„Analsex, Bumse, Chlamydie, Dickpic… Was wämmer bim E schriibe?“, flüstert eine Schülerin ihrem Kollegen zu. Fünf Köpfe sind über das Blatt gebeugt, auf dem das ABC aufgelistet ist. Sie sollen das Blatt mit Wörtern zu Sex, Beziehung, Liebe und Freundschaft füllen.
Das ABC-Spiel ist laut Sexualpädagog*innen eine beliebte Methode, um den Aufklärungsunterricht zu beginnen. Die Stimmung soll etwas aufgelockert und die Hemmschwelle gesenkt werden – es geht schliesslich nicht um Mathe oder Geografie. Anschliessend erklären die Sexualpädagog*innen alle Begriffe, die zusammengekommen sind. Einer dieser Begriffe müsste eigentlich „Konsens“ sein. Doch er wird auf keinem der Blätter zu finden sein.
Sexuelle Rechte, sexualisierte Gewalt und Konsens, das Ja zum Sex, sind aktuelle Themen – endlich auch in der Schweiz. Begonnen hat die öffentliche Debatte im Mai 2019, als Amnesty International eine repräsentative Umfrage zu sexualisierter Gewalt in der Schweiz publizierte. Zwei Monate später lancierte Amnesty die Petition „Erst Ja, dann ahh“, die mittlerweile auch von Opferhilfestellen der deutschsprachigen Schweiz unterstützt wird. Gefordert wird eine grundlegende Revision des Sexualstrafrechts, wie sie Schweden schon hinter sich hat. Das nordische Land gilt auch bei uns für so manche*n als Paradebeispiel in dieser Hinsicht.
Schweden will eine Konsenskultur schaffen
Schweden hat sich vor etwas über einem Jahr, am 1. Juli 2018, das Konsensprinzip ins Gesetz geschrieben. Damit künftig der Tatbestand der Vergewaltigung erfüllt ist, muss das Opfer nicht explizit Nein gesagt haben; die Abwesenheit einer deutlichen Zustimmung reicht. Der Verein Fatta (übersetzt heisst das so viel wie „Versteh’s!“) hat fünf Jahre lang für dieses Gesetz gekämpft – aber der Kampf ist noch nicht zu Ende.
Auch der Aufklärungsunterricht soll überarbeitet werden: „Fatta möchte eine Konsenskultur schaffen, d.h. eine Gesellschaft frei von sexualisierter Gewalt, wo Konsens die Norm ist“, erklärt Olivia Björklund Dahlgren, Vorsitzende des Vereins. Dafür müsse in der Schule der Grundstein gelegt werden. Dadurch, dass Junge lernen würden, Grenzen anderer zu respektieren, Signale zu lesen und Konsens als selbstverständlich anzusehen, könne sexuellen Übergriffen vorgebeugt werden.
„Bis jetzt hat der Aufklärungsunterricht vor allem auf der biologischen Ebene aufgebaut; bspw. thematisiert, wie man sich vor Geschlechtskrankheiten schützen sollte“, kritisiert Björklund Dahlgren weiter. Zudem habe eine schwedische Schulinspektion aus dem Jahr 2018 gezeigt, dass zwischen den verschiedenen Schulen in Bezug auf Aufklärungsunterricht extreme Unterschiede bestünden. Fatta möchte das Thema Konsens im Lehrplan integrieren, um in den Schulen zu vermitteln, was vom Gesetz untermauert ist.
Während Fatta in Schweden den gesellschaftlichen Wandel vorantreibt, steht die Schweiz noch ganz am Anfang. Wurde das schwedische Modell letztes Jahr noch grösstenteils kritisiert, wird nun auch in der Schweiz von verschiedenen Seiten eine Revision des Strafgesetzes gefordert. Doch wie steht es um das zweite Puzzlestück: die Aufklärung an den Schulen?
Natur, Mensch, Gesellschaft statt Sexualpädagogik
Aufklärungsunterricht, Sexualpädagogik, Sexualkunde: alles Wörter, die dasselbe wichtige Fach bezeichnen, aber in der Suchfunktion des Lehrplan 21 null Treffer ergeben. Der Lehrplan 21 ist ein Jahrhundertprojekt der ehemaligen Deutschschweizer Erziehungsdirektoren-Konferenz (D‑EDK), in dem ein gemeinsamer Lehrplan für die Volksschulen von 21 Kantonen erarbeitet wurde.
Wer in der Zürcher Version nach Informationen zum Aufklärungsunterricht sucht, sucht vergebens. Nicht einmal die Begriffe „Sex“ oder „Konsens“ bringen Treffer. Der Aufklärungsunterricht wird im Lehrplan 21 nämlich nicht unter einem Fachbereich zusammengefasst, sondern ist in „Natur, Mensch, Gesellschaft“ hier und da verstreut worden.
Behandelt wird der Aufklärungsunterricht in den meisten Schulen trotzdem eher kompakt: nämlich indem externe Sexualpädagog*innen für einen Vormittag mit den Schüler*innen gebucht werden. Eine von drei kantonalen Stellen in Zürich, die Aufklärungsunterricht im Auftrag der Bildungsdirektion anbietet, ist SpiZ (Sexualpädagogik in Zürich).
Ungleichgewicht beim Aufklärungsunterricht
Katja Hochstrasser, Sexualpädagogin und Teamleiterin von SpiZ, erklärt, wie unterschiedlich die Zusammenarbeit mit den Schulen ist: „Gewisse Lehrpersonen sind Biologielehrer*innen, die uns als Ergänzung buchen, da sie selbst schon sehr viel behandelt haben. Andere Lehrer*innen sagen: ‚Ja, das steht jetzt im Lehrplan, aber ich traue mich nicht, und ich will, dass das jemand Externes macht’.“
Im Vorfeld werde jeweils mit den Lehrpersonen der Schwerpunkt des Aufklärungsunterrichts definiert, sagt Hochstrasser. Dass dadurch ein Ungleichgewicht zwischen verschiedenen Klassen entstehen könnte, sei kaum vermeidbar.
Hochstrasser versichert aber: „Es gibt ein paar Sachen, die man sagen muss. Da gehören zum Beispiel die gesetzlichen Sachen wie das Schutzalter dazu.“ Auch dass die Jugendlichen lernen, was ein Kondom ist und wie man es anwendet, werde sichergestellt. Grundsätzlich baue der ganze Aufklärungsunterricht auf den sexuellen Rechten auf.
Die sexuellen Rechte gehören zu den Menschenrechten und sind von der International Planned Parenthood Federation (IPPF) festgehalten. Aber: Als der UNO-Menschenrechtsrat die Schweiz im Jahr 2017 überprüfte, sah dieser insbesondere im Bereich sexuelle Gesundheit und Rechte Verbesserungspotenzial. Für den Aufklärungsunterricht hierzulande sind die sexuellen Rechte also eher eine löchrige als eine solide Basis.
Konsens nicht immer ein Thema
Im Aufklärungsunterricht muss Konsens nicht wörtlich erwähnt werden. Laut Hochstrasser bestehe aber die Möglichkeit, Konsens zu behandeln; meistens beim Thema „das erste Mal“. Eine*r der beiden Sexualpädagog*innen erkläre dann an der Wandtafel mit Strichmännchen und Häkchen, dass es nicht mehr weiter gehe, sobald eine von zwei Personen nicht mehr wolle.
Hochstrasser sagt zudem, dass sie mit den Mädchen ein Ampelschema durchgehe, wo sie lernen sollen, auf den Körper zu hören. Sie rede immer vom Kopf, dem Herzen und dem Bauch. „Wenn alle drei Lämpchen grün leuchten, wissen sie: Alles ist gut. Wenn aber eines davon rot blinkt, sollen sie nochmal überlegen, ob sie wirklich bereit sind oder nicht.“ Hochstrasser schätzt, dass sie das Thema Konsens bei rund 80 Prozent der Klassen aufnehmen können – bei den Jungs aber generell seltener als bei den Mädchen.
Und genau da liegt das Problem: Konsens muss von beiden Parteien geäussert, verstanden und respektiert werden – sonst funktioniert er nicht. Doch hier wird die Verantwortung, das Zwischenmenschliche zu verstehen und zu kommunizieren, wie so oft, den Mädchen auferlegt. Es sei an der Frau, Nein zu sagen – nicht am Mann, auf ein Ja zu warten. Und es sei okay, weiterzumachen, solange sie nicht Nein gesagt hat.
Der springende Punkt: Genau diese Auslegeordnung widerspiegelt das geltende Sexualstrafrecht. Wenn die Person nicht Nein gesagt hat und keiner Gewalt ausgesetzt wurde, kann juristisch nicht von einer Vergewaltigung gesprochen werden.
Trotzdem denkt Hochstrasser nicht, dass ein Gesetz wie in Schweden es für sie einfacher machen würde, den Schüler*innen Konsens beizubringen: „Bei einem Gesetz liegt immer ein Richtig und Falsch dahinter. Und das finde ich etwas ganz Schwieriges, wenn es um Sexualität und Liebe und Freundschaft geht.“
Hier liegt Problem Nummer zwei: Sogar Sexualpädagog*innen wehren sich gegen ein Gesetz, das überfällig zu sein scheint und eigentlich in ihrem Interesse sein sollte. Ein Umdenken auf höchster Stufe ist unumgänglich, wenn Konsens je in der Schweizer Gesellschaft ankommen können soll.
Auch Studis klären auf
SpiZ zeichnet in Bezug zu Konsens ein nahezu konservatives Bild. Doch wie handhaben das unausgebildete Studierende, deren eigener Aufklärungsunterricht noch gar nicht so lange her ist?
Der Studiverein Achtung Liebe bietet ebenfalls Aufklärungsunterricht an. Der grösste Unterschied zu den kantonalen Stellen: Alle Mitglieder sind Studierende, die ehrenamtlich arbeiten – Geld von Stadt oder Kanton gibt es keines.
Laut André Alder, Vorstandsmitglied der Sektion Zürich, sehen sie den grössten Vorteil darin, dass sie jünger sind als ausgebildete Sexualpädagog*innen und dadurch den Schüler*innen näher. Achtung Liebe behandle jeweils die klassische Sexualaufklärung: Anatomie, sexuell übertragbare Infektionen und Verhütungsmittel.
Daneben lege der Verein ein besonderes Augenmerk auf zwischenmenschliche Aspekte der Sexualität. In der Sekundarschule gehe es dabei beispielsweise um das Flirten oder teils leicht übergriffige Verhaltensmuster, so Alder: „Wir haben auch immer wieder Fälle, wo uns die Lehrperson erzählt, dass die Jungs den Mädchen zum Beispiel auf den Po hauen. Darüber reden wir dann – was kann man, was darf man, was nicht?“ Sie hätten in dem Sinne keinen Themenblock zu Konsens, aber es werde immer wieder aufgenommen, beispielsweise auch beim Thema Sexting. „Immer wenn wir in komplizierte Gefilde geraten, lautet die einfachste Antwort jeweils: Konsens!“
Achtung Liebe plädiert zudem für mehr Zeit: „Wir sagen den Schulen immer wieder, dass zwei Besuche während der Sekundarzeit bei der Sexualaufklärung eigentlich das Minimum wären.“ Es komme aber letztendlich darauf an, wieviel Geld eine Schule zur Verfügung gestellt bekommen hat und was ein*e Rektor*in von dem Angebot hält.
Die Willkür entscheidet
Diese Subjektivität kann nicht die Lösung sein – doch sie ergibt sich direkt aus dem Lehrplan 21. Volksschulen sind gemäss diesem dazu verpflichtet, Sexualaufklärung mit ihren Schüler*innen zu behandeln. In welchem Ausmass das geschieht, ist jedoch relativ offen.
Marion Völger, Leiterin des Volksschulamtes der Bildungsdirektion Kanton Zürich, bestätigt dies: „Die Schulen entscheiden in eigener Kompetenz, welche Fachstellen sie zu bestimmten Themenbereichen einladen.“ Und wenn sich eine Gemeinde dazu entscheidet, externe Sexualpädagog*innen anzustellen, „trägt sie die Kosten zu 100 Prozent“.
Gemeinden sind unterschiedlich wohlhabend. Wie viel Geld sie in Bildung investieren, variiert stark. Es kann demnach Schulen geben, die keine externen Sexualpädagog*innen einladen – weil eben das Geld dafür nicht reicht.
Es ist schön und gut, dass es sexualpädagogische Stellen gibt, die den Bildungsauftrag wahrnehmen und von der Bildungsdirektion unterstützt werden. Doch was bringt das, wenn sich das nicht jede Schule leisten kann? Oder wenn nicht jede*r Rektor*in Aufklärungsunterricht als Priorität sieht?
Dass Schulen selbst auswählen können, ob und welche externe Stelle sie wie oft für den Aufklärungsunterricht buchen, ist kein Zeichen der Freiheit, sondern ein Zeichen fehlender Strukturen – und letztendlich auch symptomatisch für die gesellschaftliche Abwertung der Thematik.
Aufklärungsunterricht sollte nicht auf Willkür beruhen, sondern einen eigenen, festen Platz im Unterricht bekommen, mit vorgegebenen Themen und zu erfüllenden Lernzielen. Doch es ist offensichtlich, dass Aufklärungsunterricht nicht ansatzweise den gleichen Stellenwert geniesst wie zum Beispiel Geometrie oder Geschichte. Schliesslich werden Kinder mit dem Erlernen von Grenzen und Einvernehmlichkeit nicht auf den Arbeitsmarkt vorbereitet – sondern bloss auf das zwischenmenschliche Funktionieren in einer Gesellschaft.
In der Schweiz den gesellschaftlichen Wandel über den Weg einer Gesetzesänderung voranzutreiben, scheint naheliegend. Denn das Schweizer System bestätigt, was die schwedische Organisation Fatta schon lange weiss: Das Konsensprinzip muss im Gesetz stehen und seine normierende Wirkung entfalten, bevor es in der Gesellschaft den Platz bekommt, der ihm zustehen würde.
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