zi­täten“, heisst es auf der argen­ti­ni­schen Webseite der Zuger Firma Sika. Ein Bild der Anlage, die seit 1972 am glei­chen Ort steht, ergänzt die Beschrei­bung. Im rötli­chen Sonnen­un­ter­gang erkennt man Schorn­steine und dahinter einen voll­kommen rauch­freien Himmel.

Doch die Realität ist weniger male­risch. „Ich spüre sofort, wenn die Fabrik läuft“, erzählt Jorge Sosa. Seine Augen brennen, das Atmen fällt ihm schwer und hin und wieder bekommt er Juck­reiz auf der Haut. Ausserdem hat er Asthma – eine Krank­heit, die laut einer Ärztin vermut­lich mit der Präsenz des Pulvers in der Luft zusammenhängt.

Das Fenster von Sosas Schlaf­zimmer im ersten Stock seines selbst gebauten Hauses liefert einen direkten Blick auf die Fabrik. Regel­mässig wacht Sosa wegen Atem­pro­blemen in der Nacht auf, blickt auf die Fabrik, sieht Rauch­schwaden von den Schorn­steinen empor­steigen und nimmt die nächt­li­chen Erleb­nisse mit seiner Handy­ka­mera auf. Das Lamm hat mehrere dieser Videos gesichtet.

Die kleinen Häuser des Vier­tels Las Mercedes, im Hinter­grund die Fabrik. (Foto: Greiz Perviu)

Die Anwohner*innen liessen den Staub, den Juck­reiz auf der Haut und die Atem­be­schwerden über Jahr­zehnte hinweg über sich ergehen, bis es im Jahr 2009 zu einer Explo­sion auf dem Gelände kam – so erzählen es jeden­falls die Anwohner*innen selbst. Das Unter­nehmen seiner­seits leugnet den Vorfall. Tage­lang soll es weissen Staub geregnet und das Atmen noch mehr erschwert haben. In den Tagen darauf verteilte das Unter­nehmen Putz­mittel, indu­stri­elle Staub­sauger und Geld – im Gegenzug sollten die Anwohner*innen einen Vertrag unter­schreiben, der eine zukünf­tige Klage gegen das Unter­nehmen aufgrund von Erkran­kungen unter­bindet, so die Erzäh­lung. Aufbe­wahrt haben sie den Vertrag nicht.

Mehrere Nachbar*innen fanden die Klausel des Vertrags verdächtig. Sie schlossen sich zusammen und prote­stierten, mal vor dem Fabrik­ge­lände, mal vor dem Rathaus oder der fran­zö­si­schen Botschaft – als das Unter­nehmen noch zum fran­zö­si­schen Zement­her­steller Lafarge gehörte. Doch bewirken konnten die Proteste wenig.

In den Stimmen der weiterhin aktiven Anwoh­nenden ist Frustra­tion zu hören. Seit 2009 machen sie den Staub der Fabrik für eine Reihe von Krank­heiten verant­wort­lich, die im Viertel anzu­treffen sind.

Asth­ma­me­di­ka­mente

Überall im Viertel Las Mercedes liegt der weisse Staub, nach nur wenigen Stunden sammelt er sich auf parkierten Autos an. Im Wohn­zimmer von Susana Ardiles und Jorge Crespo sind die Fenster trotz der Sommer­hitze geschlossen. „Wir müssen regel­mässig das Haus putzen, um den Staub loszu­werden“, meint Ardiles. Das Ehepaar besitzt einen kleinen Laden im Vorder­garten des Hauses.

Auch sie erzählen von stän­digen Beschwerden in den Augen und Atem­wegen. Beson­ders besorgt sind sie über ihre Enkel­kinder, die regel­mässig einen Asth­ma­spray verwenden müssen.

Das Ehepaar Jorge Crespo und Susana Ardiles in ihrem Laden. (Foto: Facundo Fraga)

Der Spray, ein Bron­cho­di­la­tator, wird norma­ler­weise bei Asthmapatient*innen einge­setzt und dient zur Entspan­nung der Bron­chi­en­mus­keln, was wiederum das Atmen erleich­tert. Haus­be­suche lassen darauf schliessen, dass im Viertel Las Mercedes fast jede zweite Person einen Inha­lator benutzt. Pro Monat verbrau­chen die Enkel­kinder von Crespo und Ardiles bis zu drei davon. Doch aufgrund der Infla­tion und dem Wert­ver­fall des argen­ti­ni­schen Pesos ist der Preis dafür enorm ange­stiegen. Zwischen 10 und 15 Franken kostet ein Bron­cho­di­la­tator, etwa ein 14tel des argen­ti­ni­schen Mindestlohns.

Wegziehen ist für Ardiles und Crespo aber unmög­lich. „Wohin?“, fragen sie. Sie haben hier ihr relativ gross­räu­miges Haus – die Alter­na­tive wäre ein Umzug in die engen Armen­viertel der Haupt­stadt, wo neben Platz­mangel auch Drogen- und Gewalt­pro­bleme herrschen.

Träge Umwelt­be­hörden

Das Viertel Las Mercedes liegt am meist­ver­schmutzten Fluss in Argen­ti­nien, dem Riachuelo Matanza. Eigent­lich ist seit 2009 die eigens für den Fluss­lauf gegrün­dete Umwelt­be­hörde Auto­ridad de Cuenca Matanza Riachuelo (ACUMAR) für die Verbes­se­rung der Umwelt­be­din­gungen im Gebiet zuständig. Doch in Bezug auf Las Mercedes und den Konflikt mit der Sika wurde die Behörde erst spät aktiv und ging selbst dann lange Zeit nicht auf die Luft­pro­bleme ein.

2014 führte ACUMAR als Reak­tion auf die Proteste zusammen mit weiteren Gesund­heits­be­hörden eine erste medi­zi­ni­sche Unter­su­chung der Bevöl­ke­rung durch, um die Zusam­men­hänge zwischen der Umge­bung und gesund­heit­li­chen Problemen der Anwohner*innen fest­zu­stellen. Der Abschluss­be­richt liegt das Lamm vor: Obwohl die Behörden schon damals fest­stellten, dass viele Bewohner*innen von Atemwegs‑, Haut- oder Erkran­kungen der Schleim­häute spra­chen, haben sie weder weiter­füh­rende Unter­su­chungen durch­ge­führt, noch die Verschmut­zung in der Luft gemessen.

Im Jahres­be­richt von 2016 kündigte die gleiche Umwelt­be­hörde an, man wolle fürs kommende Jahr daran arbeiten, eine konstante Messung der Luft­qua­lität an den Schorn­steinen der Fabrik durch­zu­führen. Doch geschehen ist dies­be­züg­lich bis heute nichts.

Ein Jahr später, 2017, wurden ein weiteres Mal 518 Anwohner*innen von der lokalen Umwelt­be­hörde medi­zi­nisch unter­sucht. Gemäss dem Abschluss­be­richt, der das Lamm vorliegt, wurden in 110 Fällen Atem­wegs- oder Haut­er­kran­kungen fest­ge­stellt. Doch wieder: Konkrete Mass­nahmen zur Verbes­se­rung der Umwelt­stan­dards blieben gröss­ten­teils aus.

Die Fabrik gehört laut argen­ti­ni­schem Gesetz zur umwelt­schäd­lich­sten Kate­gorie und müsste fernab jegli­cher Wohn­viertel stehen.

Man instal­lierte einzig eine Mess­an­lage in unmit­tel­barer Nähe zur Fabrik, um die Fein­staub­werte zu messen. Die öffent­lich zugäng­li­chen Mess­werte zeigen fast konstant über 30 µg/m3 Fein­staub einer Parti­kel­grösse von kleiner als Zehn Tausend­stel-Milli­meter an. An manchen Tagen steigen die Werte auf knapp 300 µg/m3. Die Höchst­werte stimmen zum Teil zeit­lich mit den Videos von Jorge Sosa und anderen Nachbar*innen überein, die einen beson­ders hohen Ausstoss von Abgasen aus der Fabrik zeigen.

Die Welt­ge­sund­heits­or­ga­ni­sa­tion empfiehlt derweil, dass das Jahres­mittel nicht über 15 µg/m3 liegen soll. Das Problem: Die argen­ti­ni­sche Gesetz­ge­bung kennt nur einen zuläs­sigen Tages­höchst­wert, der deut­lich höher bei 150 µg/m3 liegt. 

So eine hohe und konstante Fein­staub­be­la­stung ist laut dem Bundesamt für Gesund­heit (BAG) gesund­heits­schäd­lich und kann zu Atemwegs‑, Kreis­lauf­sy­stems- und Nerven­er­kran­kungen führen. Die Luft­ver­schmut­zung bewirke schluss­end­lich eine Verkür­zung der Lebens­er­war­tung der ihr ausge­setzten Personen, so das BAG.

Von Sika gekaufte Probleme

Sika strebt seit einigen Jahren einen aggres­siven Expan­si­ons­kurs an. Dafür kaufte es im Jahr 2019 das Unter­nehmen Parex, das nur wenige Jahre zuvor aus der fran­zö­si­schen Lafarge-Gruppe ausge­glie­dert wurde. Lafarge ist allge­mein wegen seiner schlechten Umwelt­stan­dards und dubiosen Geschäfts­prak­tiken bekannt: Im Jahr 2022 verur­teilte ein US-ameri­ka­ni­sches Gericht Lafarge zu einer Geld­busse aufgrund von Geschäften mit dem soge­nannten Isla­mi­schen Staat in den Jahren 2013 und 2014.

Zu Parex gehörte auch der argen­ti­ni­sche Mörtel­her­steller Klaukol und die Fabrik im Viertel Las Mercedes in Buenos Aires.

Die Fabrik gehört laut argen­ti­ni­schem Gesetz zur umwelt­schäd­lich­sten Kate­gorie und müsste fernab jegli­cher Wohn­viertel stehen. Doch als sie Anfang der 70er Jahre gebaut wurde, existierte diese Bestim­mung noch nicht – und das heutige Gesetz gilt nur für Neubauten.

Konfron­tiert mit den Vorwürfen wiegelt das Schweizer Unter­nehmen Sika ab. Im Februar 2022 sagte der Medi­en­spre­cher, in der Fabrik neben Las Mercedes würden in einem reinen Misch­pro­zess ausschliess­lich Baustoffe herge­stellt und diese Tätig­keit setze keinerlei gesund­heits­ge­fähr­dende Stoffe frei: „Die Behörden haben in den letzten Jahren mehrere Audits durch­ge­führt. Bei keinem der Audits wurde ein Mangel fest­ge­stellt. Auch das letzte Audit hat keinerlei Verschmut­zungen oder Staub­par­tikel aufgezeigt.“

Weitere Kontakt­ver­suche per Mail wurden vom Medi­en­spre­cher nicht beant­wortet. In Argen­ti­nien reagiert gegen­über El Diario AR mitt­ler­weile ein Kommu­ni­ka­ti­ons­un­ter­nehmen, das eben­falls alle Vorwürfe bestreitet.

Die Umwelt­be­hörde ACUMAR wider­spricht der Darstel­lung von Sika. Im April 2020 mahnte sie das erste Mal das Unter­nehmen ab. Die Mess­sta­tion gleich neben der Fabrik hatte in den Tagen zuvor weit über die ohnehin schon lasche Norm schrei­tende Fein­staub­werte gemessen. Das Lamm hat die Doku­mente des Straf­ver­fah­rens per argen­ti­ni­schem Öffent­lich­keits­ge­setz sichten können. In ihrer Stel­lung­nahme versuchte die Zuger Firma anhand eigener Mess­daten aufzu­zeigen, dass die Fein­staub­werte der Schorn­steine sehr gering gewesen seien und unmög­lich die Ursache der hohen Mess­werte sein konnten. 

Auch das Umwelt­mi­ni­ste­rium der Provinz von Buenos Aires sprach im März 2023 eine Busse aus, da Sika die Norm­werte für Staub­emis­sionen über­schritten hatte.

Das Kommu­ni­ka­ti­ons­un­ter­nehmen bestreitet im Auftrag von Sika die Recht­mäs­sig­keit der Busse durch das Umwelt­mi­ni­ste­rium. Diese sei ohne ausrei­chende wissen­schaft­liche Basis verhängt worden und deshalb sei in zweiter Instanz die Busse aufge­hoben worden. Der Tenor: Hier wird ein Unter­nehmen für allge­meine Probleme im Viertel verant­wort­lich gemacht.

Ein ausser­ge­richt­liche Einigung

Trägt das Unter­nehmen also keine Schuld an der Luft­ver­schmut­zung? Einen Vorfall lesen Bewohner*innen als Schuldeingeständnis.

Im November 2020 kam die damals 28-jährige Nadia Cara­bajal, Bewoh­nerin von Las Mercedes, in die Notauf­nahme. Ihr ging es sehr schlecht, die Studentin konnte kaum mehr atmen. Die Diagnose: Ihre 23 Jahre zuvor implan­tierte Niere funk­tio­nierte nicht mehr.

Die Familie Cara­bajal-Rodri­guez im Garten ihres Hauses. (Foto: Greiz Perviu)

Cara­bajal lebte damals gleich gegen­über der Fabrik. Sie kam mit einer defekten Niere auf die Welt, die mit drei Jahren ersetzt werden musste. Während Cara­bajal auf eine neue Niere wartete, sollte sie auf ärzt­liche Anord­nung hin möglichst wenig Staub ausge­setzt sein. Ein enormer Aufwand für die Familie, die das Zimmer des Mädchens total isolieren musste. Im Garten oder auf der Strasse mit anderen Kindern spielen war für Cara­bajal in dieser Zeit unmöglich.

Nach der Einlie­fe­rung der 28-Jährigen in die Notauf­nahme begann für sie alles von vorne. Cara­ba­jals Mutter Siria Rodrí­guez beginnt zu schluchzen, als sie ihre Geschichte erzählt. Zusammen mit ihren Anwält*innen, die gratis für sie arbei­teten, verklagten sie Sika, da sie die Fabrik für das erneute Nieren­ver­sagen verant­wort­lich machen.

Ausser­ge­richt­lich einigen sie sich darauf, dass Sika die Miet­ko­sten für ein Haus ausser­halb des Vier­tels und der Staub­wolke bezahlt. Für viele ein Etap­pen­sieg, den sie im Viertel gleich­zeitig auch als erstes Schuld­ein­ge­ständnis von Sika inter­pre­tieren. Das Unter­nehmen behauptet hingegen, man trage die Kosten aus „huma­ni­tären Gründen“.

Die Familie erzählt, dass Sika derzeit nur noch einen Teil der Miete übernimmt.

Nach Cara­ba­jals Umzug in ein Viertel, weit entfernt von der Indu­strie, verbes­sert sich ihr Gesund­heits­zu­stand merkbar. Bei einem Besuch im April 2022 erzählt Cara­bajal, dass sie weiterhin auf eine neue Niere warte, doch dass allein die neue Luft ihr Leben deut­lich verbes­sert habe. Vorher lag sie fast dauernd im Bett, fühlte sich krank und hatte kaum Energie. Im neuen Haus fühle sie sich wohl und sie bewege sich sehr viel mehr, erzählt sie. Cara­bajal konnte sogar ihr Studium wieder aufnehmen, das sie kurz nach ihrem Rück­fall unter­bre­chen musste. „Es ist wie ein neues Leben“, resü­miert sie.

Doch der Kampf ist noch nicht gewonnen. Aufgrund der Infla­tion in Argen­ti­nien, die über 120 Prozent jähr­lich beträgt, werden die Miet­preise ständig erhöht. Jede Miet­preis­er­hö­hung bedeutet aber auch, dass sie mit Sika über die Mietsub­ven­tion streiten müssen. Es ist ein stän­diges ringen um ein Leben in Würde. Die Familie erzählt, dass Sika derzeit nur noch einen Teil der Miete übernimmt.

Der Staub kommt aus der Fabrik

Seit Januar 2022 recher­chiert das Lamm gemeinsam mit El Diario AR zu den Gescheh­nissen im Viertel Las Mercedes. Dabei wurde schon früh die Umwelt­be­hörde ACUMAR kontak­tiert und die Zuger Firma Sika zu den Vorwürfen befragt.

Im Inter­view vertei­digt Daniel Larr­ache, der im Direk­to­rium von ACUMAR sitzt, das bishe­rige Vorgehen der Behörde. Man habe zuerst versucht, anhand verschie­dener Studien die Ursache der Luft­ver­schmut­zung im Viertel zu finden. ACUMAR gehe davon aus, dass ein beträcht­li­cher Teil durch die nahe­lie­gende Auto­bahn entstehe. „Die Fabrik stellt einen weiteren Faktor dar“, meint Larr­ache. Es gäbe weiterhin viele Fabriken im Umkreis des Vier­tels, doch nur eine arbeite mit Quartzfein­staub und Mörtel, den man vor Ort im Viertel antrifft – jene der Schweizer Firma Sika.

„Wir hatten in den letzten Jahren eine konstante Verbes­se­rung der Produk­ti­ons­be­din­gungen“, erklärt Larr­ache das Vorgehen gegen­über Sika. Die Fabrik erfülle, mit Ausnahme klei­nerer Probleme, die allge­meinen Umwelt­stan­dards. Doch ein Bericht, den ACUMAR im Jahr 2022 in Auftrag gegeben hat, zeigt das Gegenteil.

Der Bericht, der das Lamm vorliegt, belegt ein erstes Mal deut­lich, dass ein grosser Teil der Staub­be­la­stung in Las Mercedes aus der Fabrik von Sika stammt. Chemi­sche Analysen ergaben, dass 7 bis 17 Prozent der Staub­emis­sionen, die kleiner als zehn Tausend­stel Milli­meter gross sind, aus der Fabrik stammen. Bei grös­seren Staub­par­ti­keln, die sich nach einiger Zeit in der Luft am Boden absetzen, sind es sogar 60 Prozent.

Im Bericht ange­hängte Bilder zeigen eine Fabrik in einem lausigen Zustand: Dächer voller Staub, der sich mit der Zeit verhärtet hat; Rohre, die nur impro­vi­siert repa­riert wurde; und eine grosse Staub­ent­wick­lung inner­halb der Produktionshalle.

Ausge­führt wurde die Studie vom Chemiker und Professor für Umwelt­wis­sen­schaften an der Univer­sität von La Plata, Andrés Porta. Im Gespräch mit das Lamm erzählt der Wissen­schaftler, dass die Fabrik teil­weise seine Arbeit boykot­tiert habe. Bei ange­kün­digten Besu­chen seien mehr­mals die Maschinen ausge­stellt worden, was eine Moment­auf­nahme verunmöglichte.

„Es ist furchtbar, dass Unter­nehmen aus Europa oder den USA sich hier instal­lieren und nicht einmal die argen­ti­ni­schen Mindest­stan­dards einhalten, obwohl in ihren Herkunfts­län­dern deut­lich mehr verlangt wird.“

Andrés Porta, Professor für Umwelt­wis­sen­schaften, Univer­sität von La Plata

Sein Bericht fordert vor allem eine Erhö­hung der Schorn­steine, sowie die Verbes­se­rung mehrerer Produk­ti­ons­pro­zesse, bei denen unnötig viel Staub­ent­wick­lung statt­findet. Gerne würde er mehr verlangen, doch das Problem sei, dass die argen­ti­ni­schen Normen weit unter dem liegen, was die WHO verlangt.

Zudem seien die Kontroll­be­hörden über­la­stet und stän­digem poli­ti­schen Druck ausge­setzt. „Studien wie diese sollten eigent­lich durch die Umwelt­be­hörden selbst ausge­führt werden, doch häufig fehlt das Personal dazu. Deswegen helfen wir als öffent­liche Univer­sität gerne aus“, erklärt Porta. Er findet, dass zu häufig poli­ti­scher Druck von oben käme, um Mängel in Fabriken zu ignorieren.

Allge­mein kriti­siert Porta die Rolle von Firmen wie Sika in Argen­ti­nien: „Es ist furchtbar, dass Unter­nehmen aus Europa oder den USA sich hier instal­lieren und nicht einmal die argen­ti­ni­schen Mindest­stan­dards einhalten, obwohl in ihren Herkunfts­län­dern deut­lich mehr verlangt wird.“

Nach dem Erscheinen von Portas Bericht verhängte die Umwelt­be­hörde ACUMAR eine kurz­fri­stige Suspen­sion der Produk­tion und verlangte Mass­nahmen, um die Staub­emis­sionen zu mindern. Sika wider­sprach, gab selbst eine Studie in Auftrag und erreichte die Aufhe­bung der Suspen­sion. Man führe nun “frei­willig” gewisse Verbes­se­rungen durch, heisst es auf Anfrage.

Las Mercedes, ein gesund­heits­ge­fähr­dender Ort

Das Lamm, El Diario AR und die Koali­tion für Konzern­ver­ant­wor­tung kontak­tierten für diese Recherche auch die argen­ti­ni­sche Expertin für Lungen­krank­heiten Vanina Martín.

Martin arbeitet am Institut Vaca­rezza, ange­glie­dert an die Univer­sität von Buenos Aires. Sie willigte ein, mehrere Anwohner*innen medi­zi­nisch zu unter­su­chen. Dafür fertigte sie Röntgen- und Tomo­gra­fi­sche Aufnahmen der Lungen an und unter­suchte die Lungen­ka­pa­zität der Anwohner*innen.

Die Ärztin Vanina Martín führte medi­zi­ni­sche Unter­su­chungen bei den Anwohner*innen durch. (Foto: Facundo Fraga)

Kurz nachdem die Umwelt­be­hörde ACUMAR von den Unter­su­chungen im Auftrag von das Lamm, El Diario AR und der Koali­tion für Konzern­ver­ant­wor­tung erfuhr, beauf­tragte sie Martin mit weiteren Unter­su­chungen. Insge­samt wurden 48 Personen an die Ärztin weiter­ge­leitet. Bei allen Personen, die von Martín unter­sucht wurden, konnte sie Symptome in den Lungen und weitere Beschwerden fest­stellen, die aufgrund des Staubes in der Luft entstehen.

Die Probleme, die Martín fest­stellte, reichten von Asthma über Lungen- bis zu Augen­be­schwerden. Im Gespräch mit das Lamm zeigt sich Martin einer­seits erleich­tert, dass bei von ihr unter­suchten Fällen keine Krebs­er­kran­kungen fest­ge­stellt werden konnten. Doch sie möchte die Symptome nicht klein­reden. „Unter stän­digen Haut‑, Augen- oder Lungen­be­schwerden zu leiden verschlech­tert die Lebens­qua­lität der Menschen enorm“.

Martin fügt an: „Die Luft­be­din­gungen im Viertel müssen sich unbe­dingt ändern. Ich würde allen Menschen dazu raten, die Expo­si­tion gegen­über dem Staub möglichst gering zu halten.“

Auf Basis von Martíns Bericht verfügte ein natio­nales Gericht im Oktober 2023 die Suspen­die­rung der staub­emit­tie­renden Akti­vi­täten der Fabrik, bis diese einen Plan vorlege, um die Staub­emis­sionen zu reduzieren.

Bei einem Besuch vor Ort Ende Oktober zeigen sich die Bewohner*innen erfreut. Ihre Lebens­qua­lität habe sich deut­lich verbes­sert, versi­chert die Anwoh­nerin Susana Ardiles. Die Fenster ihres Hauses sind wieder offen, eine seichte Brise weht. Die Menschen sind über­zeugt, dass die Fabrik die Produk­tion nicht wieder aufnehmen wird.

Doch bereits im November legte die Sika Rekurs gegen den Beschluss des Gerichtes ein und erreichte eine tempo­räre Aufhe­bung der Suspen­die­rung. Laut Sika aufgrund „fehlender recht­li­cher Grund­lage“ – laut Gericht, „um während 90 Tage die Konta­mi­na­tion bei laufender Produk­tion zu messen“. Das Ping-Pong nicht endgültig grei­fender Mass­nahmen, Ankün­di­gungen und Rekursen von Seiten der Fabrik läuft weiter.


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